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Vom Ethos einer werdenden Menschheit
von Robert Zion
„Es gibt weder gut noch böse in der Natur, es gibt keine moralische Entgegensetzung,
sondern es gibt eine ethische Differenz. Diese Differenz ist diejenige der immanenten
Existenzweisen, die eingeschlossen sind in dem, was wir empfinden, tun,
denken.“1
Gilles Deleuze
Der vom Menschen verursachte Klimawandel kommt
schneller als prognostiziert und wird umwälzende Folgen nicht nur
für das globale Ökosystem, sondern auch für unsere politische Ordnungen
haben. Zugleich trifft dieser Klimawandel die Menschheit in einer
Entwicklungsphase, in der die demographischen Dynamiken in den reichen
Regionen der Nordhalbkugel und den armen Regionen des Südens in
genau entgegengesetzte Richtungen verlaufen und in der mit der Krise
der globalen Finanzmärkte das ökonomische Aussteuerungssystem des
globalen Kapitalismus einen Infarkt erlitten hat. Wieviele Bypässe
die Regierungen und globalen Verwaltungseinheiten nun auch national
oder international legen werden, wieviel Hunger und staatliche Instabilität
im Süden und an den Küstenregionen unseres Wasserplaneten auch eintreten
und wie dramatisch die Wanderungs- und Migrationsströme nun auch
immer ausfallen werden, eines scheint sicher: Wir müssen uns die
nächsten Jahre entscheiden, ob und wie wir auf diesem Globus weiterleben
wollen. Wir?
Das Gattungswesen Mensch, jenes von Nietzsche so genannte „nicht
festgestellte Thier“2 muß also sehr rasch und pragmatisch
ein Bewußtsein dafür entwickeln, daß es nun einen gemeinsamen
Menschheitsraum und Zeithorizont gibt, welche die
Handlungsmaximen und Werteorientierungen der bisherigen Völker,
Religionen und Staaten und ihre entsprechenden Raum- und Zeitorientierungen
(Territorium und Geschichte) überlagern, es muß buchstäblich
zur Menschheit werden. So etwas, ein derartiges Zum-Subjekt-seiner-selbst-Werden
der Menschheit, hat es im Übrigen noch nie gegeben. Es wäre aber
falsch, jetzt von einer Weltregierung, einer Weltreligion, einem
ökonomischen Weltsystem reden zu wollen, denn faktisch und unhintergehbar
leben wir in einer multipolaren Welt der Interessen- und Wertegegensätze
und der Ungleichzeitigkeiten. Entweder wir leben und überleben in
einer solchen Mannigfaltigkeit oder wir gehen darin unter.
Im Überleben oder Untergehen wird die Menschheit also eine gewesen
sein, die Frage aber, wie es dazu gekommen sein wird, wird in einer
faktischen, deterritorialisierten Mannigfaltigkeit und zudem in
einer Zeitform entschieden werden, die sich ebenso gegenüber dem
Mit-sich-selbst-identisch-Sein der Menschheit prinzipiell sperrt,
der der vollendeten Zukunft (zweite Zukunft, futurum exactum):
Bei dem in Frage stehenden Subjekt-Werden der Menschheit geht es
mit ihr um die vollendete Zukunft dessen, was diese für das gewesen
sein wird, das zu werden sie im Begriff steht.3
Die nun anstehende ethische Aufgabe ist es also nicht, das mit sich
identische Eine und dessen Zukunft zu denken und entsprechend zu
handeln, sondern das Viele im Werden, anders ausgedrückt: „Bis zur
Grenze dessen zu gehen, was man kann, ist die eigentlich ethische
Aufgabe.“4 Gefragt ist eine Ethik der Mannigfaltigkeit
und Asynchronität als radikal immanentes und affirmatives Handlungsprinzip.
Und gefragt ist eine Ethik, die vom Mitglied der untersten Kaste
in Indien ebenso verstanden und pragmatisch angewandt werden kann
wie vom Bankmanager in London, dem Bergarbeiter in China oder vom
Präsidenten der Vereinigten Staaten, von Frauen wie von Männern,
von Revolutionären wie von Reaktionären. Sie alle werden eben keine
Weltregierung, keine Weltreligion, kein ökonomisches Weltsystem
im Kantischen Sinne „stiften“ können, sie alle werden in der asynchronen
Mannigfaltigkeit überleben oder untergehen, insofern ihre partikularen
Interessen und Handlungen ihre konkreten Auswirkungen auf das haben,
was sie als eine werdende Menschheit gewesen sein werden. Einen
solchen Ethos der Mannigfaltigkeit, der zugleich der Ethos der werdenden
Menschheit werden muß, gibt es, er ist formuliert und er ist
abstrakt genug, um die Ebene wenn auch nicht des Universellen, so
doch die der Univozität (Bedeutungsgleichheit in allen gegebenen
Zusammenhängen und Begegnungen) zu erreichen: n-1.
n minus 1. Formuliert in einem der schwierigsten, aber auch zentralsten
philosophischen Werke des zwanzigsten Jahrhunderts, in Gilles Deleuzes
und Félix Guattaris Tausend Plateaus: „Das Mannigfaltige
muß gemacht werden, aber nicht dadurch, daß man
immer wieder eine höhere Dimension hinzufügt, sondern vielmehr schlicht
und einfach in allen Dimensionen, über die man verfügt, immer n-1
(das Eine ist nur dann ein Teil des Mannigfaltigen, wenn es davon
abgezogen wird).“5 Zunächst noch erscheint dieses ethische
Prinzip als Zumutung, ebenso wie einst Kants kategorischer Imperativ
als zu abstrakte Zumutung empfunden wurde. Es besagt nichts weniger,
als daß ich in meiner Einheit als Einzelner, als Staat, als
Religion, Volk oder ökonomischer Akteur mein Partikularinteresse,
sobald ich dessen gewahr werde, von allen anderen Interessen abziehen
muß. Denn Letztere bilden nicht einfach eine Summe, aus der
ein Gesamtinteresse hervorgeht, sondern eine wesentlich neue Qualität
(gemeinsam überleben oder untergehen), die sonst nicht Teil der
faktischen Mannigfaltigkeit werden kann.
Bisher beruhten unsere menschheitlichen religiösen, politischen
und ökonomischen Wertegemeinschaften auf Vorstellungen des Einen,
die die jeweiligen partikularen Weltbilder in hierarchischer und
hegemonialer Absicht zu universalisieren versuchten. In allen Dimensionen
der Begegnung untereinander religiöser, politischer und ökonomischer
Art herrschte so das Prinzip der Überwältigung des jeweils anderen
durch das eigene Universelle vor, das per se aber
nur ein Partikular-Universelles sein kann. In diesem Modus der Überwältigung
wurde bislang anhand unserer Projektionen von Gott, Staat und Markt
unser Bild vom Menschen als Rückprojektion geprägt und vielleicht
verstehen wir darum auch erst jetzt Nietzsches erratisch anmutende
Anmerkung zu Beginn unseres Zeitalters, daß eben dieser „Mensch
aber Etwas (ist), das überwunden werden muß“6, daß
die ewige Wiederkehr des Gleichen des Partikular-Universellen das
Werden der Menschheit als Mannigfaltigkeit bisher verhindert
hat.
Wenn wir also heute politisch von Multipolarität reden, dann sollten
wir nicht von alten und neuen Mächten wie den USA, China oder Indien
reden, für deren partikular-universelle Hegemonien und Geschichtstempi
ein neues Gleichgewicht gefunden werden muß, oder gar davon,
an welchem Partikular-Universellen die Welt genesen könnte. Wir
sollten davon reden, was diese Mächte in ihrer Unterschiedenheit
vereint, ja, davon, daß das sie Vereinende eben ihre Unterschiedenheit
ist. Der Ethos einer werdenden Menschheit, heißt das, ist ein ontologischer
und differenzieller.
Beziehen wir zur Verdeutlichung diesen Ethos einmal auf den globalen
Markt, den Klimawandel und die demographischen Dynamiken. Die unsichtbare
Hand des Marktes, eine aus der ordnenden Hand Gottes abgeleitete
Fiktion der christlich-abendländischen Tradition, hat ihre notorische
Abwesenheit in der gegenwärtigen Finanzmarktkrise erneut bestätigt.
Diese Krise der Aussteuerung des ökonomischen Systems, das früher
Kapitalismus hieß und heute Markt genannt wird, ist eben genau auf
sein lineares statt differenzielles Funktionsprinzip zurückzuführen,
daß das Eine nur dann Teil des Mannigfaltigen ist, wenn es
diesem hinzugefügt wird: n+1. Jedes Partikularinteresse muß
also in Anschlag gebracht, realisiert werden, um überhaupt Teil
jenes fiktiven Gesamtinteresses werden zu können, das die göttliche
Funktion „Markt“ verspricht.
In dieser zeitlich und räumlich linearen Funktionalität des Marktes
gesprochen, ist jeder Verhungernde im Kongo Nicht-Marktteilnehmer,
insofern er sein Partikularinteresse (überleben) nicht realisiert.
Moralisch gesprochen ist er aber derjenige, der in der linearen
Funktionalität des Marktes die Differenz beschreibt, indem er notgedrungen
n-1 sagen muß. Aus diesem zunächst moralischen Skandal eine
Ethik zu machen, wäre die Aufgabe einer nun anstehenden neuen Wirtschaftsordnung.
Dabei kann es selbstverständlich nicht darum gehen, jene von der
göttlichen Funktion Markt selbst erzeugte moralische Entgegensetzung
einfach nur zu perpetuieren, denn „es gibt niemals moralische Sanktionen
eines rechtenden Gottes, weder Strafen noch Belohnungen, sondern
natürliche Konsequenzen unserer Existenz.“7
Die unsichtbare Hand des Marktes, die mit ihrem bereits von Marx
„Plusmacherei“8 genannten n+1 auf grenzenloses Wachstum
programmiert ist, erzeugt nämlich keineswegs eine ihr selbst transzendente
und stabile Ordnung, sie erzeugt vielmehr zugleich eine zweifache,
eine innere und äußere Instabilität im Konstitutionsprozeß
des Seins. Der Markt ist strenggenommen eine Plunder- und Plünderökonomie.
In seinem Binnenverhältnis in der Geld- und Wertschöpfung (auch
unser ökonomischer Schöpfungsbegriff ist im Übrigen eine aus dem
Christentum abgeleitete Fiktion) auf lineares Wachstum ausgerichtet
(n+1 in jeder Dimension), ist er ein doppeltes System einer periodisch
ablaufenden Anhäufung (Akkumulation) und Vernichtung (Markträumung)
von Plunder. Ob es sich nun in der Geldschöpfung um die Akkumulation
jener Kreditverbriefungen und strukturierten Finanzmarktprodukte
handelt, deren Markträumung wir gerade als Krise erleben, oder in
der Wertschöpfung um die Akkumulation materieller wie immaterieller
Waren und Dienstleistungen: Schöpfung und ordnende Hand Gottes werden
in ihm in ein instabiles System rein quantitativer Anhäufung und
Abräumung übersetzt.
Zugleich vollzieht der Markt in seinem Außenverhältnis einen permanenten
Ausschluß des Nicht-Marktfähigen (ungeordnete Gottlosigkeit
und Apokalypse). Dies ist die zweite Form seiner Instabilität. Klimawandel,
Hunger und Bevölkerungsexplosion in den armen Ländern der Südhalbkugel
sind also keineswegs Ausdruck eines „Marktversagens“ dieses
findet ausschließlich in seinen Binnenverhältnissen statt ,
sondern Szenarien seines eigenen Untergangs und damit die Beschreibung
eines qualitativen Außen seiner selbst: Der Markt kann sich
mit seinem linearen „Ethos“ des grenzenlosen Wachstums (n+1) nicht
bis zu seiner äußersten Grenze (der Globus) und über die Südhalbkugel
ausdehnen, d. h. er bleibt gezwungen, sein Außen (Armut,
Natur) zu exkludieren, zu plündern und zugleich als Bedrohung seiner
selbst zu beschreiben. Anders ausgedrückt: „Der Markt ist Aberglaube.“9
Was sich also im rein quantitativen „Ethos“ des Marktes (n+1) als
Ausschluß und Bedrohung darstellt, beschreibt tatsächlich
die für eine Menschheit im Werden entscheidende ethische Differenz.
Es sind daher zunächst ausschließlich die Hungernden und Ströme
von Migranten, die diese definieren und formulieren: n-1. Es ist
ihre Lebensform der Migration auf der Suche der besten Lebensbedingungen
im Klimawandel, ihre Antwort auf die Herausforderung des
demographischen und ökonomischen Nicht-mehr-wachsen-Könnens, ihre
gelebte Erfahrung des Abzugs des eigenen Interesses von den Interessen
aller anderen, die erst eine überlebensfähige Mannigfaltigkeit der
Menschheit möglich werden läßt. Das n-1, zu dem wir sie vorerst
noch durch die Exklusion aus unserem n+1 zwingen, und das ihnen
gegenwärtig noch einen Schrumpfungsprozeß bis zur eigenen
Vernichtung aufnötigt, wird auch für uns unumgehbar zum Prüfstein
werden, ob wir die Frage, ob und wie wir auf diesem Globus weiterleben
wollen, überhaupt noch beantworten können werden. Es geht dabei
um nichts weniger als um „eine Strategie des ethischen Wiederaufbaus“10
nach dem Totalbankrott jener universellen „Plusmacherei“, um eine
Erneuerung des Konstitutionsprozesses des Seins des Menschen
auf Erden, genauer darum, die Welt zu bauen und damit die Möglichkeit
zu zerstören, sie mittels religiöser, politischer und marktförmiger
Aberglauben zu beherrschen.11
„Der Arme selbst ist Macht“, schreiben Michael Hardt und Antonio
Negri darum auch in Empire. „Es gibt eine Weltarmut, aber
vor allem auch eine Weltchance, und einzig der Arme kann sie ergreifen.“12
Und sie schreiben vollkommen zu Recht, der Arme „ist auch die Begründung
jeder Möglichkeit von Humanität. (...) Nur der Arme lebt radikal
das tatsächliche und gegenwärtige Sein, in Not und Leid, und deshalb
verfügt einzig der Arme über die Fähigkeit, das Sein zu erneuern.
(...) Der Arme ist Gott auf Erden.“13 Großartige Sätze
eines neuen Humanismus, die für uns deutlicher werden lassen: Wir
werden mit unserer Art des Lebens den Großteil der Menschheit
nicht aus der Armut führen können, es ist diese Armut, die uns führen
wird, ja, in Wirklichkeit bereits längst führt – heraus aus unserem
schlechten, zersetzenden Verhältnis zur Natur und damit heraus aus
unserem schlechten Verhältnis zu uns selbst.
Ihr n-1 wird unsere gemeinsame Zukunft gewesen sein.
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