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Die verstreuten
Körper der Menge. Zum Problem der Gemeinschaft in der politischen
Philosophie
von
Leander Scholz
Im Unterschied zu den Denkern der klassischen
politischen Ökonomie benutzt Marx den Begriff der ursprünglichen
Akkumulation in polemischer Absicht. Was der immanenten Zeit des
Kapitals gegenüber als vorzeitig erscheint, als ihr Ausgangspunkt
und ihr Ursprung, ist für Marx keineswegs ursprünglich, sondern
eine Geschichte der Eroberung, des Raubmords, der Unterjochung und
der Enteignung. Denn diese bringt erst mit allen erdenklichen Mitteln
der Gewalt den Antagonismus hervor, der für die Ökonomie des Kapitals
die entscheidende historische Voraussetzung darstellt, nämlich den
Unterschied zwischen denjenigen, die ihr eigenes Kapital sind, die
also kein anderes Kapital besitzen als ihre eigene Arbeitskraft,
und denjenigen, die ihr Kapital für sich und damit an ihrer Stelle
andere arbeiten lassen können. Dieser Antagonismus, den Marx als
Klassenkampf bestimmt und analysiert hat, ist keine Folge unterschiedlicher
individueller Anstrengungen, eigenen Reichtum mehr oder weniger
erfolgreich anzuhäufen, sondern resultiert aus der historischen
Transformation der feudalen Herrschaftsverhältnisse der vorkapitalistischen
Zeit des Kapitals. Marx rekonstruiert also die Vorgeschichte des
Kapitals nicht als eine äußere und letztlich kontingente Voraussetzung
der immanenten Zeit des Kapitals, als einen bloßen Ausgangspunkt,
sondern als ein historisches Außen, dessen Vorzeitigkeit auch die
Zeit des Kapitals noch bestimmt. Der Begrifflichkeit des Ausgangspunkts
und des Ursprungs steht daher bei Marx eine Begrifflichkeit der
Auflösung und der Expropriation entgegen. Damit die großen industriellen
Versammlungen von Dingen, Menschen und Zeichen in den neuen Stätten
der kapitalistischen Produktion stattfinden können, müssen diese
erst aus ihren lokalen Herrschaftsverhältnissen herausgelöst werden.
Die Pachtbauern müssen vom Ackerboden, von der Scholle vertrieben
werden, der Gemeindebesitz muß enteignet werden. Wer selbständig
von der Landwirtschaft lebt, muß gezwungen werden, sich auf den
Weg in die Stadt zu machen. Aus dem Leibeigenen muß ein freier Arbeiter
werden, dem nichts anderes übrig bleibt, als seine Arbeitskraft
freiwillig auf dem Arbeitsmarkt anzubieten. Diese Freisetzung, deren
Gewaltsamkeit Marx eindrücklich am Beispiel Englands als Trennung
der Produzenten von den Produktionsmitteln beschrieben hat, besteht
jedoch nicht nur in einer Dissoziation der alten Feudalgesellschaft
zugunsten einer neuen Assoziation in der Industriegesellschaft,
sondern richtet sich gegen jede Form von Gemeinschaft, die sich
um einen gegebenen Ursprung anordnet. Die Dynamisierung von Dingen,
Menschen und Zeichen ist keine Dynamisierung zugunsten einer neuen
Gemeinschaft. So wie die Vermehrung der Güter, die Intensivierung
der Produktion und die Erhöhung der Profitrate niemals an eine unüberwindbare
Schwelle gelangen dürfen, ist es auch unmöglich, daß die Ströme
der Freigesetzten jemals aufhören zu fließen: "Der kapitalistischen
Produktion genügt keineswegs das Quantum disponibler Arbeitskraft,
welches der natürliche Zuwachs der Bevölkerung liefert. Sie bedarf
zu ihrem freien Spiel einer von dieser Naturschranke unabhängigen
industriellen Reservearmee." (Marx 1962: 664) Es muß immer etwas
in Reserve gehalten werden, es muß frei verfügbare, stets variabel
einsetzbare und ebenso wieder freisetzbare Arbeitskräfte geben.
Denn die Dynamik des freien Spiels muß zu jeder Zeit wirksam sein
können. Die Versammlung von Menschen, Zeichen und Dingen darf sich
nicht um einen dauerhaften Ursprung anordnen und einen ewigen Ort
der Herkunft behaupten. Die einzige Beziehung, welche die ursprüngliche
Akkumulation zur Ordnung des Ursprungs unterhält, ist eine Beziehung
der radikalen Entwurzelung und Vertreibung. Die Zeit des Kapitals
beginnt also keineswegs mit einer ursprünglichen Akkumulation, sondern
im Gegenteil mit einer gewaltsamen Kolonialisierung des Ursprungs.
An die Stelle des Hauses und der Heimat, an die Stelle der langen
genealogischen Linien ist ein geheimnisvolles imaginäres Zentrum
getreten, das alle menschlichen Beziehungen unter die stets zukünftige
Macht des Kapitals subsumiert und das Marx wieder der Gemeinschaft
zuführen will. Denn auch wenn Marx die Hegelsche Urentzweiung von
Geist und Natur als den konkreten Prozeß der gesellschaftlichen
Arbeitsteilung gedacht und ausführlich beschrieben hat, so konnte
er sich dennoch nichts anderes vorstellen, um den konstitutiven
Antagonismus des Kapitals und die Dissoziation der Gemeinschaft
aufzuheben, als die Hegelsche Wiederaneignung und die Wiederherstellung
jenes verlorenen Ursprungs auf einer höheren Stufe der Gesellschaft.
Die Verheißungen des Kommunismus bleiben daher stets an die geschichtliche
Notwendigkeit einer Wiederkehr des Urkommunismus und der Urgemeinschaft
gebunden, die am Anfang der Geschichte und ebenso an ihrem Ende
stehen.
Die Kritik der politischen Ökonomie, die Marx vor allem anhand der
Konzeption des liberalistischen Staates von Adam Smith ausgearbeitet
hat, bezieht sich auf einen Staat, dessen Souveränität sich in einem
bestimmten Bereich der Gesellschaft unsichtbar gemacht hat, um eben
jene Dynamik des freien Spiels zu ermöglichen, deren Zukunft stets
ungewiß ist. Auf der einen Seite gibt es die starke Hand des Staates,
die öffentliche und sichtbare Hand, auf der anderen Seite gibt es
die unsichtbare Hand, die den Bereich des Marktes umfaßt. Michel
Foucault hat die Unsichtbarkeit dieser zweiten Hand bei Smith so
gedeutet, daß es im Bereich des Ökonomischen keinen Souverän geben
kann (vgl. Foucault 2004: 392f.). Im Unterschied zur juridischen
Praxis, zur Form und Anwendung des Gesetzes, sind die ökonomischen
Gesetzmäßigkeiten nicht auf einen Souverän zurückführbar. Die Unsichtbarkeit
bezieht sich also nicht auf eine im Hintergrund lenkende Hand des
Marktes, sondern auf die notwendige Begrenzung der staatlichen Souveränität,
um das freie Spiel des Marktes überhaupt erst möglich zu machen.
Der Staat muß dieses freie Spiel auf eine bestimmte Weise rahmen,
indem er zum Beispiel auf die Einhaltung der Regeln achtet, ohne
dabei allerdings das Spiel selbst zu bestimmen. Der Markt stellt
sich in der politischen Ökonomie folglich von Anfang an im Gegensatz
zur öffentlichen Hand als ein Bereich des Privaten dar und damit
als von der Gemeinschaft abgetrennt. Im Unterschied zu den politischen
Versammlungen der Parlamente, der Gewerkschaften oder anderer Gruppierungen
ist die Versammlung von Zeichen, Dingen und Menschen an den kapitalistischen
Stätten der Produktion keine öffentliche Versammlung. Es gibt keine
öffentliche Sache, um die sich die Arbeitskräfte versammeln. Das
Ziel der Arbeiterbewegung bestand deshalb darin, die Versammlung
des subsumierenden Kapitals in eine politische Versammlung zu transformieren.
Die Kämpfe um den Staat von links und von rechts sind in diesem
Sinne nichts anderes als die Kämpfe um die Legitimität dieser politischen
Versammlungen. Schließlich ist es der Staat, der die souveräne Grenze
zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Hand zieht, der entscheidet,
was privat und was politisch ist. Die Art und Weise dieser Grenzziehung,
die der Staat in sehr unterschiedlichen Formen der tatsächlichen
und der symbolischen Territorialität darstellt, betrifft das, was
man zweite ursprüngliche Akkumulation nennen kann. Denn wenn
der Staat nichts anderes als diese Rahmung ist, dann verändert sich
die Funktion der Grenzziehung grundlegend, wenn es nicht mehr der
Staat ist, der die Grenze zwischen dem Politischen und dem Privaten
zieht und das freie Spiel der Kräfte ermöglicht, sondern wenn es
die Ökonomie ist, die den Staat ins Leben ruft, wenn also das Politische
aus dem Privaten abgeleitet wird und nicht umgekehrt. Foucault hat
am Beispiel der Gründung der Bundesrepublik das Neue des Neoliberalismus
darin gesehen, daß der Staat nicht mehr dem Markt im Sinne von Smith
vorausgeht, sondern daß die Entstehung eines freien Marktes die
Gründung eines Staates notwendig macht (vgl. Foucault 2004: 112-147).
Dementsprechend steht der Staat in keiner Weise mehr über der Gesellschaft,
sondern stellt eine Beziehung der Bürger als Staatsbürger nur insofern
her, als diese zuallererst Teilnehmer der Wirtschaft sind und sich
in allen Lebensbereichen wie Unternehmer verhalten und sich auch
als solche gegenübertreten. Wenn der Staat konsequent als Funktion
der Wirtschaft gedacht wird, bedeutet dies, daß der Staat und seine
Institutionen privatisiert werden, daß die Gefängnisse, die Schulen,
die Universitäten den gleichen ökonomischen Gesetzmäßigkeiten gehorchen
wie der freie Markt selbst. Insofern könnte man sagen, daß
die zweite ursprüngliche Akkumulation das vollendet, was als Moment
der Reservehaltung und der dauernden Ersetzung des durchgestrichenen
Ursprungs in der ersten Akkumulation schon angelegt ist, indem sie
dieses Moment universalisiert. Es ist nicht mehr das Territorium,
das sich öffnen muß für die Ströme der Dinge, Zeichen und Menschen,
sondern es sind die Ströme, die nun das Territorium schaffen. Wenn
die Epoche der Geschichte nichts anderes ist als die Enteignung
des Ursprungs und der Gemeinschaft, erscheint diese Epoche insofern
abgeschlossen zu sein, als der Raum des Staates sekundär geworden
ist im Verhältnis zu den Strömen der Globalisierung.
Diesen Übergang hat Gilles Deleuze als Übergang von einer Disziplinargesellschaft
zu einer Kontrollgesellschaft beschrieben (vgl. Deleuze 1993). Die
Disziplinargesellschaft hat es stets mit der Schaffung von homogenen
Produktionsorten zu tun, mit der Disziplinierung von Fabrikkörpern
unterschiedlichster Art und dementsprechend mit einer Grenzziehung,
die das, was sie ausschließt, auch auf problematische Weise innerhalb
ihrer territorialen Grenzen wiederum abbilden muß. Ihre Bewegungen
sind die Bewegungen von Exkludierten, mit denen sie mittels Umsiedlung,
Vertreibung und Vernichtung fertig zu werden versucht. Ihr Problem
sind die heterogenen Elemente. Die Macht der Kontrolle hingegen
definiert sich nicht mehr darüber, vor Ort zu sein und unmittelbar
disziplinarisch auf die Körper einzuwirken. Die Kontrolle richtet
sich nicht auf die Homogenität einer Körperanordnung, sondern auf
den Fluß und die Kanalisierung der Ströme. Sie scheidet die legitimen
von den illegitimen Strömen. So wie der Staat, den die Ökonomie
ins Leben ruft, ein Staat der Infrastruktur ist, richtet sich die
Macht der Kontrolle auf die kybernetische Steuerung der Ströme.
Deleuze hat den Übergang von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft
mit einem neuen Maschinentyp in Verbindung gebracht, der nichts
mehr mit den energetischen Maschinen der Industrialisierung gemeinsam
hat, die homogene Serien von Zeichen, Menschen und Dingen produzieren,
sondern der ausschließlich Informationen herstellt. Michael Hardt
und Antonio Negri sprechen deshalb auch von einer "informatischen
Akkumulation" (Hardt/Negri 2002: 270). Die Grenzziehung der Kontrolle
ist im Unterschied zur Schaffung von homogenen Produktionskörpern,
von Fabrik- und Volkskörpern, immer eine ad hoc zu ziehende
Grenze, eine Grenze des Verlaufs und der präventiven Sicherung.
Es sind nicht mehr die Ströme, die legitim oder illegitim die Grenze
überschreiten und diesseits der Grenze eingebunden werden müssen,
sondern die Grenze entsteht immer von der Perspektive der Ströme
aus und auf deren Basis als Kanalisierung und Beschränkung. Während
die energetischen Maschinen die Arbeitskräfte versammeln und akkumulieren,
ist die Kontrolle der informatischen Maschinen dem Fluß der Arbeitskräfte
inhärent organisiert. Ihre Versammlung ist gewissermaßen immer nur
eine virtuelle Versammlung, die stets schon aufgelöst ist, noch
bevor sie sich als politische Versammlung hätte konstituieren können.
Aus dem Kapital sind unendlich viele Kapitalien geworden, aus dem
imaginären Zentrum Knotenpunkte der Verdichtung, die nichts mehr
mit der symbolischen Rahmung zu tun haben, sondern im Gegenteil
als symbolische Schleusen gewährleisten, daß alles in alles übersetzbar
ist. Jean Baudrillard hat im Zusammenhang mit der Absetzung des
Goldstandards Anfang der 70er Jahre von einem "Stadium totaler Relativität"
gesprochen, in dem die Konvertibilität ohne einen Verweis auf Reales
auskomme (Baudrillard 1978: 39-48), was nichts anderes heißt, als
daß die zweite ursprüngliche Akkumulation die Ersetzung des Ursprungs
selbst betrifft. Die öffentlichen Versammlungen von Zeichen, Dingen
und Menschen fanden stets im Namen eines prothetischen Ursprungs
statt und sind seit Hobbes' Leviathan deshalb konsequent
als künstliche Versammlungen und somit in Analogie zu den privaten
Versammlungen unter dem Kapital gedacht worden. Ohne einen Verweis
auf Reales auskommen zu können, bedeutet letztlich, daß nicht nur
die Ströme der Kapitalien und ihre Konvertibilität global geworden
sind, sondern daß damit auch die konstitutionelle Versammlung, das
Modell der politisch-staatlichen Einheit als Ort der Versammlung,
selbst in Frage gestellt ist.
Wenn der moderne Staat von Anfang an in dem Sinne ein künstlicher
Staat ist, daß er die Körper trennt und auf ein imaginäres Zentrum
hin neu zusammensetzt, dann kann man sagen, daß dieser Staat von
Anfang an ein Staat ist, der sich auf einem medialen Prinzip gründet.
Bilder, Stimmen und Zeichen werden systematisch von ihrem sakralen
Ort der Bedeutung getrennt, gerahmt und in Umlauf gebracht. Die
informatische Maschine vom Buchdruck bis zum Internet, die immer
als ein Kreislauf der Kontrolle und der kybernetischen Selbststeuerung
gedacht wurde, produziert jedoch im selben Moment eine Rahmung und
eine Entrahmung, da der zirkuläre Imperativ der Selbstwahrnehmung,
des Selbstlesens und des Selbsthörens, also das gesamte System des
Vernehmens seiner selbst prinzipiell niemals ganz geschlossen werden
kann. Aus magischen Bildern werden eingehegte Bilder, mit einer
Rahmung, einer Hängung und einer Perspektive des Betrachters. Alle
diese Disziplinierungen sollen die legitime Verbindung der Bildelemente
sicher stellen. Aus sakralen Texten werden Bücher, Werke und riesige
Archive einer unendlichen Selbsterkenntnis. Die gigantische Maschinerie
der Information installiert überall Spiegel, die den Blick ausrichten
sollen und davor bewahren, daß die unendlich vielen Augen, Ohren,
Münder, die Körper, die auf diese Weise fragmentiert und in Bewegung
gebracht werden, sich in ebenso unendlich viele verschiedene Richtungen
bewegen und somit möglicherweise absolut Verschiedenes wahrnehmen.
Denn der künstliche Körper muß in jedem Moment als ein Körper in
einem Raum und in einer Zeit komponiert werden können. Die Dezentralisierung,
die ebenso notwendigerweise mit der ersten ursprünglichen Akkumulation,
mit der Enteignung und der Expropriation des Ursprungs einhergeht
und die permanent in eine Rezentralisierung überführt werden muß,
ist also nur die andere Seite der Versammlung unter dem Kapital
(vgl. Innis 1997: 113f). Denn diese Versammlung muß immer wieder
das zerstreuen, was sie eigentlich versammeln will, so daß die Grenze,
an die das Kapital stößt, stets hinausgeschoben und erweitert werden
muß. Das Moment des Sekundären, das im Begriff der zweiten ursprünglichen
Akkumulation enthalten ist, erscheint daher zugleich als Voraussetzung
und als Folge der ursprünglichen Akkumulation. Die Expropriation,
die der Ökonomie des Kapitals zugunsten eines imaginären Zentrums
vorausgeht, ist gleichzeitig dessen Wirkung, so daß die dezentralisierten
Ströme auch den Staat selbst auffressen können. Nicht nur die Kontrolle
ist rekursiv im Sinne einer Kybernetik der Selbststeuerung, sondern
genauso verhält es sich auch mit der Auflösung dessen, was sich
eigentlich selbst erfassen soll. Auch die Selbstauflösung ist rekursiv.
Somit ist in der Enteignung des Ursprungs, in der Trennung der Produzenten
von den Produktionsmitteln, in der Dissoziation der Gemeinschaft,
zugleich auch die Gegengeschichte und die Transgression des künstlichen
Rahmens gegeben, den die Akkumulation permanent ziehen muß. Während
die ursprüngliche Akkumulation daher als Privatisierung der Gemeinschaft
erscheint, kehrt sich dieses Verhältnis in der zweiten ursprünglichen
Akkumulation geradezu um. Die Gemeinschaft ist nicht mehr der sekundären
Reservehaltung entgegengesetzt, sondern entsteht primär in den globalisierten
Strömen aus Zeichen, Menschen und Dingen. Der Ableitung des Staates
aus dem Markt, und das heißt der Ableitung des Politischen aus dem
Privaten, korrespondiert eine vollkommen neuartige Form der Gemeinschaft,
wenn das gesamte Leben von der Produktionssphäre bestimmt wird.
Es entsteht die ökonomische Familie, die Reproduktion nach Marktgesetzen,
eine Industrie der Affekte und der Körper, es entsteht eine vollständige
biopolitische Produktion, die gar keinen Unterschied mehr zwischen
einer Arbeitswelt und einer Lebenswelt machen kann. Aber das bedeutet
zugleich, daß die Ökonomie des Kapitals, die sich von Anfang an
als Begrenzung der Gemeinschaft konstituiert hat (vgl. Hirschmann
1980), das Problem der Gemeinschaft letztlich entgrenzt hat. Denn
auf eine paradoxe Weise wird die Trennung der Produzenten von den
Produktionsmitteln dann unmöglich, wenn das Leben und die Körper
unmittelbar selbst zu Produktionsmitteln geworden sind. Auch die
Ersetzung der Kommunion durch die Kommunikation wird das Problem
der Kommunion nicht los. Hardt und Negri haben aus diesem Umstand,
aus der Biomacht der Menge, eine Emanzipationstheorie zu gewinnen
versucht und danach gefragt, wie "die materielle und immaterielle
Produktion der Hirne und Körper der Menge vernünftig werden und
eine Richtung nehmen" kann und wie das "Bemühen, die Distanz zwischen
der sich zum Subjekt organisierenden Menge und der Konstitution
eines demokratischen politischen Dispositivs zu überbrücken, seinen
Fürsten finden" soll (Hardt/Negri 2002: 78). Aber das heißt letztlich
nichts anderes, als das Maßlose der Menge und das Begehren der Ströme
wieder einzuschreiben in das Denken des Telos, der Wiederaneignung
der Geschichte und der Gewalt einer konstituierenden Versammlung,
die seit der Neuzeit immer im Rahmen eines aus der Menge hervorgehenden
Fürsten gedacht wurde. Auf die zweite ursprüngliche Akkumulation,
auf die informatischen Netzwerke der dezentralen Produktion, antworten
Hardt und Negri daher mit einer politischen Versammlung, die seit
der Begründung des modernen Staates das ergänzende Gegenstück der
Versammlung unter dem Kapital darstellt. Der Virtualisierung der
staatlichen Souveränität in dem Sinne, daß eine globale Souveränität
gegenwärtig nur in Form einer intervenierenden Kontrolle der globalen
Ströme entstehen kann, stellen Hardt und Negri einen ebenso virtuellen
Souverän der Ströme entgegen, der die verstreuten Körper der Menge
wieder zusammenrufen soll, so daß sich die Menge ihre Potenz, ihr
eigenes Mengensein überhaupt erst aneignen kann. Sie bleiben damit
an eine geschichtsphilosophische Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft
gebunden, bei der es zuletzt der Knecht sein wird, der den globalen
Staatskörper baut. Statt dessen wäre im Hinblick auf das, was Deleuze
den "organlosen Körper" genannt hat (Deleuze/Guattari 1974: 15),
der Frage nachzugehen, welcher Körper in der Zerstreuung lebt. Es
wäre eine Politik zu denken, deren Zentrum nicht mehr in einem Antagonismus
von Kräften besteht, eine Politik der Gemeinschaft, die nicht versammelt,
sondern die in dem Raum entsteht, den die Ströme eröffnen.
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Literatur
Baudrillard, Jean (1978): Kool Killer oder Der
Aufstand der Zeichen, Berlin.
Deleuze, Gilles (1993): "Postskriptum über die Kontrollgesellschaften",
in: ders.: Unterhandlungen. 1972-1990, Frankfurt/M., S. 254-262.
Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1974): Anti-Ödipus. Kapitalismus
und Schizophrenie I, Frankfurt/M. 1974.
Foucault, Michel (2004): Geschichte der Gouvernementalität II. Die
Geburt der Biopolitik, Frankfurt/M.
Hardt, Michael/Negri, Antonio (2002): Empire. Die neue Weltordnung,
Frankfurt/M./New York.
Hirschmann, Albert O. (1980): Leidenschaften und Interessen: Politische
Begründung des Kapitalismus vor seinem Sieg, Frankfurt/M.
Innis, Harold A. (1997): Kreuzwege der Kommunikation. Ausgewählte
Texte, hg. v. Karlheinz Barck, Wien/New York.
Marx, Karl (1962): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie.
Erster Band (= Marx/Engels - Gesamtausgabe, Bd. 23), Berlin.
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