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Kritik
der Biopolitik Kritik der Souveränität. Zur politischen Philosophie
Giorgio Agambens und Antonio Negris1
von
Michael Heister und Richard Schwarz
0.
Einleitung (Michael Heister)
Ausgangslage
Mit Giorgio Agamben und Antonio Negri sollen heute abend zwei italienische
Philosophen als politische Theoretiker vorgestellt werden. Aus diesem
Grund werden wir uns im wesentlichen auf die letzten, in der Öffentlichkeit
breit diskutierten Arbeiten konzentrieren; bei Agamben auf sein
homo sacer-Projekt, das im Deutschen mittlerweile die Bände homo
sacer, Was bleibt von Auschwitz? und Ausnahmezustand
umfasst; bei Negri auf Empire, das er zusammen mit dem amerikanischen
Literaturwissenschaftler Michael Hardt geschrieben hat.
Unser gemeinsames Erkenntnisinteresse, das sich auch in dem von
uns herausgegebenen Online-Magazin episteme wiederspiegelt,
gilt dem Vermögen politischen Denkens, auf die sich wandelnden sozialen
und politischen Verhältnisse mit einem theoretischen Instrumentarium
zu antworten, das Möglichkeiten der Intervention und Befreiung eröffnet.
Und um es gleich vorwegzunehmen, stellen unserer Meinung nach Agamben
und Negri Kategorien zur Verfügung, die für eine Analyse der neuen
Weltordnung fruchtbar sind. Dabei gelingt es ihnen, mit einer Reihe
theoretischer Werkzeuge aufzuräumen, auf die viele zum Verständnis
gesellschaftlicher Phänomene nach wie vor rekurrieren.
Agamben und Negri also als Zeitdiagnostiker, deren theoretischer
Zugang und Background aber sehr unterschiedlich ist. Auf der einen
Seite Agamben, Jahrgang 1942, also Anfang 60, der nach Auslandsaufenthalten
in Amerika und in Paris zur Zeit in Verona Philosophie lehrt. Er
nahm in den 60ern als promovierter Jurist an Heidegger-Seminaren
in Freiburg teil und ist Herausgeber der italienischen Benjamin-Ausgabe.
In seinen Arbeiten verknüpft er seine Interessen für kontinentale
Philosophie, religiöse Studien, politische Ansätze, Literaturtheorie
und Kultur auf einzigartige Weise. Auf der anderen Seite Negri,
Jahrgang 1937, also Ende 60, Mitinitiator des sogenannten Operaismus,
der die sozialen Auseinandersetzungen der 60er und 70er Jahre in
Italien gegen die Orthodoxien von kommunistischer und sozialistischer
Partei und Gewerkschaften aus der Sicht der kämpfenden Subjekte
herausstellt. Als Opfer der staatlichen Repression wurde er 1979
verhaftet, floh dann 1983 nach Paris und ist seit 1997 zurück in
Italien. Dort hat er noch eine mehrjährige Reststrafe abgesessen
und lebt – unseres Wissens – zur Zeit in Rom ohne universitäre Lehranbindung.
Nach den Unterschieden eine wichtige Gemeinsamkeit bezüglich ihrer
politischen Ansätze: beide stellen als einen wichtigen Ausgangs-
bzw. Bezugspunkt die Bio-Macht-Analyse Foucaults2 dar.
Aus diesem Grund müssen wir kurz auf sie eingehen.
Bio-Macht bei Foucault
Foucaults Untersuchungen zur Macht stellen einen der bedeutendsten
Einschnitte im Denken des Politischen dar und eröffnen der Analyse
des Sozialen ein auf diese Weise nicht bearbeitetes Feld. Charakteristisch
ist dabei schon, was Foucault unter Macht versteht. Traditionelle
Bestimmungen haben die Macht stets als ein externes Verhältnis zwischen
sozialen Instanzen begriffen: je nach Ansatz beispielsweise zwischen
Subjekt und Staat, Basis und Überbau, Individuum und Gemeinschaft.
Macht wurde entweder zwischen den Instanzen übertragen oder wirkte
funktional bzw. repressiv von der einen auf die andere ein. Demgegenüber
geht Foucaults Methode von den Machttechniken im weitverzweigten
Netz sozialer Verhältnisse aus, in denen sie zusammen mit Wissenssystemen
ihre Wirkung entfalten. Macht spannt sich hier nicht zwischen vorgängigen
Instanzen auf, vielmehr konstituiert sie diese. Letzteres verweist
zudem auf die produktive Rolle der Macht: eher als sie hemmt und
verhindert, ist sie schöpferisch. Und Macht ist relational: Wo es
Macht gibt, da existiert auch Widerstand (vgl. Foucault 1977, 115ff.).
Von diesem machttheoretischen Zugriff aus kann Foucault die vielfältigen
sozialen Herrschaftsverhältnisse sichtbar machen. Historisch stellt
er für die Neuzeit drei soziale Machttypen heraus. In der Souveränitätsgesellschaft
fungiert das Recht als Machtinstrument, als Gewalt des Gesetzes,
das den Untertanen zwar Verpflichtungen abverlangt, sie aber weitestgehend
ihr Leben führen läßt. Die staatliche Befehlsgewalt greift im wesentlichen
nur im Fall der Verletzung rechtlicher bzw. souveräner Macht ein,
rekurriert dabei aber zur Wiedererlangung ihrer Autorität auf öffentliche
Strafen, die nicht selten den Tod zur Folge haben. Die Herrschaftsform
in der Souveränitätsgesellschaft bringt Foucault auf folgende Kurzformel:
Sterben machen und leben lassen.
Seit dem 17. Jahrhundert bilden sich dann Machtverhältnisse heraus,
die das menschliche Leben zum Gegenstand haben, wohlwissend dass
die Körper selbst produktiv sind. Die Norm beginnt nun das Recht
als vorherrschendes Machtinstrument abzulösen und bewirkt die Entwicklung
zweier Machttypen: Disziplin bezeichnet dabei die normierende
Einwirkung der Macht auf den individuellen Körper, dessen Überwachung
in Schulen, Fabriken, Gefängnissen, Krankenhäusern, Asylen, Kasernen
etc. das gelehrige Individuum hervorbringt. Etwas später setzt dann
die Kontrolle der Bevölkerungen mittels eines Sicherheitssystems
ein, die um die Themen von Geburtenrate, territoriale Wanderungsbewegungen,
Lebensdauer, Gesundheit etc. kreist. Foucault spricht hierbei von
Gouvernementalität bzw. gouvernementale Führung. Diese Bio-Macht,
die Produktion und die Kontrolle des menschlichen Lebens, steht
im Zentrum zeitgenössischer politischer Rationalität. Die Drohung
mit deren Gewaltpotential rückt dabei zusehends in den Hintergrund.
Foucaults Formel für die Bio-Macht lautet: Leben machen und sterben
lassen (vgl. Foucault 2003).
Diesen Leitfaden greifen Agamben und Negri auf und nehmen an ihm
entscheidende Modifikationen vor:
Agamben zeigt dabei auf, wie in den Lagern als Orte des Ausnahmezustandes
das nackte Leben hervorgebracht wird, der homo sacer, der
frei von allen rechtlichen Ansprüchen der souveränen Macht über
den Tod ausgeliefert ist: Nicht nur leben, sondern auch sterben
machen.
Gegenüber Foucault entkoppelt Negri die Produktion des gesellschaftlichen
Lebens von den sozialen Machtinstanzen und verortet sie im alltäglichen
Leben selbst, in der Kooperation der gesellschaftlichen Arbeiter,
in der Multitude, der Biopolitik von unten: Leben machen von unten
und nicht von oben.
1. Flüchtling, Volk, Lager Ein Schnellabriß der Philosophie
Agambens im Kursbuch-Stil (Richard Schwarz)
Faux départs. Bevor ich damit beginne, die politische Philosophie
Giorgio Agambens in ihren zentralen Begriffen darzustellen, möchte
ich kurz versuchen, diese Philosophie in einem größeren Kontext
zu verorten, um ihre Thesen damit besser verstehbar zu machen. Bekanntlich
hat es im modernen politischen Denken zwei grundlegende Reaktionen
auf die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts im allgemeinen und die
Shoah im besonderen gegeben. Die eine Reaktion, die auch das alltägliche
Sprechen und Denken über diese Phänomene nachhaltig geprägt hat,
begriff den totalitären Gesellschaftszustand als das Resultat eines
katastrophischen Einbruchs von Logiken und Verhaltensweisen, die
einer aufgeklärten und demokratischen Zivilisation wesensfremd seien.
Die politische Semantik solcher Ansätze ist uns allen wohlvertraut:
im Hinblick auf den NS-Faschismus sprach man beispielsweise vom
"Rückfall in die Barbarei", vom "Irrationalismus", ja sogar vom
"Zivilisationsbruch": kurz gesagt, man maximalisierte begrifflich
den Abstand, den eine demokratische von einer totalitären Gesellschaft
trennt. Die politischen Institutionen, die Ökonomie und die Kultur
von demokratischen und totalitären Gesellschaften schienen so unvereinbar
wie Tag und Nacht. Daher galten Rechtsstaatlichkeit, die soziale
Marktwirtschaft und der Verfassungspatriotismus der mündigen Bürger
hierzulande unhinterfragt als Grundelemente einer nicht?totalitären
Lebenskunst, als wirksame Barriere gegenüber allen extremistischen
Versuchungen. Der Totalitarismus war damit nicht mehr, wie für Hannah
Arendt, die "Bürde unserer Zeit", mit dem jeder und jede Einzelne
unmittelbar konfrontiert waren, sondern erschien als eine Art Schauergeschichte
aus einer weit entfernten Zeit. Dies war bis in die 90er Jahre das
völlig unbeirrbare Selbstverständnis der Bundesbürger, bevor das
Erstarken des europäischen Rechtsextremismus und die Lager in Bosnien
all diese Evidenzen nachhaltig in Frage stellten.
Wir können jedoch nicht sagen, daß wir nicht vorher gewarnt worden
seien. Neben der eben skizzierten staatsoffiziellen Erzählung existiert
seit langem, wenn auch marginal und unterirdisch, eine alternative
Interpretationsweise, die realistischer, aber auch katastrophischer
erscheint. Diese zweite Interpretation des Totalitarismus, die in
ihren Grundzügen von europäischen Emigranten in direkter Auseinandersetzung
mit Faschismus und Stalinismus in den 30er und 40er Jahren formuliert
worden ist, behauptet im Gegensatz zur herrschenden Fabel, daß Kontinuitätslinien
zwischen demokratischen und totalitären Gesellschaftszuständen existieren.
Diese Kontinuitätslinien werden je nach Standpunkt des einzelnen
Theoretikers oder der einzelnen Theoretikerin verschieden bestimmt.
Gemeinsam ist jedoch all diesen Ansätzen die Überzeugung, daß es
etwas in den modernen Gesellschaften gibt in ihrer Philosophie,
ihren politischen Institutionen, ihrer Ökonomie, ihrer Kultur -,
das den relativ reibungslosen Übergang von demokratischen zu totalitären
Verhältnissen ermöglicht und in der Folge auch die relativ
reibungslose Organisation der Vernichtung ganzer Bevölkerungsteile.
Als Exponenten dieser theoretischen Tradition seien hier nur diejenigen
genannt, auf die sich Agamben selbst explizit bezieht: Walter Benjamin,
Hannah Arendt und Michel Foucault. In unterschiedlicher Weise stellt
deren Werk nicht nur Mittel bereit, um die historischen Referenztotalitarismen
in ihrer Funktionsweise analysieren zu können, sondern, weit dringlicher,
die Mittel, um diejenigen institutionellen, ökonomischen und kulturellen
Entwicklungen aufzuzeigen, aus denen die heutigen und die möglichen
zukünftigen Vernichtungslogiken entspringen. Den möglichen Horizont
der Vernichtung auszuloten, stellt nun gewiß kein beruhigendes Denken
dar. Es ist jedoch allen auferlegt, die sich nicht mit den logischen
Paradoxa der herrschenden Ideologie abfinden können, die angesichts
der zeitgenössischen Vervielfältigung der Bilder von Krieg, Terror,
Vertreibung und Genozid immer noch proklamiert, jedes einzelne Ereignis
sei die Ausnahme von der westlichen Zivilisationsregel und sei als
diese Ausnahme unfaßbar. Logische Zumutungen dieser Art hat Walter
Benjamin schon vor über 60 Jahren mit den folgenden Worten kritisiert:
"Das Staunen darüber, daß die Dinge, die wir erleben
[...] "noch" möglich sind, ist kein philosophisches. Es steht nicht
am Anfang einer Erkenntnis, es sei denn der, daß die Vorstellung
von Geschichte, aus der es stammt, nicht zu halten ist." (Benjamin
1961, 272)
Es ist aber nicht nur unsere Geschichtsvorstellung, die, als unhaltbare
erkannt, verändert werden muß. Wenn wir nicht wollen, daß, wie Agamben
voraussagt, sich "in Europa die Vernichtungslager wieder öffnen"
(Agamben 2001, 30), müssen wir unser Selbstverständnis genauso überprüfen
wie unsere Institutionen, unsere Ökonomie und unsere Kultur und
sie in vielfacher Hinsicht verändern. Insofern ist die soeben beschriebene
theoretische Tradition, in der Agamben steht, keine rein katastrophische:
in ein und derselben Geste beschreibt sie die mögliche katastrophale
Zukunft und umreißt gleichzeitig die Grundlinien einer kommenden
Politik, die allein diese Zukunft zu ändern vermag: eine nicht-totalitäre
Lebensform und eine alternative Form der Gemeinschaft.
Panorama. Agambens Denken der heutigen politischen Situation
"der Dinge, die wir erleben" kreist um die folgenden
vier Grundbegriffe oder, besser gesagt, theoretischen Grundfiguren:
1. das nackte Leben des Menschen (zoé) im Gegensatz zu seiner
Lebensform (bios);
2. der Flüchtling als die zeitgenössische Erscheinungsform des homo
sacer, d. h. des auf sein nacktes Leben reduzierten Menschen,
der außerhalb der Rechtsordnung steht und daher straflos getötet
werden kann (lat. sacro = "dem Untergang preisgeben");
3. die Polizei als modernste Form der souveränen Macht über Leben
und Tod;
und 4. das Konzentrationslager als die neue Raumordnung, in der
jenes nackte Leben wohnt, das sich nicht mehr in die politische
Ordnung einschreiben läßt.
Mit diesen Figuren ist ein Denken des Ausnahmezustands umrissen,
von dem aus die Regel besser gesagt: der politische Zustand,
von dem regierungsoffiziell behauptet wird, daß er noch immer die
Regel sei in einem äußerst fragwürdigen Licht erscheint.
Dieser Regelzustand wird gewöhnlicherweise mit den Begriffen Menschenrechte,
Staatsbürgerschaft, Volkssouveränität und Rechtsstaatlichkeit assoziiert.
In der Perspektive Agambens, der hier unmittelbar die Totalitarismustheorie
Hannah Arendts beerbt, sind diese Begriffe heutzutage völlig phantasmatisch
geworden: "wer sich ihrer weiterhin kritiklos bedient, weiß buchstäblich
nicht, wovon er redet." (Agamben 2001, 105) Im folgenden soll mit
Hilfe der genannten vier theoretischen Grundfiguren Agambens und
einiger Ausflüge in die Realgeschichte gezeigt werden, warum die
Begriffe der Regel so problematisch sind, welche politische Wirklichkeit
und welche Gefahren für die Zukunft sie verdecken.
Der Flüchtling. Wenn Agamben davon spricht, daß der Flüchtling
die in unserer Zeit "einzig denkbare Figur des Volkes" sei, "die
einzige Kategorie, die uns heute Einsicht in die Formen und Grenzen
einer künftigen politischen Gemeinschaft" gewähre (Agamben 2001,
23f.), so meint er damit nicht den Flüchtling als Einzelfall, der
als solcher immer als Ausnahme begreifbar und bearbeitbar war (beispielsweise
mittels des Asylrechts), sondern den Flüchtling als Massenphänomen.
In Europa beginnt die Geschichte der Flüchtlingsströme mit dem Zusammenbruch
der Donaumonarchie, des Osmanischen Reichs und des zaristischen
Rußlands am Ende des Ersten Weltkriegs, in deren Folge ganz Osteuropa
territorial und ethnisch restrukturiert wurde. Infolge dieser Neustrukturierung
auf der Grundlage des Wilsonschen Prinzips des "Selbstbestimmungsrechts
der Völker" sowie infolge der Revolution und des Bürgerkriegs in
Rußland verließen 1,5 Millionen Weißrussen, 700.000 Armenier, 50.000
Bulgaren, 1 Million Griechen und Hunderttausende von Deutschen,
Ungarn und Rumänen ihre bisherige Heimat. Verschärft wurde diese
Entwicklung durch die Gesetzgebung in vielen der neugegründeten
Staaten, die den Flüchtlingen die Staatsbürgerschaft entzog und
somit deren Rückkehr unmöglich machte. Der neue Typ des Flüchtlings
ist also nicht mehr derjenige, der sich der Verfolgung für eine
kürzere oder längere Zeit entzieht; es ist derjenige, dessen Flüchtlingsstatus
permanent ist und der keine Staatsangehörigkeit mehr beanspruchen
kann. Als Staatenloser ist seine Stellung noch viel prekärer als
die des Angehörigen einer in den neuen Staaten verbliebenen Minderheit,
deren Rechtssicherheit ja auch nicht von sich aus gegeben war, sondern
einzig und allein von der Existenz eines benachbarten Schutzstaates
abhing, der über deren Einhaltung wachte. Er ist im wahrsten Sinne
des Wortes eine, wie es in den 40er Jahren im offiziellen Jargon
hieß, Displaced Person, die, da sie keiner gesellschaftlichen
und politischen Ordnung mehr angehört, keinerlei Rechte besitzt
und der Willkür der Behörden und auch der Bevölkerung des Fluchtlandes
ausgesetzt ist. Kein Staat schützt ihn und auch keine internationale
Organisation. Agamben zählt sie alle auf, all jene pathetischen
Organisationen, die die Weltgemeinschaft zur Lösung des Flüchtlingsproblems
erfunden hat: vom Nansen-Büro für die russischen und armenischen
Flüchtlinge (1921) bis zum Hochkommissar für Flüchtlinge aus Deutschland
(1936), vom Internationalen Flüchtlingskomitee (1938) bis zum jetzigen
Hochkommissariat für Flüchtlingsfragen der UN. All jene Organisationen
haben es nicht vermocht, Flüchtlinge wirksam vor Verfolgung und
Willkür in ihren neuen Heimatländern zu schützen; die Flüchtlinge
blieben weiterhin Objekte der Polizei und der humanitären Organisationen.
Daß die Flüchtlingsfrage nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa trotzdem
als "gelöst" erscheinen konnte und dies trotz einer erneuten
ethnischen Restrukturierung Mittel- und Osteuropas, die eine seiner
Folgen war -, verdankt sich nicht den diversen Kommissariaten für
Flüchtlingsfragen, sondern der normativen Kraft des Faktischen,
die größtenteils zu einer Naturalisierung der ansässigen Flüchtlinge
führte.
Dieses Scheitern der Flüchtlingsorganisationen verweist für Agamben
auf grundlegende Aporien in dem sie leitenden Konzept der Menschenrechte.
Es stellt sich die Frage, warum dieses Konzept gerade gegenüber
denjenigen versagt hat den Flüchtlingen -, die seine Notwendigkeit
am reinsten verkörperten. Für Agamben, der in seiner Argumentation
der Analyse Hannah Arendts (1986, 559 ff.) fast buchstabengetreu
folgt, liegt der Grund für dieses Versagen in einer geheimen Asymmetrie,
die das Verhältnis zwischen den sogenannten Menschen- und den sogenannten
Bürgerrechten (les droits de l'homme et du citoyen) regelt.
Gewöhnlich geht man davon aus, daß die Menschenrechte die universelle
Grundlage sind, auf denen dann die spezielleren Rechte der Bürger
aufruhen. In Wirklichkeit verhält es sich aber gerade anders herum:
nur wer Bürger eines Staates ist, besitzt auch Menschenrechte. Die
Erklärungen der Menschenrechte von 1789 sind nämlich keine Proklamationen
ewiger und übergesetzlicher Werte und auch keine philosophischen
Sollenserklärungen; sie sind der Ort, an dem sich der Übergang von
der königlichen zur nationalen Souveränität vollzieht, indem mittels
der ersten drei Artikel der Erklärungen von 1789 das nackte Leben
in die rechtlich-politische Ordnung des Nationalstaates eingeschrieben
wird (Agamben 2001, 27-28). Dies ist der eine Aspekt dessen, was
Agamben in einer etwas freien Anlehnung an Michel Foucault mit dem
Begriff der "Biopolitik" bezeichnet: das nackte Leben, das in der
Monarchie noch Gott unterworfen erscheint, wird nunmehr zum unmittelbaren
Grund der nationalen Souveränität. Man ist nicht aufgrund einer
geteilten Lebensform oder einer freien Wahl Mitglied einer Staatsgemeinschaft,
sondern aufgrund der natürlichen Tatsache des Geborenseins, des
natus est. Der moderne Nationalstaat beruht damit letztendlich
auf der Fiktion, daß es keinerlei Bruch zwischen Geburt und Nation,
zwischen zoé und bios, zwischen biologischer Abstammung
und ihrer politischen Repräsentation gebe. Was ihn in seinen Grundfesten
bedroht, sind diejenigen heutzutage ständig wachsenden
Bevölkerungsteile in seinem Inneren, die durch diese Fiktion nicht
mehr repräsentierbar sind und zu denen neben dem Flüchtling auch
die jeweiligen "ethnischen Minderheiten" und die denizens
die Nicht-Bürger mit ständigem Wohnsitz gehören. Eine
der möglichen Reaktionen des Nationalstaates auf seine Krise hat
darin bestanden und besteht potentiell immer noch darin, die nicht-repräsentierbaren
Bevölkerungsteile entweder zu vertreiben oder kurzerhand zu vernichten.
Auch in den Vernichtungsakten des modernen Staates erweist sich
das nackte Leben als das über die Lebensform dominierende Prinzip:
nicht nur werden die störenden Bevölkerungsgruppen zuerst ihrer
staatsbürgerlichen Rechte (ihres bios) entkleidet
wie in den Nürnberger Gesetzen -, bevor sie in die Lager deportiert
werden; auch die Tatsache ihrer Vernichtung gründet sich nicht etwa
auf einer dem Staat feindlichen Lebensform auch wenn die
Nazipropaganda dies immer behauptet hat -, sondern auf den Zufällen
der Biologie. "Ob der Jude in Auschwitz oder die bosnische Frau
in Omarska: Ins Lager gekommen sind sie nicht aufgrund einer politischen
Auswahl, sondern einer, die auf dem privatesten und unmitteilbarsten
beruhte, was sie besaßen: dem eigenen Blut, dem eigenen biologischen
Körper." (Agamben 2001, 115) Mit dieser Analyse der Menschenrechte
und des modernen Nationalstaates vertieft Agamben auf beeindruckende
Weise eine These Michel Foucaults, die von vielen zeitgenössischen
Kommentatoren für schier unglaublich gehalten worden ist: daß alle
modernen Staaten strukturell rassistisch seien (Foucault 1999, 295f.).
Ein heilsames Korrektiv gegenüber den üblichen liberalen und linksnationalen
Tagträumereien ist auch Agambens These, daß der Flüchtling als zentrale
Figur unserer politischen Geschichte betrachtet werden muß (Agamben
2001, 29). Warum er aber gleichzeitig auch als derjenige betrachtet
werden soll, der, "indem er den Zusammenhang zwischen Mensch und
Bürger sprengt, als Randfigur zum entscheidenden Faktor der Krise
des modernen Nationalstaates wird" (Agamben 2001, 9), ist nach Agambens
eigenen Vorgaben völlig unklar. Genaugenommen ist die Existenz von
Flüchtlingen ja schon meistenteils das Ergebnis der gewaltsamen
Lösung der Krise eines bestimmten Nationalstaates und nicht deren
Auslöser. Wenn der Nationalstaat nicht aus seinem Inneren, von seinen
citizens, als Nationalstaat in Frage gestellt wird, wird
er weiterhin relativ ungestört seiner immanenten Säuberungslogik
nachgehen können. Die Chancen für diese Infragestellung sind dabei
derzeit als relativ gering einzuschätzen, betrachtet man die dominanten
Einheitsphantasmen von links bis rechts, die auch heutzutage noch
um den Begriff des "Volkes" kreisen.
Das Volk. Wie der Begriff der Menschenrechte, so ist auch
der Begriff des Volkes bei näherem Hinsehen durch eine tiefgreifende
Ambivalenz gekennzeichnet. Wie viele politische Grundbegriffe ist
"Volk" ein polarer Begriff, der ein komplexes Verhältnis zwischen
zwei Extremen anzeigt. Er bezeichnet einerseits die Gesamtheit der
Staatsbürger, die einen einheitlichen politischen Körper bilden,
andererseits dient er aber auch zur Bezeichnung der Angehörigen
der unteren Klassen. Der Begriff "Volk" oszilliert also immer zwischen
der Vorstellung eines Allgemeinen (das Staatsvolk, lat. populus)
und der Benennung eines partikularen oder aus dem Ganzen ausgeschlossenen
Elements (gemeines Volk, lat. plebs). Für Agamben ist dieser
linguistische Sachverhalt kein zufälliger: er verweist auf den fundamentalen
(bio)politischen Bruch, den das Volk immer schon in sich trägt,
auf die polare Struktur des Politischen selbst, das in zwei Reihen
gegliedert werden kann: auf der einen Seite die Reihe Staatsvolk
Einschließung politische Existenz bios,
auf der anderen Seite die Reihe gemeines Volk Ausschließung
nacktes Leben zoé. Dieser innere Bruch erklärt
die Paradoxien, die auftreten, wenn das Volk politisch als Volk
angerufen wird. Entweder ist das Volk das Ausgeschlossene, das,
um sein zu können, sich selbst und das Ganze, in dem es lebt, negieren
muß dies ist die traditionelle sozialrevolutionäre Option.
Oder aber es ist das Ganze, das immer-schon ist und sich trotzdem
realisieren muß, das, obwohl als reiner Ursprung vorgestellt, dennoch
fortwährend von dem gereinigt werden muß, was in ihm als Ausgeschlossenes
existiert dies ist die Perspektive des modernen Nationalstaates.
Armut und Ausschluß sind für Agamben daher nicht bloß ökonomische
oder soziale, sondern eminent politische, genauer gesagt: biopolitische
Begriffe. In Anschluß an Agamben und über seine eigenen Analysen
hinaus muß die traditionelle Ideologie und Praxis der sozialdemokratischen
Arbeiterbewegung daher als ein katastrophales Mißverständnis des
Einsatzes betrachtet werden, der auf dem Spiel stand und immer noch
steht. Alle moderne Politik nach der Erfindung des Nationalstaates
ist nämlich nach Agamben
"nichts anderes als der erbitterte und methodisch
durchgeführte Versuch, die Spaltung, die das Volk entzweit, dadurch
zu schließen, daß das Volk der Ausgeschlossenen radikal eliminiert
wird. Dieser Versuch verbindet, unterschiedlichen Modalitäten
und Horizonten gemäß, die Rechte und die Linke, kapitalistische
und sozialistische Länder miteinander, die in dem Projekt vereint
sind, ein einziges und ungeteiltes Volk hervorzubringen [...]."
(Agamben 2001, 38)
Indem die sozialdemokratische Arbeiterbewegung diese biopolitische
Logik von Armut und Ausschluß nicht erkannte, hat sich ihre Politik
im wesentlichen darauf beschränkt, für sich selbst den Status von
gleichberechtigten Staatsbürgern zu erkämpfen. Sie hat dies aber
nur erreichen können, indem sie sich entschlossen von all jenen
Klassen und Schichten distanzierte, die noch ärmer und schutzloser
waren als sie selbst. Der Ausschluß dieser Klassen und Schichten
vom politischen und gesellschaftlichen Leben hat sie nie besonders
gestört; sie ist in ihrer Gleichgültigkeit von Lasalle und sogar
von Marx bestärkt worden. Durch diesen von blindem Eigeninteresse
und industrialistischer Ideologie motivierten Ausgrenzungsprozeß
innerhalb der arbeitenden Bevölkerung selbst haben die Organisationen
der Arbeiterbewegung mit dazu beigetragen, daß die ärmeren Klassen
schutzlos den Apparaten der sozialen Eugenik der demokratischen
und danach der totalitären Gesellschaften ausgeliefert waren. Da
die heutigen Gewerkschaften trotz aller bedrückenden Erfahrungen
immer noch in gleicher Weise in den Ein- und Ausgrenzungslogiken
des Nationalstaates gefangen sind wie ihre Vorläufer, kann nicht
davon ausgegangen werden, daß, sollte es zu einem erneuten Einbruch
der Vernichtungslogik des modernen Nationalstaates kommen, sie dem
einen größeren Widerstand entgegensetzen werden als 1933 und danach.
Die Polizei/Das Lager. Ein zweiter Aspekt der Biopolitik,
der bisher noch nicht erwähnt wurde, ist wesentlich älter als die
Sorge des modernen Nationalstaates um die ethnische und politische
Einheit seiner Bürger. Zur Biopolitik rechnet Agamben hier
klar im Gegensatz zu Foucault nämlich auch die Macht des
Souveräns über Leben und Tod, die er bis zur altrömischen vitae
necisque potestas, der absoluten Macht des Vaters über Leben
und Tod des Sohnes, zurückverfolgt. Die modernste Form dieser souveränen
Macht über Leben und Tod, deren Geschichte hier nicht erzählt werden
kann, ist für Agamben die Polizei. Und dies nicht nur, weil die
Polizei in einer Art exzentrischen Position zu der Rechtsordnung
steht, die sie schützt oder zu schützen vorgibt, da sich in ihr
wie beim traditionellen Souverän Recht und Gewalt
unterschiedslos verschränken. Sie ist vor allem deshalb die eigentliche
souveräne Macht, weil sie aufgrund ihrer Ordnungsfunktion Zonen
schafft, die Ausnahmeräume in der Rechtsordnung darstellen,
Räume, in denen das Gesetz zeitweilig oder auf Dauer suspendiert
ist. Einen solchen Raum bezeichnet Agamben als Lager.
Diese Wortwahl ist nicht polemisch. Agamben erinnert in diesem
Zusammenhang an die bekannte Tatsache, daß die Wannsee-Konferenz
von 1942, in der die Vernichtung der europäischen Juden beschlossen
wurde, eine reine Polizistenversammlung war und die "Endlösung"
von Anfang bis Ende eine reine Polizeioperation. Diese hatte zwei
politisch-juristische Voraussetzungen: zum einen die Nürnberger
Gesetze, durch die der jüdische Bevölkerungsteil im Deutschen Reich
entrechtet und auf sein nacktes Leben reduziert wurde; zum anderen
die Existenz eines Raumes, in dem der Ausnahmezustand herrschte,
d. h. in dem schlichtweg alles möglich war, weil kein hinderndes
Gesetz existierte. Wann immer diese beiden Voraussetzungen
die Materialisierung des Ausnahmezustands an einem bestimmten Ort
und die Anwesenheit von homines sacri gegeben sind,
existiert ein Lager. In diesem Sinne sind beispielsweise das Wintervelodrom
in Vichy zur Zeit des Zweiten Weltkriegs, das Stadion von Bali 1991
und das Hotel Arcades in Paris-Roissy "Lager" (Agamben 2001, 46f.).
Damit soll nicht behauptet werden, daß das, was beispielsweise in
einem beliebigen Abschiebelager in der Nähe eines europäischen Flughafens
geschieht, kurzerhand mit der industriellen Massenvernichtung von
Menschen gleichgesetzt werden kann. Und dennoch: auch in diesem
Abschiebelager ist zumindest potentiell alles möglich.
Es handelt sich nämlich um einen Ort,
"in dem die normale Ordnung de facto aufgehoben
ist und wo es nicht vom Gesetz abhängt, ob dort Greueltaten begangen
werden oder nicht, sondern einzig vom Anstand und dem ethischen
Verständnis der Polizei, die vorläufig als Souverän agiert [...].
(Agamben 2001, 47)
Daher zieht Agamben unserer Meinung nach historisch korrekt
eine direkte Verbindungslinie zwischen den Internierungslagern
der Weimarer Republik von 1923 und den Vernichtungslagern der Nazis.
In einer katastrophischen Perspektive ist es analog möglich, die
heutigen Abschiebelager als Vorboten eines weit Entsetzlicheren
zu sehen. Die Gefahr jene zukünftige für uns alle,
nicht die alltägliche Gefahr für diejenigen, die der Einsperrung
in diese Lager jetzt ausgeliefert sind besteht dabei
nicht so sehr darin, daß die Vervielfältigung dieser Lager in Europa
eine Kette von schwarzen Löchern bildet, die die bestehenden Rechtsordnungen
zunehmend perforiert. Die wirkliche Gefahr besteht darin, daß das
Lager für den modernen Nationalstaat möglicherweise ein unverzichtbares
Instrumentarium darstellt, um seine anhaltende Krise zu lösen, indem
er das biologische Leben der Nation seinem direkten Aufgabenbereich
unterstellt. Das Lager stellt in dieser Logik eine stabile Raumordnung
dar, in der alle versammelt werden können, die von seinem politischen
System nicht mehr repräsentiert werden können:
"[D]as Lager ist der neue, versteckte Regulator
der Einschreibung des Lebens in die Ordnung oder vielmehr
das Zeichen, daß das System unmöglich funktionieren kann, ohne sich
in eine tödliche Maschinerie zu verwandeln. [...] Der Ausnahmezustand,
der wesentlich eine zeitweilige Aufhebung der Ordnung war, wird
nun eine neue und stabile Raumordnung, in der jenes bloße Leben
wohnt, das sich immer weniger in die Ordnung einschreiben läßt.
Die zunehmende Auflösung des Zusammenhangs zwischen Geburt (dem
bloßen Leben) und Nationalstaat ist die neue Tatsache der Politik
in unserer Zeit, und das, was wir "Lager" nennen, ist dieser Bruch."
(Agamben 2001, 48)
Questions de méthode. Zum Schluß meines Vortrags möchte ich
das eben präsentierte Szenario Agambens mit einigen Fragezeichen
versehen. Das grundsätzliche Problem, das dieser Ansatz besitzt
und das er im übrigen mit den Ansätzen der Kritischen Theorie teilt,
ist, daß er nicht nur eine Analyse der Funktionslogik der modernen
Macht präsentiert, sondern diese Funktionslogik so perspektiviert,
als ob ihre Durchsetzung völlig störungsfrei verlaufen sei und sie
sich bis in alle Ewigkeit bruchlos reproduzieren könne. Daher ist
dieser Ansatz durch einen eher globalisierenden Zugriff auf die
Geschichte und die Kämpfe um Befreiung gekennzeichnet. Wenn Agamben
die moderne Biopolitik nicht nur an die Geburt des modernen Nationalstaates,
sondern gleichzeitig auch noch an die Geschichte der Souveränität
bindet, so erweckt dies insgesamt den Eindruck eines statischen
Immergleichen der Macht, die nur ab und zu, man weiß nicht, warum,
ihre Verfahrensmodalitäten ändert. Kann also Agambens Theorie der
Biopolitik erklären, welche historischen Voraussetzungen zu den
Vernichtungslagern geführt haben, so ist sie andererseits unfähig,
zu erklären, warum die europäischen Totalitarismen nicht nur gestoppt
worden sind im Falle der Sowjetunion sogar von innen her
, sondern auch, warum die ihnen zugrundeliegende Vernichtungslogik
in Europa für Jahrzehnte nicht fortgeführt wurde. Das gleiche gilt
auch für die Frage, warum eigentlich in Europa jemals die königliche
durch die nationale Souveränität ersetzt wurde, warum also der europäische
Nationalstaat überhaupt geboren worden ist. Völlig aus dem Blickfeld
fallen auch diejenigen gesellschaftlichen Kämpfe, in denen es über
Anerkennungs- und Verteilungskämpfe im Nationalstaat hinaus um eine
neue Art der Gemeinschaft jenseits des Nationalen ging was
immerhin einen Zyklus von Kämpfen umfaßt, der bis zum Ende des Ersten
Weltkriegs zurückreicht. Ebenfalls fällt damit auch das Scheitern
dieser Kämpfe aus der Analyse heraus, und damit eine mögliche weitere
Voraussetzung für die in Rede stehenden Katastrophen. Diese Kritikpunkte
sollten nicht als Einladung zu einem falschen Geschichtsoptimismus
verstanden werden. Die Theorie Agambens ist insofern unverzichtbar,
als sie uns daran erinnert, daß die Potentiale der Vernichtung heutzutage
genauso schwindelerregend hoch sind wie die Potentiale der Befreiung.
Es sollte jedoch stets vergegenwärtigt werden, daß die Geschichte
immer und zu jeder Zeit offen ist auch wenn die Philosophen
versucht sind, das Gegenteil zu behaupten. em zum 100. Todestag
von Nietzsche erschienenen Artikel Blonde Bestie umarmt Droschkengaul
von Gerhard Scheit spricht dieser gar davon, daß "Nietzsche den
Begriff der Rasse [ästhetisiert], um ihn zur Mobilisierung im nationalen
Sinne zuzurichten"4, und stellt fest, daß "Nietzsches
Philosophie vom Ekel vor den Juden gekennzeichnet"5 sei.
(Warum also Nietzsche die Antisemiten dann attackiert, wie Scheit
selbst bemerkt, stellt sich ihm noch nicht einmal als Frage.)
2. Empire, Multitude, immaterielle Arbeit Über aktuelle Perspektiven
der Befreiung bei Antonio Negri (Michael Heister)
Intro: die neue Topographie der Macht
Entwirft Agamben ein Bedrohungsszenario, das uns ausgehend von der
Figur des Flüchtlings im herrschenden Ausnahmezustand reduziert
auf das nackte Leben eindrucksvoll die Schattenseiten moderner
politischer Ordnung vorführt, insistiert Negri auf die schöpferische
Kraft des Lebens als Widerstandspol gegen die Bio-Macht.
Ausgangspunkt seiner Untersuchung bilden die sozialen
Kämpfe als Motor der Geschichte gegen die Strukturen der Macht.
Einen großen Einschnitt stellen für Negri die Ereignisse von 1968
dar, die zu einer grundlegenden Transformation der sozialen Ordnung
beigetragen haben. Es sind die neuen sozialen Bewegungen, die aus
den starren Grenzen fliehen, die sie gefangenhalten. Die Ablehnungen
der repetitiven Fabrikarbeit, der Medikamentalisierung von Krankheitserscheinungen,
der heterosexuellen Regulierung der Libido, der Instrumentalisierung
der Natur, der ökonomischen Ausbeutung und Unterdrückung der Bevölkerung
in der sogenannten Dritten Welt produzieren einen regelrechten Exodus,
eine Fluchtbewegung, die zu einer Krise der sozialen Institutionen
führt. Walls come tumbling down.
Dieses Begehren, oder besser gesagt: Aufbegehren gegen
die Einschließungsmilieus der Disziplinarinstitutionen: Fabrik,
Krankenhäuser, Schule, Ehe etc. bringt den Wunsch nach einer anderen
Form zu leben, nach einer anderen Lebensform mit sich: nach einer
selbstbestimmten Tätigkeit, nach einer anderen Medizin, nach einer
befreiten sexuellen Ökonomie, nach einer Respektierung der äußeren
Natur, nach einer Anerkennung des Anderen etc.
Die Reaktion der Macht auf diese neuen sozialen Bewegungen
begreift Negri im Anschluß an Foucault und Deleuze als Übergang
von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft (vgl. Negri/Hardt
2002, 37ff). Die Macht, verstanden als Bio-Macht, als Zugriff auf
das Leben selbst, kann die Einschließungsmilieus körperlicher Disziplinierung
in der alten Form nicht mehr aufrechterhalten. Auf die Fluchtlinien
der Bewegungen antwortet sie mit der Ausweitung ihrer Macht über
die Orte sozialer Institutionen hinaus und etabliert so ein flexibles
Netzwerk der Kontrolle, das sich zwischen den Institutionen aufspannt
und diese "horizontalisiert": die Verdrängung der Fabrik durch flexible
dezentrale Unternehmen, der Schule durch unterschiedliche Formen
der Weiterbildung und Qualifizierung, des Krankenhauses durch mobile
Sozialdienste, der Ehe durch die Anerkennung alternativer Partnerschaften
etc. In der Kontrollgesellschaft sind es keine abgeschlossenen Gebilde
mehr, die das Individuum nacheinander durchläuft, vielmehr wird
es parallel und gleichzeitig zur effizienten Ausnutzung seiner unterschiedlichen
subjektiven Kapazitäten angehalten (vgl. Deleuze 1993).
Die alten, den individuellen Körper normierenden Disziplinarmechanismen
werden dadurch nicht abgeschafft, sondern werden über deren ursprüngliche
Verortung hinaus verallgemeinert und intensiviert. Diese sich bildenden
Netzwerke der Kontrolle tendieren dahin, überall und nirgends zu
sein; die Regulierung menschlichen Lebens wird zusehends verinnerlicht:
ich muß nicht in die Schule gehen, um zu wissen, daß ich mich ständig
weiterbilden muß (Stichwort: lebenslanges Lernen); ich muß nicht
auf die Arbeit, um zu wissen, daß ich mich unternehmerisch betätigen
muß; ich muß nicht erst ins Krankenhaus eingeliefert werden, um
zu wissen, daß ich mich fit und gesund halten muß. In der Kontrollgesellschaft
wird der Ort der Macht brüchig, die Netzwerke der Kontrolle sind
nicht starr und fest, sie modulieren flexibel die individuellen
und kollektiven Bewegungen, ihre Struktur ist nicht vorgegeben,
sie kann sich den Bewegungen anpassen. Diesen Nicht-Ort der Macht
und der damit verbundenen Verflachung des gesellschaftlichen Gebäudes
beschreibt Negri folgendermaßen: "die Topographie der Macht hängt
in erster Linie nicht länger an räumlichen Verhältnissen, sondern
sie ist den zeitlichen Verschiebungen der Subjektivitäten
eingeschrieben." (Negri/Hardt 2002, 329)
Was hat das genau zu bedeuten: Einschreibung von Subjektivitäten
ins Kontrollregime? Um das ganze Gewicht dieser neuen Herrschaftsform
für die Modifizierung der räumlichen Anordnung herauszustreichen,
müssen wir den Blick nun auf die Transformation der Produktions-
und Reproduktionsverhältnisse seit dem gesellschaftlichen Bruch
von 68 lenken, auf das Ende der Industriegesellschaft und dem Beginn
dessen, was gemeinhin als Informations-, Wissens- oder Dienstleistungsgesellschaft
beschrieben wird. Die neuen sozialen Bewegungen haben den Zusammenbruch
eines Gesellschaftsmodells herbeigeführt, das im Fabrikarbeiter
sein produktives und in der Kernfamilie sein reproduktives Zentrum
fand und das seinen sozialen, auf den Nationalstaat hin orientierten
Zusammenhalt auf die Produktion materieller Güter gründete. In ihrem
Begehren nach anderen Formen des Zusammenlebens, nach anderen Lebensformen,
lassen die sozialen Bewegungen durch ihre Fähigkeit zur Kooperation,
Wissen, Bedürfnisse und Subjektivitäten zirkulieren und stellen
damit den gesellschaftlichen Zusammenhang unmittelbar her. Es ist
diese Produktion der menschlichen Reproduktion selbst, der menschlichen
Gattung insgesamt, diese schöpferische Kraft von unten, die Negri
als Biopolitik bezeichnet: eine neue Form der Vergesellschaftung,
die nicht mehr auf der industriellen Produktion materieller Güter
basiert, sondern auf der Befriedigung immaterieller Bedürfnisse.
Diese Kraft der immateriellen Produktion hat keinen festen Ort,
sondern kann sich im gesellschaftlichen Gefüge überall herstellen;
und diese biopolitische Energie, diese Hervorbringung von neuen
Subjektivitäten, muß die Bio-Macht im Zaum halten, muß sie absorbieren,
anreizen und ausbeuten, kurz: muß sie in ihren Kontrollapparat einschreiben.
Die Ausbeutungsverhältnisse verschieben sich damit von der unmittelbaren
ökonomischen Sphäre auf das gesellschaftliche Terrain.
Nach dieser ersten Annäherung müssen wir uns die Kategorien
näher anschauen, die Negri für die Beschreibung unserer sozialen
Wirklichkeit einsetzt: Empire als Beschreibung für die neue
Logik und Struktur der Bio-Macht, Multitude als Name für
das biopolitische Subjekt und immaterielle Arbeit als Ausdruck
seiner Produktionsmittel.
Empire: die neue Gestalt globaler politischer Herrschaft
Mit der Kategorie Empire versucht Negri die neuen globalen
Herrschaftsverhältnisse, die "neue globale Form der Souveränität"
(Negri/Hardt 2002, 11) zu fassen. Empire markiert damit die Verschiebung
der Souveränität von den Nationalstaaten zu einer koordinierenden
Ordnung zwischen nationalen und supranationalen Organisationen (vgl.
Negri 2003a, 72). Der Nationalstaat ist nämlich immer weniger in
der Lage, die globalen Austauschverhältnisse: die Kapital- und Geldflüsse,
die biopolitischen Ströme, die Wissenstransfers etc. zu regulieren.
Das Empire stellt als neues Kontrollregime der Bio-Macht eine Antwort
auf das Schwinden nationalstaatlicher Ordnungsfunktion dar. Etabliert
der Nationalstaat feste territoriale Grenzziehungen zwischen einem
Innen und einem Außen, konstituiert sich das Empire als eine schrankenlose,
sukzessiv den ganzen Globus einverleibende Souveränitätsmaschine
ohne territoriales Zentrum, eine Maschine, die Ordnung durch Netzwerke
herstellt, die flexibel auf veränderte Verhältnisse reagieren und
dementsprechend ihre interne Organisation variabel anpassen können.
Zur Kontrolle globaler Ströme, zur Aufrechterhaltung
der imperialen globalen Ordnung, konstituieren sich innerhalb der
Kanäle und Verzweigungen im Netzwerk des Empire Rechte und Normen.
Rekurrierend auf Carl Schmitt, daß sich die Bildung der Rechtsregeln
nur ausgehend vom Ausnahmezustand verstehen läßt, verweist Negri
auf zwei grundsätzliche Mechanismen: die Definitionsmacht über eine
Ausnahmesituation und die Erzeugung von Zustimmung zur Intervention
einerseits; und die Fähigkeit, die richtigen Mittel einzusetzen,
um die Stabilität gesellschaftlicher Ordnung wiederherzustellen
andererseits. Konkret werden diese repressiven und präventiven Einsätze
des Empire unter Berufung auf universelle Werte wie Gerechtigkeit
und Frieden legitimiert. Moralische und militärische Intervention,
rhetorische und Waffengewalt gehen Hand in Hand bei der Bekämpfung
drohender Gefahren für die souveräne Macht des Empire. Gefahren,
die im Empire an allen Ecken und Enden auftreten: allgegenwärtige
Krisensituationen schaffen einen permanenten Notstand, einen Ausnahmezustand,
der zur Regel geworden ist. Die neue Form des Rechts im Empire ist
Interventionsrecht, ein Recht auf Einmischung, das sich daran messen
lassen muß, wie effektiv seine Manöver ausfallen (vgl. Negri/Hardt
2002, 32ff.; zur postmodernen Struktur des Rechts: Negri/Hardt 1997,
70-124).
Der Krieg der alten Ordnung, in denen sich Armeen von
Nationalstaaten gegenüberstanden, wird im Empire zunehmend von den
vielen kleinen Kriegen und Konflikten, Aufständen und Brandherden
abgelöst, deren Bekämpfung eher den Charakter von Polizeiaktionen
annimmt.
Negri unterscheidet nun eine dreistufige Pyramide imperialer
Macht, um die Akteure und ihre Instrumente zu bestimmen, die die
Netzwerkmacht des Empire am Laufen halten und ihm eine Konstanz
und Rationalität verleihen. An der Spitze befinden sich die USA
und die UNO, die mit ihren Streitkräften über das Gewaltmonopol
verfügen. Der Mittelbau wird von den Nationalstaaten, den transnationalen
Konzernen, IWF und Weltbank repräsentiert, die mit dem Geld, der
Einrichtung eines monetären Regimes, die Waren- und Menschenströme
lenken. Die Basis dieser Pyramide stellen die verschiedenen Arten
der NGOs und die Medien dar, die über die Kommunikationskanäle Meinungen
und Belange der Menschen bündeln und erzeugen (vgl. Negri/Hardt
2002, 320ff, 349ff). Besonders interessieren Negri unter den NGOs
die Menschenrechtsorganisationen und die medizinischen und die Hungerhilfsorganisationen,
die von vielen als neue demokratische Repräsentanten, als herrschaftskritisches
Gegengewicht zur politischen Macht begriffen und in die dementsprechend
große Hoffnungen investiert werden. Demgegenüber ordnet Negri sie
in den imperialen biopolitischen Kontext ein. Zur Verteidigung von
Menschenrechten und universellen Bedürfnissen lenken diese NGOs
ihren Fokus auf das entbehrungsreiche Leben der Elenden, auf den
Mangel an Nahrung, Unterkunft und Bekleidung. Indem sie diese Mißstände
lediglich mit einer moralischen Kritik verknüpfen, produzieren sie
einen Ausnahmezustand von unten, einen Notstand an Lebensnotwendigem,
und liefern sie damit der paternalistischen Intervention, dem Armuts-
und Elendsmanagement der Bio-Macht aus (vgl. Negri/Hardt 2002, 50ff.,
324). Die Betroffenen müssten hier mit politischen Rechten ausgestattet
werden, damit und das lehrt uns Agamben der Ausnahmezustand
angehalten werden kann.
Bevor das Empire als ein monolithischer Block erscheint,
als ein in sich geschlossenes bzw. abgeschlossenes System, muß auf
zweierlei hingewiesen werden. Erstens gibt es ständig interne Machtkämpfe
über die Art und Weise der Regulierung menschlicher Ströme, Auseinandersetzungen
zwischen den Akteuren über die Form der Bio-Macht, was zu internen
Positionsverschiebungen führt, zu einer ständigen Neuzusammensetzung
im Netzwerk des Kontrollregimes (vgl. Negri 2001). Zweitens ist
das Empire auf die schöpferische Kraft, die allgemeine gesellschaftliche
Fähigkeit der Menschen, zu produzieren, angewiesen. Sie sind der
Motor der Produktion des gesellschaftlichen Reichtums und sind diesem
vorgeschaltet. Das Empire wird getrieben, es kann nur reagieren:
the Empire strikes back. Dabei muß es aber ständig den Drahtseilakt
vollziehen, diese Produktivkraft zu fördern, um sie auszubeuten;
muß aber andererseits durch Kontrolle und neue Spaltungen verhindern,
daß sich die biopolitischen Kräfte vermischen und gegen das Empire
vorgehen. Empire, so Negri, ist ein Parasit, ein Vampir, der sein
Leben und Überleben einzig sichern kann, indem er die Energiequelle
gesellschaftlicher Arbeit anzapft und sich ihren produzierten Reichtum
aneignet. Die Herrschaft der Bio-Macht steht auf wackligen Füßen
und droht ständig von der Biopolitik von unten zerstört zu werden.
Hier sehen wir deutlich die Verschiebung, die Negri
am Bio-Macht-Konzept Foucaults vornimmt: die biopolitische Produktion
verortet er nicht in der Bio-Macht, sondern in einer davon abgekoppelten
Sphäre der menschlichen Kooperation.
Empire gegen Multitude. Wir kommen nun zum Begriff der
Multitude als Subjekt der Befreiung.
Multitude: das biopolitische Subjekt der Befreiung
Negri verleiht dem Begriff Multitude drei Bedeutungshorizonte: erstens
eine philosophische Bestimmung als eine Vielheit von Subjekten,
oder besser: einer Vielfalt bzw. einem Ensemble von Subjektivitäten;
zweitens ein Klassenkonzept: die Multitude als Klasse der immateriellen
Arbeit; und drittens ein politischer Begriff: die Multitude als
demokratische Potenz, als schöpferische Kraft einer gesellschaftlichen
Organisierung eines Gemeinsamen, eines Communen: die ontologische
Dimension als Produktion des Seins (vgl. Negri 2004, 18; 2003a,
127f; 2003b, 61; 2003c). Darauf möchte ich nun im Einzelnen kurz
eingehen.
Die philosophische Stoßrichtung verweist erstens ganz
positiv auf das Faktum, daß eine Vielfalt von Subjektivitäten existiert,
eine Zirkulation von Wünschen, Bedürfnissen, Vermögen, Ansprüchen
etc. und daß diese Vielheit irreduzibel ist. Demzufolge markiert
Multitude "eine Kampfansage an den Reduktionismus, an die Tendenz,
alles auf eine Einheit zurückzuführen, diese permanente Versuchung,
die seit der klassischen Metaphysik das Denken vergiftet" (Negri
2003a, 127). Die Pointe dabei ist, daß Negri hier mit dem Begriff
der Multitude ein détournement eine Aneignung eines
Begriffs, der gegen seine ursprüngliche Bedeutung umgedeutet und
positiv besetzt wird vollzieht: Multitude war ein negativer,
pejorativer Begriff, ein Hobbesscher Terminus, der das Leben der
Menschen in einer vor-sozialen Welt bezeichnet und die, um sie zu
beherrschen und regieren, als politische Subjekte, beispielsweise
als Volk, konstituiert werden mussten (vgl. Negri 1998, 28).
Mit der Neuzusammensetzung sozialer Klassen thematisiert
Negri zweitens die ökonomische Transformation von der modernen zur
postmodernen Ökonomie, von einer Produktionsweise, die im wesentlichen
durch die Produktion materieller Güter geprägt war, zu einer Produktionsweise,
die ihre Vergesellschaftung zunehmend über produzierte Dienstleistungen
und soziale Beziehungen regelt. Die Multitude ist die nicht-homogene
soziale Klasse, deren immaterielle Arbeit diese ökonomische Veränderung
induziert hat. Negri unterscheidet dabei drei Aspekte immaterieller
Arbeit. Die kommunikative Arbeit in der industriellen Produktion
verweist auf deren Informatisierung, die die zentralistisch organisierte
Fabrik sukzessive durch das dezentralisierte Netzwerk-Unternehmen
ersetzt, den dirigistischen Produktionsplan durch die just-in-time-Produktion,
das Fließband durch Teamwork und Computer. Die symbolisch-analytische
Arbeit rekurriert auf die Erkennung und Lösung von Problemen mittels
Umgang mit Symbolen und reicht beispielsweise von dem Manager, der
bei der strategischen Unternehmensausrichtung die Zeichen der Zeit
interpretieren muß, bis hin zur routinisierten Arbeit eines Datentypisten.
Die affektive Arbeit bezieht sich auf die Produktion zwischen-menschlicher
Beziehungen und interaktiver Bindungen und ist beispielsweise im
Gesundheitswesen oder in der Unterhaltungsindustrie anzutreffen
und gewinnt zusehends an Bedeutung (vgl. Negri/Hardt 2002, 300ff.).
Und obwohl die Wirkung affektiver Arbeit unmittelbar somatischer
Natur ist, bleiben "ihre Produkte unkörperlich und nicht greifbar
(...): ein Gefühl des Behagens, Wohlergehen, Befriedigung, Erregung
oder Leidenschaft." (Negri/Hardt 2002, 304)
Diesen drei Typen immaterieller Arbeit ist die Dimension
wissenschaftlicher und sozialer Kommunikation und Kooperation vollkommen
immanent. Sie wird ihnen nicht von außen aufgezwungen wie zu industriellen
bzw. fordistischen Zeiten, als der Kapitalist über die Produktionsmittel
als fixes Kapital verfügte und diesem die Arbeiter nach Gutdünken
als variables Kapital zuordnen und damit den Produktionsprozess
durchdringen und organisieren konnte (vgl. Negri/Hardt 2002, 305).
Durch die Verwissenschaftlichung des industriellen Produktionsprozesses
emanzipiert sich der Arbeiter von der Maschinerie der Produktionsmittel,
bleibt nicht mehr ihr Anhängsel, sondern inkorporiert sich die produktiven
Werkzeuge: Wissen, technologisches Know?How, soziale Kompetenz.
Das Gehirn und der Computer werden zum grundlegenden Produktionsmittel
postfordistischer Ökonomie, die Produktionsverhältnisse verlieren
damit ihre Verortung und werden nomadisch. Es bildet sich eine Massenintellektualität
aus ein Ausdruck, mit dem sich Negri auf das Marxsche Konzept
des "General Intellect" bezieht , die die engen Grenzen industrieller
Produktion überschreitet und zur Grundlage der Produktion und Reproduktion
des menschlichen Lebens selbst wird. Die immaterielle Arbeit ist
die gesellschaftliche, lebendige Arbeit; die Multitude ist die Produktivkraft
im kapitalistischen Empire der Bio-Macht (vgl. Negri 1998, S. 22).
Mit der dritten Bedeutung von Multitude verweist Negri
auf die demokratische und ontologische Potenz menschlicher Kooperation:
"Indem sie ihre eigenen schöpferischen Energien ausdrückt, stellt
die immaterielle Arbeit das Potenzial für eine Art des spontanen
und elementaren Kommunismus bereit." (Negri/Hardt 2002, S. 305)
Das schöpferische Vermögen der Multitude ist die Virtualität einer
konstituierenden Macht, die im Kampf oder besser: in den biopolitischen
Kämpfen gegen das Empire zu einer anderen Form gesellschaftlichen
Zusammenlebens führt, von Negri als das Gemeinsame, das Commune
bezeichnet. Das ist die Multitude in ihrer ontologischen Dimension:
als Produzentin des menschlichen Seins selbst.
Aussichten: Biopolitik und Demokratie
Bevor wir uns mit der Frage der politischen Organisierung eines
Gemeinsamen auseinandersetzen, müssen wir sozusagen als deren
Bedingung der Möglichkeit das Verhältnis zwischen Multitude
und Empire, zwischen Subjekt(en) und Strukturen explizieren. Hierbei
werden wir auch feststellen, von welchen, heute gängigen Erklärungsmustern
sozialer Wirklichkeit und politischer Praxis Negri sich distanziert.
Diese Beziehung zwischen Subjekt(en) und Strukturen
ist bei Negri eine der Immanenz. Wir haben es hier nicht mit zwei
isolierten Instanzen zu tun, die erst nachträglich aufeinander einwirken.
Negri macht sich die poststrukturalistische Einsicht zu eigen, die
die Konstitution des Subjekts in die Machtentfaltung von Herrschaftssystemen
einschreibt. Subjektivitäten, also Haltungen, Meinungen, Gefühle,
Ansichten, Gesten etc. sind nicht Ausfluss eines autonomen Subjekts,
sondern immer auch ein Produkt sozialer Machtverhältnisse. Jede
Dialektik zwischen einem Innen und einem Außen scheidet aus, so
daß wir uns auch endgültig von der Illusion eines Bereichs verabschieden
sollten, in denen die Macht noch nicht vorgedrungen ist, und der
aus diesem Grund einen Stützpunkt der Befreiung bieten könnte. Obwohl
überall, ist Macht aber nicht total; sie stößt auf Wiederstand,
auf eine lebendige Kraftlinie, eine Fähigkeit, Macht umzukehren
und umzulenken und andere Zusammenhänge, andere Verkettungen und
Vermischungen von Subjektivitäten zu erzeugen: eine schöpferische
Kraft ohne äußere Ursache, eine Tat ohne Täter. Das manifestiert
die politische Potenz der Multitude: die von der Macht nicht zu
vereinheitlichende Vielfalt kämpfender Singularitäten. Singularität,
das ist Negris Gegenbegriff zum Subjekt. Die kreative Praxis der
Singularitäten läßt sich somit nicht auf objektive strukturelle
Bedingungen zurückführen, sondern zielt gerade darauf, "das Neue
innerhalb des Mangels jeder Bedingung zu denken" (Negri 1996, 56).
Man kann dies im Anschluss an Ernesto Laclau als einen ursprünglichen
Mangel bezeichnen: das Fehlen einer objektiven Grundlage des Sozialen,
von der aus die Rationalität der sozialen Struktur in ihrer Totalität
erkennbar und damit politisches Handeln vorgezeichnet wäre (vgl.
Laclau 1996); Negri bestimmt die gesellschaftlichen Phänomene nicht
aus einer derartigen Logik sozialer Totalität. Er verabschiedet
sich bewußt von einer Vorstellung wie sie beispielsweise im Basis-Überbau-Modell
marxistischer Theorie oder in deren neomarxistischen Varianten vorliegt,
die als Fundament und Fokus ihrer Analyse die ökonomischen Produktionsverhältnisse
stellen. Man sollte Negri auf keinen Fall in das enge Korsett einer
kritischen Theorie der Gesellschaft einspannen. Er ist kein Gesellschaftstheoretiker,
sondern ein Kommunist, der aus den Kämpfen der Subjekte gegen alle
Formen der Ausbeutung Perspektiven der Befreiung entwickelt.
Es ist aus meiner Sicht ein großes Verdienst Negris,
mit der Multitude, und hier insbesondere mit der Kategorie der immateriellen
Arbeit, ein Instrumentarium herausgearbeitet zu haben, mit dem widerständige
Praktiken auf der Höhe der Zeit in ihrer ontologischen Dimension
als Produzentin des gesellschaftlichen Zusammenhangs, als Produzentin
von Lebensformen in den Blick kommen. Nun scheint Negri jedoch über
das Ziel hinausgeschossen zu sein: das Leben machen von unten, die
Biopolitik von unten entkoppelt er von den Machtstrukturen des Empires
und behauptet so die Autonomie der Multitude was seinem Begriff
der Singularitäten widerspricht, der ein Verhältnis zur Macht aufrechterhält
(vgl. Diefenbach 2003). Das Empire ist aber nicht nur eine repressive
Maschine des Raubes, ihre Kontrolltechniken erschöpfen sich nicht
in der Funktion der Unterbrechung und Neuzusammensetzung von Subjektivitäten,
vielmehr sind sie auch an der Produktion von Subjektivitäten beteiligt.
Und auch eine mögliche Beseitigung ihrer Herrschaft führt nicht
zu einer Beseitigung von Machtverhältnissen innerhalb der Multitude,
zu ihrer Autonomie, zu ihrer freien Selbstbestimmung.
Foucault hat am Ende seines Lebens neben der archäologischen
und der genealogischen eine ethische Dimension freigelegt, mit der
er auf theoretischer Ebene eine Widerstandslinie entwirft. Es handelt
sich dabei um die Selbsttechniken, um die Bezugnahme eines Selbst
auf sich selbst, mit der die Kraft, die von den Machtstrukturen
auf die Subjekte wirkt, umgewandelt und in die Erzeugung neuer Subjektivitäten
umgelenkt wird. Meine erste These lautet daher: um das volle
Potenzial des Multitude-Konzepts als Widerstandspol auszuschöpfen,
muss es sich von der Vorstellung der Autonomie lösen und den Begriff
der Singularität in den Vordergrund stellen und ihn der ethischen
Dimension Foucaults annähern.
Nach dem Verhältnis zwischen Multitude und Empire müssen
wir uns jetzt dem zwischen Multitude und dem Gemeinsamen, also der
Frage nach den Kämpfen und der politischen Organisierung einer gesellschaftlichen
Alternative zum Empire zuwenden. Die Kämpfe und der Exodus immaterieller
Arbeit aus den Zwängen moderner Ordnung hat zu einer Globalisierung
der herrschenden politischen und ökonomischen Kräfte geführt, die
unumkehrbar ist. Eine gesellschaftliche Alternative zum Empire muß
deshalb jede reaktive Wendung in Richtung zum Lokalen und zum Protektionismus
vermeiden; sie darf sich auch nicht als Rettung des im Verfall begriffenen
Wohlfahrtsstaates darstellen. Diese Zeiten sind vorbei, und wie
Negri immer wieder zu Recht hervorhebt, sollte man ihnen auch nicht
nachtrauern: das Machtregime des Empire ist nicht schlechter als
sein Vorgänger, sondern enthält sogar größere Potentiale der Befreiung.
Die Alternative zum Empire muß sich auf dem imperialen Terrain selbst
abspielen und zwar als Schaffung gemeinsamer Vorstellungswelten,
wie sie die Kämpfe von Seattle, Porto Alegro oder Genua hervorgebracht
haben; Kämpfe um eine andere Form des Zusammenlebens, für andere
Lebensformen. In bewußter Absetzung zu identitären Konzepten wie
"die Gemeinschaft" und "die Gesellschaft von Besitzindividuen" wählt
Negri den Terminus "das Gemeinsame" oder "das Commune" als politische
Ausdrucksform der Multitude, als Bewegung der Bewegungen, "um die
neue Gestalt zu beschreiben, die der Prozess der Organisierung demokratischer
Subjekte angenommen hat, die in der Lage sind, sich politisch zu
artikulieren" (Negri 2004, 20). Die Bewegung der Bewegungen, die
Organisierung der Ströme des Lebendigen verortet Negri innerhalb
der Multitude. Sie stellt sich dar als "absolute(n) Demokratie in
Aktion" (Negri/Hardt 2002, 416), die sich als produktive Kooperation
in den Netzwerken der Multitude äußert. Mehr trägt Negri nun zu
der Frage der Organisation, der Hegemonisierung sozialer Kräfte
aber nicht bei; ein Kriterium, was die demokratischen Subjekte demokratisch
macht wird nicht gegeben, letzten Endes verweist Negri auf die Autonomie,
auf das selbstkonstituierende Vermögen der Multitude.
Ich möchte nun einige politische Programmpunkte Negris
ansprechen, die sich aus seinem Konzept der Multitude und der immateriellen
Arbeit ergeben und die auch in den globalen Widerstandsbewegungen
eingeschrieben sind. Diese lose formulierten Programmpunkte bringen
meiner Meinung nach Richtlinien ins Spiel, die sowohl die Produktion
des Gemeinsamen anleiten als auch von dieser Produktion ständig
modifiziert werden könnten.
Da wäre als erstes die Forderung nach einer Weltbürgerschaft,
die das Recht auf freie Mobilität und die vollen staatsbürgerlichen
Rechte für alle in einem Land Lebenden garantiert: eine Forderung,
wie sie beispielsweise von sans papiers oder kein mensch
ist illegal eingeklagt werden. Als zweiten Programmpunkt führt
Negri den sozialen Lohn an, ein für alle garantiertes gleiches Einkommen,
das der immateriellen Produktionsweise entspricht, daß nämlich alle
Menschen in kooperativer, symbolischer und affektiver Arbeit die
Reproduktion der Gattung sichern. Die dritte Forderung bezieht sich
auf die Wiederaneignung der Produktionsmittel, also den freien Zugang
und die Kontrolle über Wissen, Kommunikation und Affekte. Man denke
hier beispielsweise an die no copyright- oder die Open
Source-Bewegung (vgl. Negri/Hardt 2002, 403ff.).
Und wenn nach Negri die Multitude weder eine Rückkehr
zur Identität noch eine Verherrlichung der Differenz impliziert,
also eine demokratische Verkettung zwischen den Singularitäten verlangt,
dann lassen sich in den genannten drei Programmpunkten die ethisch-politischen
Werte von Freiheit und Gleichheit extrahieren, die die Organisierung
der Subjekte, das Gemeinsame regeln könnten. Kurz nennen möchte
ich in diesem Zusammenhang einen zweiten Ansatz, den wir in episteme
präsentieren, nämlich den von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe
(vgl. Laclau/Mouffe 2001), die auf Basis der demokratischen Prinzipien
von Freiheit und Gleichheit aus dem 18. Jahrhundert und ihren fortschreitenden
Artikulationen in den sozialen Kämpfen ihren radikaldemokratischen
Ansatz gründen.
Meine zweite These lautet daher: Negris Ansatz
einer unmittelbaren bzw. absoluten Demokratie muß erweitert werden
um die ethisch-politischen Prinzipien von Freiheit und Gleichheit,
die einen Abstand zwischen der Multitude und dem Gemeinsamen erzeugen
und damit eine Möglichkeit bereitstellen, die Verkettung der Subjekte
zu demokratisieren; man kann dann natürlich nicht mehr von einer
unmittelbaren Demokratie sprechen.
Die ganze Stärke der Kategorie immaterieller Arbeit
kann sich dann entfalten und zu einer enormen Vertiefung der demokratischen
Revolution führen, zu einer Radikalisierung der Grundsätze von Freiheit
und Gleichheit.
Es liegt noch viel Arbeit, viel immaterielle Arbeit
vor uns: Arbeit an demokratischen Formen des Zusammenlebens: Gemeinsam
Leben machen for a better tomorrow.
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