|
 |
 |
|
 |
|
Das Böse
in Alain Badious Ethik der Wahrheiten
von
Wilhelm Roskamm
Einleitung
Paul Ricoeur hatte einmal vom „Skandal des Bösen“
gesprochen. Nun besteht der eigentliche Skandal des Bösen heutzutage
nicht in der Existenz oder der Möglichkeit des Bösen überhaupt,
sondern eher in der inflationären Verwendung dieses Ausdrucks. Was
auch immer als böse bezeichnet wird, es bleibt dabei das Denken
des Bösen aus seinen Entstehungsbedingungen auf der Strecke. Stattdessen
wird das Böse zu einer affektiv aufgeladenen, unerklärlichen Begebenheit,
die es in einem (selbst-)affirmativen Aktionismus zu bekämpfen gilt.
Aber vermehrt sich dadurch nicht erst das Böse? Nicht nur in dem
Sinne, dass im Namen des Kampfes gegen das Böse gerade das Böse
getan wird, sondern auch in Bezug auf das „ursprünglich“ Böse. Im
Sinne einer Erschaffung des Bösen ließe sich auch Ricoeur verstehen,
wenn man ihn etwas gegen den Strich liest:
Das Böse ist das, wogegen man kämpft, wenn man einmal darauf verzichtet
hat, es zu erklären.1
Sollte man gegen diesen inflationären Gebrauch nicht ganz auf den
Ausdruck „das Böse“ verzichten? Und reicht als Gegenbegriff zum
„Guten“ nicht auch die Bezeichnung „das Schlechte“? Zumindest zeitweise
und in gewissen Strömungen hielt sich die Philosophie an Nietzsches
Formel, dass das Leben „jenseits von Gut und Böse“ sei, und hielt
sich in Bezug auf die Verwendung des „Bösen“ zurück. Oder sollte
man die umgekehrte Strategie verfolgen? Den Meinungen über das Böse
einen differenzierten Begriff des Bösen entgegensetzen und das Böse
in seiner Entstehung denken, um dann auch den Kampf gegen das Böse
denselben Kriterien zu unterwerfen?
Alain Badiou hat sich in seinem Essay Ethik – Versuch über das
Bewusstsein des Bösen für diese zweite Strategie entschieden.
Er setzt der übercodierten Verwendung des „Bösen“, das eng mit der
vermeintlichen „Rückkehr des Religiösen“ in Zusammenhang steht,
eine differenzierte Theorie des Bösen entgegen, um dieses Feld nicht
dem Nicht-Denken zu überlassen. Ähnliches gilt auch für seine Konzeption
der Ethik, die er der zeitgenössischen „Rückkehr der Ethik“ entgegensetzt.
Wenn hier Badious Ethik der Wahrheiten vorgestellt werden soll,
dann muss zuallererst – und wenn auch in knapper Form – Badious
komplexe und in Deutschland bisher kaum bekannte Philosophie dargestellt
werden. Danach soll in einem zweiten Schritt die Grundlegung der
Ethik aus Badious Philosophie entwickelt werden. Im Mittelpunkt
steht dabei der Begriff der Treue. Von dem, durch seine Ethik positiv
bestimmten Guten werden dann – in einem dritten Abschnitt – drei
Formen des Bösen abgeleitet.
Philosophisches Schibboleth
Universal ist nur, was sich in immanenter
Ausnahme befindet.
Alain Badiou (P2, 204)
In seinem Buch über das Verhältnis von Mathematik
und Philosophie, das den Titel Gott ist tot – Kurze Abhandlung
über eine Ontologie des Übergangs trägt, greift Badiou noch
einmal die These vom Tod Gottes auf. Nicht um sie erneut zu diskutieren,
denn für ihn ist es eine Selbstverständlichkeit, dass Gott tot ist.
Trotz der vermeintlichen Rückkehr des Religiösen im zeitgenössischen
Denken stellt die Frage, ob Gott existiert oder nicht, für ihn kein
Problem mehr dar. Dadurch kennzeichnet sich die Modernität seines
Denkens. Für Badiou ist der Tod Gottes ein Ereignis im Denken, ein
unumkehrbares Ereignis des modernen Denkens: es ist eine Bedingung
für jede Philosophie, die sich als moderne Philosophie verstehen
will.
Ein Grund für die Thematisierung des Todes Gottes ist Badious Auseinandersetzung
mit Heidegger. Für Badiou gibt es nicht nur einen Gott, sondern
drei: den lebendigen Gott der Religion, den begrifflichen und von
daher leblosen Gott der Metaphysik und den sich zurückziehenden
Gott der Dichtung. Den dritten Gott, den Gott der Dichtung leitet
Badiou aus der fundamentalen Aporie Heideggers ab, dass dieser die
Metaphysik und mit ihr jede Bestimmung von Gott als Transzendenz
destruiert hat, aber gleichzeitig die Rettung unserer Welt von dem
Wiedererscheinen eines Gottes abhängig macht (GT, 16). Heideggers
berühmter Ausspruch, dass „allein ein Gott uns retten kann“3,
ist für Badiou der Ausdruck davon (GT, 24), dass es noch einen dritten
Gott gibt, der nicht mit dem metaphysischen verwechselt werden darf.
Es ist der Gott der Dichtung, wie er bei Hölderlin erscheint und
von Heidegger aufgegriffen wurde. Dieser Gott bestimmt sich dadurch,
dass er sich zurückgezogen hat und die Welt als Beute für die Entzauberung
hinterlässt (GT, 17). Der Glaube an diesen Gott wird zu einer nostalgischen
Beziehung, da „die Chancen einer Wiederverzauberung der Welt in
der Melancholie durch die unmögliche Rückkehr der Götter anvisiert“
(GT, 17) wird. Durch diese melancholische Figur werden der Tod Gottes
und die Entzauberung erträglich gemacht. Gleichzeitig werden aber
die Entzauberung der Welt und die Ereignisse, die mit dieser Entzauberung
zusammenhängen, aus einer rein negativen Perspektive betrachtet.
Dies zeigt sich am deutlichsten in Heideggers Einführung in die
Metaphysik, in der er das Verdunkeln der Welt auf der Erde durch
eine Liste „der wesentlichen Ereignisse des Verdüsterns“ (GT, 25)
begründet. Zu diesen Ereignissen zählt bei Heidegger neben der Flucht
der Götter „die Zerstörung der Erde, die Vermassung des Menschen,
der Vorrang des Mittelmäßigen“4. Diese doppelte Figur
von unmöglicher Rückkehr der Götter und der möglichen Wiederverzauberung
der Welt auf der einen und der Entzauberung der Welt auf der anderen
Seite sind für Badiou die Bedingungen des „poetisch-politischen
Dispositivs“ (GT, 18), von dessen Grund aus sich Heideggers ganze
Philosophie mit den bekannten Themen – der Uneigentlichkeit des
Mans, der Verlassenheit des Daseins, seiner Analyse der Angst, des
Seins zum Tode usw. – entfaltet.
Im Mittelpunkt dieses poetisch-politischen Dispositivs befindet
sich das Motiv der Endlichkeit, das im Zentrum von Badious Kritik
steht. Durch diese Kritik an der Endlichkeit bekommt seine Interpretation
von Heideggers Philosophie als melancholischer auch seine Plausibilität.
Dieses für die moderne Philosophie zum Konsens gewordene Motiv der
Endlichkeit steht für Badiou mit dem Versprechen der Rückkehr der
Götter und der Wiederverzauberung der Welt in Zusammenhang und ist
für ihn ein „Überbleibsel in der Bewegung“, „die die Ablösung des
Gottes der Religion und des metaphysischen Gottes dem Gott des Gedichtes
anvertraut“ (GT, 18). Badious Ziel besteht darin, „die dreifache
Absetzung der Götter“ (GT, 21) zu bejahen, eine moderne, nicht melancholische
Philosophie zu begründen und dabei das poetisch-politische Dispositiv
hinter sich zu lassen, wie es sich am deutlichsten in der Philosophie
von Heidegger, aber nicht nur in ihr zeigt. Will die Philosophie
sowohl ohne Versprechen als auch ohne „heideggerianische Schicksalhaftigkeit“
(GT, 25) auskommen, muss sie sich auf das „Hier“ gründen: auf die
Erfahrungen, die wir in dieser Welt machen und denen wir hier
in ihrer Wahrheit die Treue halten können (GT, 21). Dies ist ein
zentraler Ausgangspunkt von Badiou.
Da wir uns auf die dreifache Absetzung der Götter eingelassen haben,
können wir bereits sagen, wir, die Bewohner der unendlichen Dauer
der Erde, daß alles hier, immer hier ist und daß die Kraft des Gedankens
in der egalitären Fadheit liegt, die eine feste und erklärte Erfahrung
dessen hat, was uns hier zukommt. Hier ist der Ort des Werdens der
Wahrheiten. Hier sind wir unendlich. Hier ist uns nichts versprochen,
als dem, was auf uns zukommt, treu zu sein. (GT, 21)
Durch diese Bezugnahme auf das „Hier“ als Ort, von dem aus gedacht
wird, ergibt sich für Badiou auch eine andere Perspektive auf die
modernen Ereignisse, die mit der Entzauberung der Welt in Zusammenhang
stehen. Für Badiou impliziert die Entzauberung der Welt auch gleichzeitig
eine Erhellung, die er Heideggers Verdunklung der Welt entgegensetzt.
So schreibt Badiou in direktem Bezug zu Heideggers Auflistung:
Derart daß die Flucht der Götter auch der wohltuende
Abschied ist, der ihnen von den Menschen gegeben worden ist; derart
daß die Zerstörung der Erde auch ihre Herrichtung als für das aktive
Denken gültige Schicklichkeit ist; derart daß die Hordenbildung
auch der egalitäre Einbruch der Massen auf die Bühne der Geschichte
ist; derart daß das Vorherrschen des Mittelmäßigen auch der Glanz
und die Dichte dessen ist, was Mallarmé die eingeschränkte Handlung
nannte. (GT, 25)
Was sich in dieser Uminterpretation des modernen Ereignishorizontes
schon abzeichnet, ist ein zentraler Aspekt von Badious Denken. Wie
beim Tod Gottes handelt es sich bei den aufgelisteten Punkten um
Ereignisse, die als Brüche in der Geschichte unhintergehbar sind
und deshalb zu Bedingungen des Denkens werden. In Badious Philosophie
des Ereignisses bilden Ereignisse den Rand, den Saum für das Hier,
in dem wir leben, aber in dem wir auch unsere gegenwärtigen Situationen
überschreiten. Diese Überschreitung wird möglich, wenn Badiou dieses
Hier – entsprechend seiner Kritik an dem poetisch-politischen
Dispositiv – nicht mit der Endlichkeit, sondern mit der Unendlichkeit
verknüpft:
Und daß wir infolgedessen, nachdem wir von jeder
Endlichkeit den Anker weggezogen haben, das Unendliche als absolut
flachen Aufenthalt bewohnen. (GT, 20)
Um die scheinbare Paradoxität dieser Rehabilitierung des Unendlichen
aufzulösen, muss Badiou die Unendlichkeit, die in der Philosophie
immer von dem Einen abgeleitet wurde, von der „Vernähung“ mit einer
wie auch immer verstandenen Transzendenz lösen. Dies wird ihm möglich,
indem er vier Grundelemente der Mengenlehre in Philosophie „übersetzt“
und deren Theorie der Mannigfaltigkeiten als Ausgangspunkt seines
Denkens nimmt. Die Mengenlehre kennzeichnet sich durch folgende
Aspekte, aus denen sich Badious Hinwendung zur modernen Mathematik
begründet: die Mengenlehre ist das Denken des Unendlichen, das sich
von der Eins losgelöst hat; es kann keine Menge aller Mengen, keine
Allmenge geben; die Mengen lassen sich als reine Mannigfaltigkeiten,
als Mannigfaltigkeiten von Mannigfaltigkeiten bestimmen, deren zugrunde
liegendes Element nicht die Zahl 1 ist; sondern an die Stelle der
1 tritt die leere Menge als konstitutives Grundelement (GT, 34).
Mit der Mengenlehre, so wie sie sich bei Cantor, Gödel und Cohen
ausgeprägt hat, kann Badiou aus den drei grundlegenden Ideen – der
Unmöglichkeit einer Totalität des Seienden, dem Denken des Seins
als reine Vielfältigkeit, als Mannigfaltigkeiten von Mannigfaltigkeiten
und dem Denken ohne ursprüngliche Einheit – die Idee einer nicht-transzendenten
Unendlichkeit ableiten:
Insofern, als keinerlei immanente Begrenzung vom
Einen her die Vielfältigkeit als solche bestimmt, gibt es kein ursprüngliches
Prinzip der Endlichkeit. Das Vielfache kann also als Un-endliches
gedacht werden. Oder gar: die Unendlichkeit ist ein anderer Name
für die Vielfältigkeit als solche. Und da auch kein Prinzip das
Unendliche mit dem Einen verbindet, muß man die These aufstellen,
dass es eine Unendlichkeit von Unendlichen, eine unendliche Zerstreuung
der unendlichen Vielfältigkeiten gibt. (GT, 32)
Weil das Mannigfaltige aus unendlichen Mannigfaltigkeiten zusammengesetzt
und es durch nichts begrenzt ist, ist das Mannigfaltige als reine
Mannigfaltigkeit „radikal Ohne-Eins“ (GT, 32). Und deshalb gibt
es kein Prinzip der Endlichkeit. Somit hat Badiou die Gleichsetzungen
von Unendlichkeit = Transzendenz und Endlichkeit = Immanenz aufgelöst
und verschoben. Dasselbe gilt auch für deren Zuschreibung zu Vernunft
und Glaube: das Denken ist sehr wohl imstande das Unendliche zu
denken, ohne dass ein Rest bleibt, der dann dem Glauben zugeschrieben
wird, um die endliche Vernunft zu ergänzen.5 Nun gibt
es für Badiou sehr wohl Endlichkeiten. Nicht als philosophisches
Prinzip, sondern als Endlichkeiten der Welt oder – in Badious Terminologie
– als Endlichkeiten von Situationen. Die Endlichkeit konstituiert
sich durch die Strukturierung des Mannigfaltigen einer Situation.
Diese Strukturierung impliziert die „Für-eins-Zählung“ (GT, 23),
die VerEin(s)heitlichung und macht aus den reinen Mannigfaltigkeiten
abzählbare Mannigfaltigkeiten. Nach Badiou geht es in der Philosophie
darum, „das Sein diesem Zugriff des Einen zu entreißen“ (GT, 25),
in einer Art Ontologie der Substraktion die Mannigfaltigkeiten ohne
strukturierende „Potenz des Einen“ (GT, 29) zu denken und den Strukturen
die Ereignisse entgegenzusetzen, um die nicht-transzendente Unendlichkeit
als Ort der Überschreitung der gegenwärtigen Situation und als Ort
der Verbindung der Ereignisse mit dem Hier, in dem wir leben,
zu etablieren und zu denken.
Gerade die Selbstverständlichkeit, mit der Badiou jede Form der
Transzendenz ablehnt und seinen Atheismus aus der modernen Konstellation
des Denkens begründet, macht es ihm möglich, ein unproblematisches
Verhältnis zu Religion und Theologie zu haben. So scheint in seinen
Äußerungen zur Religion immer wieder eine gewisse Sympathie für
die Religion durch. Dies gilt natürlich nur für eine lebendige Religion,
in der Gott Teil einer lebendigen Gemeinschaft ist, und nicht für
die modernen religiösen Erscheinungen: entweder wird der Glaube
an Gott zu einer rein privaten Angelegenheit oder es entstehen religiöse
Bewegungen, die sich in ihren Fundamentalismus einschließen. Es
handelt sich bei diesen Phänomenen keineswegs um eine Rückkehr des
Religiösen, vielmehr findet Badiou in ihnen eine Bestätigung
der Nicht-Existenz einer lebendigen Religion. Mit dem Tod Gottes
verschwindet nämlich nicht nur die Gemeinschaft mit Gott, sondern
durch den Tod Gottes dringt der Tod selbst als „dunkles“ Element
in die Religion ein (GT, 16). So bestimmt Badiou in einer Art Psychoanalyse
der Religion die modernen Fundamentalismen als unbewusste Wiederkehr
der Verdrängung des Gottestodes und zwar in Form einer Suche nach
dem „Schuldigen am Tod Gottes“ (GT, 15). Aus dieser Wiederkehr des
Verdrängten entsteht nach Badiou „die verzweifelte und blutige Bejahung
einer künstlichen und todbringenden Religion“ (GT, 15), wie wir
sie heute vielerorts finden.
So wie Badiou Sympathien gegenüber der lebendigen Religion hegen
kann, ist es ihm möglich, in seinem Denken religiöse Motive aufzugreifen.
Badious Denken ist eine radikale Affirmation der Immanenz und gleichzeitig
kann er mit seiner Idee des Unendlichen Denkfiguren in seine Philosophie
aufnehmen, die normalerweise der Theologie und der Religion vorbehalten
sind. Zu diesen Denkfiguren gehören neben dem Unendlichen die Begriffe
des Bösen und der Unsterblichkeit, der eng mit der Unendlichkeit
in Zusammenhang steht. Badious Idee der Unsterblichkeit – nach der
Auflösung des Bandes von Transzendenz und Unendlichkeit – spielt
eine wichtige Rolle sowohl in seiner Ethik als auch in seiner „Anthropologie“.
Badious „Anthropologie“, so wie sie sich in seinem Buch Ethik
– Versuch über das Bewusstsein des Bösen (Dem Übersetzer dieses
Textes, Jürgen Brankel6, sei an dieser Stelle Dank ausgesprochen
für die freundliche Überlassung seines Manuskriptes. Seine Übersetzung
ist inzwischen im Turia + Kant Verlag Wien erschienen.) darstellt,
beginnt nicht mit der klassischen Unterscheidung von Mensch und
Tier, sondern mit der Entgegensetzung von zwei „Seinsweisen“ des
Menschen: des menschlichen Tieres und des Menschen, der auch – wie
Badiou etwas pathetisch sagt – zu einem „Unsterblichen“ (E, 23)
oder zu einer „unsterblichen Einzigartigkeit“ (E, 22) werden kann.
Das menschliche Tier ist keine biologische Kategorie, sondern bezeichnet
das normale, alltägliche Leben. Badiou bezieht sich in seiner Bestimmung
des menschlichen Tieres auf das Prinzip der Selbsterhaltung oder
– wie es Spinoza auch genannt hat – „das Ausharren im Sein“ (E,
67): der Mensch ist vor allem damit beschäftigt, seine Interessen,
welche es auch immer sein mögen, zu verfolgen, mit dem Ziel, seine
Bedürfnisse zu befriedigen bzw. Erfolg zu haben. Dieses Prinzip
der Selbsterhaltung ist, wie Badiou mit Anspielung auf Nietzsche
sagt, „diesseits von Gut und Böse“ (E, 83). Das gilt selbst dann,
wenn dieses Prinzip zu Grausamkeiten führt. Durch die Grausamkeit
bzw. die Gewalt, die nicht mit dem Bösen verwechselt werden darf
(E, 90), kennzeichnet sich das menschliche Tier gegenüber den anderen
Tieren und begründet sich die menschliche Vormachtstellung:
Er hat sich als das Durchtriebenste, das Geduldigste
und das den grausamen Begierden seiner eigenen Macht halsstarrig
Unterworfenen aller Tiere erwiesen. (E, 81)
Dagegen gibt es eine Dimension im Menschen, die das interessegeleitete
Dasein und die damit verbundenen Lebensumstände übersteigt. Im Menschen
gibt es eine Dimension, an der jeder Mensch zumindest potenziell
teilhat und wodurch er mehr ist als ein menschliches Tier. Der Einzelne
verändert sich durch diese Dimension und hat teil an etwas, wodurch
er noch seine eigene Sterblichkeit überschreitet. Im Zusammenhang
mit dem Aspekt der Überschreitung bezeichnet Badiou diese Seinsweise
mit dem Ausdruck „Unsterblichkeit“. So schreibt Badiou in seiner
Ethik:
Es sind die Rechte des Unsterblichen, die sich für
sich selbst behaupten, oder die Rechte des Unendlichen, die ihre
Souveränität über die Kontingenz des Leidens und des Todes ausüben.
Dass wir letztlich alle sterben und nur Staub übrig bleibt, ändert
nichts an der Identität des Menschen als Unsterblichen in dem Augenblick,
in dem er entgegen dem Tier-Sein-Wollen, dem er durch die Umstände
ausgesetzt ist, das bejaht, was er ist. Und jeder Mensch ist unvorhergesehenerweise,
man weiß es, fähig, dieser Unsterbliche in großen oder kleinen Umständen,
für eine – ganz gleich wie – bedeutende oder unbedeutende Wahrheit
zu sein. In allen Fällen ist die Subjektivierung unsterblich und
macht den Menschen aus. (E, 23)
Diese „anthropologische“ Entgegensetzung von menschlichem Tier und
dem Unsterblichen, „der der Mensch auch sein kann“, verweist – wie
schon einige vorher angedeutete Entgegensetzungen – unmittelbar
auf die ontologische Differenz, durch die Badious Philosophie grundlegend
bestimmt werden kann. Badiou verwendet den Begriff der ontologischen
Differenz nicht für seine Philosophie, er steht etwas quer zu seiner
Terminologie, doch der Gehalt der Differenz von Ereignis und Sein
und der damit zusammenhängenden Reihen von Begriffspaaren entspricht
dem, was man mit Heidegger als ontologische Differenz bezeichnen
kann. Zu diesen Begriffspaaren gehören Ereignis und Situation, Wahrheit
und Wissen, Subjekt und Individuum, Leere und Fülle – um hier nur
einige zu nennen. Auch wenn es zwischen diesen Dimensionen eine
unauflösbare Kluft gibt, darf man deren Entgegensetzung nicht als
strikten Dualismus oder – trotz Badious ständiger Bezugnahme auf
Platon – als Zwei-Welten-Lehre verstehen. Es handelt sich bei diesen
Dimensionen um die zwei Seiten ein und derselben Wirklichkeit,
um eine Wirklichkeit mit zwei verschiedenen Seiten, und diese beiden
Seiten sind in der Wirklichkeit eng verschränkt. Entsprechend dieser
Verschränkung bezeichnet der Ausdruck „Ereignis“ den Bruch in der
Geschichte der Situationen und genauso handelt es sich bei dem Verhältnis
von Wissen und Wahrheit um eine „symptomatische Verdrehung des Seins,
[...] die eine Wahrheit in der allzeit-totalen Textur des Wissens
ist“ (EE, 24)7.
Durch die Unterscheidung von zwei Seiten der Wirklichkeit besteht
die Gefahr, dass man Badious Denken als Dualismus interpretiert.
Die Möglichkeit einer dualistischen Interpretation kommt dadurch
zustande, dass aus der Perspektive einer positivistischen Haltung
nur die eine Seite als „Realität“ erscheint, während die andere
Seite als Transzendenz dieser „Realität“ bestimmt wird. Der Wahrheitsgehalt
dieser positivistischen Perspektive begründet sich aus der Philosophie
Badious durch den Sachverhalt, dass nur derjenige die andere Seite
der Wirklichkeit „erkennt“, der durch die Subjektivierung eines
Ereignisses Anteil an der Wahrheit dieses Ereignisses hat. Die zweite
Seite der Wirklichkeit konstituiert sich also nur dadurch, dass
es Individuen gibt, die sich durch ihre Treue zu einzelnen Ereignissen
als Subjekte konstituieren und dessen Wahrheit in den Situationen
bekunden. Ereignis, Subjekt und Wahrheit sind die drei Begriffe,
durch die in Badious Terminologie die andere Seite der Wirklichkeit
beschrieben wird und die in ihrem Zusammenhang das konstituieren,
was Badiou als Wahrheitsprozess bezeichnet. Die positivistische
Reduzierung der Wirklichkeit auf das empirisch Gegebene oder die
sie konstituierende Struktur schließt somit die Dimensionen des
Wahrheitsprozesses aus. Dies führt auch dazu, dass das Subjekt nicht
als „freies“, sondern nur im negativen Sinne als den Strukturen
und Machtverhältnissen unterworfenes gedacht werden kann.
Nun handelt es sich bei Badious Philosophie keineswegs um die Reaktivierung
der Subjektphilosophie, sondern er erschafft einen neuen Subjektbegriff.
Zwei Aspekte sind dabei entscheidend. Zum einen gibt es für Badiou
kein abstraktes Subjekt (E, 61), sondern heterogene Subjekte entsprechend
den vier irreduziblen Wahrheitsbereichen: der Wissenschaft, der
Politik, der Kunst und der Liebe. Das Subjekt ist weder ein psychologisches
oder reflexives noch ein transzendentales Subjekt, sondern „Träger
eines Wahrheitsprozesses“ (E, 64). Bevor der Wahrheitsprozess stattgefunden
hat, gibt es also kein Subjekt. Das Individuum wird erst zum Subjekt,
wenn es in den Wahrheitsprozess eintritt und zum Träger dieser Wahrheit
wird. Das Individuum überschreitet durch dieses Subjekt-Werden nicht
nur die Situation, in der es lebt, sondern auch sich selbst. Genaugenommen
handelt es sich beim Subjekt-Werden eines Individuums nicht um die
Transformation eines Individuums in ein Subjekt, sondern
in ein Subjekt, an dem auch mehrere Individuen teilhaben können.
So treten die Liebenden „in die Komposition eines Subjektes der
Liebe“ ein, „das über jeden von beiden hinausschreitet“ (E, 64).
Und so ist das Subjekt eines künstlerischen Wahrheitsprozesses nicht
der Künstler, sondern es sind die Kunstwerke, an denen der Künstler
teilhat, „ohne dass man die Werke irgendwie auf ‚ihn’ zurückführen
könnte“ (E, 65). Das komplexe Verhältnis zwischen Individuum und
Subjekt, das sich durch die Aspekte der Überschreitung, der Teilhabe
und des Nicht-Wissens kennzeichnet, beschreibt Badiou wie folgt:
Der ‚Jemand’, der als der Zeuge dessen aufgefasst
wird, dass er als Stützpunkt zum Prozess einer Wahrheit gehört,
ist zugleich er selbst, nichts anderes als er selbst, eine
vielfache Singularität, die unter allen anderen ausgemacht werden
kann, und im Verhältnis zu sich selbst im Überschuss, weil die zufällige
Spur der Treue durch ihn hindurchgeht, seinen singulären
Körper erstarren lässt und ihn, vom Inneren selbst der Zeit her,
in einen Augenblick der Ewigkeit einschreibt. (E, 66)
Und zum anderen ist das Subjekt nicht an ein Objekt gebunden. Infolge
der modernen Problematisierung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses
verknüpft sich bei Badiou das nun objektlose Subjekt mit dem Ereignis:
„ein Subjekt sozusagen ohne Gegenüber“ (MP, 97). Für ihn
ist das endliche Subjekt der Träger der unendlichen Wahrheit, wie
sie von einem kontingenten Ereignis ausgeht.
Das Subjekt ist in seinem Sein nichts anderes als
eine Wahrheit, begriffen in ihrem reinen Punkt, es ist eine verschwindende
Qualität der Wahrheit, ein differentielles Entschwinden seiner unvollendbaren
Unendlichkeit. (PW, 52)
Die Freiheit des Individuums liegt bei Badiou darin, dass wir unserem
Ergriffensein durch ein Ereignis die Treue halten und uns dadurch
als Subjekt, als Teil eines Subjektes konstituieren können. Dies
impliziert gleichzeitig, dass wir durch unser Subjekt-Werden eine
gewisse Distanz zu den Situationen, in denen wir leben, herstellen
können. Mag die Gleichzeitigkeit von Subjektivierung und Distanzierung
und deren Verbindung mit der ontologischen Differenz, so wie sie
sich bei Badiou verstehen lässt, vielleicht etwas befremdend anmuten,
so hat sie doch ihre Grundlage in der Erfahrung. Und haben wir nicht
alle schon die Erfahrung der Subjektivierung durch ein Ereignis
gemacht? Und wenn nicht in der Wissenschaft und der Kunst, so doch
zumeist in der Liebe und vielleicht auch in der Politik. Und haben
wir nicht alle auch die Erfahrung gemacht, dass wir nach unserem
Subjekt-Werden ein anderes Verhältnis zu den Situationen haben,
in denen wir leben? Durch diese Erfahrung stellt sich in jedem Individuum
die andere Seite der Wirklichkeit in ihrer Immanenz her. Deshalb
findet das Denken der ontologischen Differenz bzw. der beiden Seiten
der Wirklichkeit, so wie wir es bei Badiou finden, ihren Grund in
der Erfahrung des Individuums und ermöglicht ein Denken der Immanenz,
das zugleich den bestehenden Verhältnissen kritisch gegenüberstehen
kann.
Das paradoxe, scheinbar tautologische Verhältnis der beiden Seiten
der Wirklichkeit, das die Grundlage von Badious komplexer Philosophie
bildet, hatte Zizek in seinem Buch Die Tücke des Subjektes
als „Logik des Schibboleth“ (TS, 184) bezeichnet. In der biblischen
Erzählung (Richter 12, 4-6) über den Kampf der Stämme der Gileaditer
und der Ephraimiten stand das Wort „Schibboleth“ im Mittelpunkt.
Dieses Wort hatte bei beiden Stämmen dieselbe Bedeutung, wurde aber
unterschiedlich ausgesprochen: Schibboleth und Sibboleth. Nur durch
diese Differenz in der Aussprache ließen sich die beiden Stämme
identifizieren. Der interessante Punkt dieser Geschichte ist, dass
nur die Leute aus Gilead von dieser Differenz zwischen den beiden
Dialekten wussten, während die Ephraimiten diese Differenz nicht
als Differenz wahrnahmen: nur für die einen konnte das Wort Schibboleth
als Erkennungszeichen dienen. Diese Macht der Unterscheidung führte
dann auch zum Tod vieler Ephraimiten. Die Logik des Schibboleth
besteht darin, dass es zwei Seiten einer Sache gibt, die zweite
Seite aber nur für diejenigen erkennbar ist, die diese zweite Seite
konstituieren. Diese Logik ist also eine „Logik der Differenz, die
nur von innen, nicht von außen verstehbar ist“ (TS, 184). Diese
Logik des Schibboleth trifft – wie wir sahen – auf die Philosophie
von Badiou im Ganzen zu, sodass sein Denken der ontologischen
Differenz mit der grundlegenden Asymmetrie der beiden Seiten der
Wirklichkeit als philosophisches Schibboleth verstanden werden kann.
Nun gibt es aber auch eine wesentliche Differenz zwischen der biblischen
Erzählung und Badious philosophischem Schibboleth. Sie besteht darin,
dass das Wort Schibboleth mit der entsprechenden Aussprache an ein
Volk und eine Sprache gebunden ist, wohingegen das philosophische
Schibboleth von Badiou zwar auch immer mit zwei entgegengesetzten,
asymmetrischen Seiten funktioniert, doch jede faktische Freund-Feind-Gegenüberstellung
ist nicht an eine, wie auch immer verstandene Substanz gebunden.
Bei Badiou ist es potenziell jedem möglich, die Seiten zu wechseln
und sich durch ein Ereignis subjektivieren zu lassen, um dadurch
an der Wahrheit dieses Ereignisses teilhaben zu können. Dies impliziert
allein schon Badious Begriff der Wahrheit: die Wahrheit ist universell
und für alle gültig, es gibt keine partikulare Wahrheit einer Gemeinschaft
oder eines Volkes.
Das Universale ist nicht die Negation der Partikularität.
Es ist ein Durchmessen eines Abstandes im Verhältnis zur Partikularität,
die stets bleibt. Jede Partikularität ist eine Anpassung, ein Konformismus.
Es geht darum, eine Nichtkonformität mit dem, was uns stets anpasst,
aufrechtzuhalten. Das Denken wird von der Konformität auf eine Probe
gestellt, aus der nur das Universale es befreit – in einer ununterbrochenen
Arbeit, einem erfinderischen Durchgang durch die Probe. (P, 203)
Dieser Universalismus der Wahrheit konstituiert sich nicht durch
das Allgemeine der Menschenform oder den „Durchschnitt“ der Mannigfaltigkeit
der Kulturen, sondern durch die Kontingenz eines Ereignisses. Die
Wahrheit ist universal, weil sie ein unendlicher Prozess im Ausgang
von einem Ereignis ist. Um an dieser Stelle einige Beispiele aufzuzählen,
die Badiou anführt: die französische Revolution von 1792, eine persönliche
Liebesleidenschaft, Haydns Erfindung des Stils der klassischen Musik
(E, 62), die Tragödien von Sophokles, das Hohelied oder bestimmte
politische Praktiken der Griechen. Die Wahrheit dieser Ereignisse
ist von „unbezweifelbarer Universalität“, wie Badiou in Bezug auf
den Satz „Die Folge der Primzahlen ist unbegrenzt.“ sagt (P, 197).
Durch diesen Universalismus und die unabschließbare Unendlichkeit
des Wahrheitsprozesses ist die Wahrheit unabhängig von dem Wissen,
zu dem sie in Relation steht, und den Sprachen, in denen sie sich
ausdrückt. Um dieses Verhältnis zu charakterisieren spricht Badiou
vom Durchqueren des Wissens und der Sprachen durch die Wahrheit.
Diese Unabhängigkeit von der Sprache und der Universalismus der
Wahrheit impliziert die Möglichkeit der Übertragbarkeit der Wahrheit.
Das Ideal der Übertragbarkeit, mit dem sich Badiou strikt vom linguistic
turn in der Philosophie absetzt, bezeichnet er als Mathem, einen
Begriff den Badiou von Lacan übernimmt und den man aus dem Griechischen
als „das Lehrbare“8 übersetzen kann.
Wir werden sagen, das Ideal der allgemeinen Übertragbarkeit
bewahrend, dass als Ideal der Philosophie in Wirklichkeit das Mathem
gesetzt werden soll. Es wendet sich an alle, es ist allgemein übertragbar,
es durchquert die sprachlichen Gemeinschaften und das Heterogene
der Sprachspiele, ohne irgendeins zu privilegieren, es erkennt die
Vielfalt ihrer Ausübung an, ohne selbst diese Vielheit zu durchlaufen
oder sich in ihr einzurichten. (PW, 23)
Ethik der Treue
Verkapselt und unscheinbar wie der
Same sind im Leben des Menschen seine
wahrhaft zeugenden Erfahrungen. Was im höchsten Sinne fruchtbar
ist, liegt in der
harten Schale der Unmittelbarkeit beschlossen. Nichts scheidet echte
Produktivität von
fehlender, vor allem aber falscher, so deutlich wie die Frage: hat
der Mann beizeiten –
im Jahrzehnt zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig – erlebt, was
ihm den Mund
verschließt, was ihn verschwiegen, wissend und bedenklich macht,
was ihm Erfahrung
wurde, für die er immer zeugen und die er nie verraten, niemals
ausplaudern wird.
Walter Benjamin9
In seinem zeitdiagnostischen Aufsatz Die gegenwärtige
Welt und das Begehren der Philosophie hatte Badiou sich für
eine Ethik ausgesprochen. Dort betont er aber auch, dass er nicht
mit dem gegenwärtigen Phänomen der „Rückkehr zur Ethik“ verwechselt
werden will, da sich diese „oft als gut verkäufliche Ware anbietet“
(PW, 27) und als Kompensation für deren Anpassung an den Kapitalismus
und die parlamentarische Demokratie dient (PW, 29). Für Badiou geht
seine „Rückkehr“ zur Ethik keineswegs mit einer Abkehr von der Politik
einher, sondern steht – wie noch zu zeigen sein wird – unmittelbar
mit der Situation des Politischen in Zusammenhang. Badiou begründet
in diesem Text die Notwendigkeit einer Ethik durch den historischen
Zusammenbruch der Kollektivsubjekte und die daraus resultierenden
Gefahren. Diese Gefahren gehen in zwei Richtungen: entweder man
gibt sich dem freien Fluss der stetigen Veränderung – „dem unendlichen
Glitzern der Warenzirkulation“ (PW, 21) – ohne Bezugspunkt hin oder
man klammert sich an Ersatztotalitäten, die das Denken für das Individuum
übernehmen. Um diese beiden Gefahren der postmodernen Affirmation
der „imaginären Zerstreuung“ (PW, 11) oder der Reterritorialisierung
an Archaismen zu bannen, bedarf es nach Badiou einer Ethik, die
Kriterien für die Unterscheidung von dem, was richtig oder falsch
ist, anbietet und den Einzelnen zu einer ethischen Haltung auffordert.
Durch die Veränderungen der Stellung des Individuums in Geschichte
und Gesellschaft
ist jeder zu etwas berufen, was ich folgendermaßen
bezeichnen werde: die Notwendigkeit, in seinem eigenen Namen vor
dem Unmenschlichen zu entscheiden und zu denken. (PW, 26)
Während er in diesem Aufsatz die Notwendigkeit einer Ethik aus einer
bestimmten historischen Konstellation begründet, entwickelt Badiou
seine Ethik in dem gleichnamigen Buch Ethik Versuch über das
Bewusstsein des Bösen aus der Systematik seiner Philosophie.
Die Ethik ist für Badiou keine unabhängige philosophische Disziplin,
die nach der „Ontologie“ kommt. In der Grundlegung seiner Philosophie
ist die Ethik schon implizit vorhanden, obwohl er sie in Das
Sein und das Ereignis (1988) nicht ausführt und sein Ethikessay
(1993) später erschien. Der systematische Ort seiner Ethik ist in
seiner Philosophie des Ereignisses schon in dem Moment angelegt,
in dem Badiou seinen Wahrheitsbegriff durch seinen Handlungsbezug
bestimmt (PW, 51) und die Konstituierung des Subjektes aus der Treue
zu den Ereignissen und deren Wahrheiten hervorgehen lässt. Mit der
Bestimmung des Subjektes durch die Treue ist zugleich ein ethisches
Verhältnis gegeben: die Freiheit des Subjektes sich für oder gegen
die Treue zu entscheiden.
Neben der historischen Begründung und der systematischen Einordnung
gibt es, wie bereits angedeutet, einen dritten Zugang zu Badious
Ethik. Der „anthropologische“ Ansatzpunkt besteht in einer Erfahrung,
die zeigt, dass der Mensch mehr ist als ein interessegeleitetes
Tier: er kann zu einem Unsterblichen werden. Diese „übermenschliche“
Dimension zeigt sich unter besonderen Umständen, in denen er „nicht
mit einer Opferidentität zusammenfällt“ (E, 23), sich nicht den
Situationen, seien sie auch noch so schlimm, anpasst, sondern mit
seinem „Starrsinn“ zeigt, dass er „etwas anderes ist als ein Opfer“,
„als ein Sein-für-den-Tod“ (E, 23). Die Figur des Unsterblichen,
die Badiou aus diesen Erfahrungen ableitet, steht im Mittelpunkt
seiner Ethik. Ausgangspunkt seiner Ethik sind also nicht allgemeine
Bestimmungen des Menschen oder die „konsensuelle Evidenz des Bösen“
(E, 81), sondern die zentrale Frage, wie sich solch eine ethische
Haltung konstituiert und diese Dimension im Menschen denken lässt.
Mit seiner Konzeption der Ethik wendet sich Badiou gegen den Mainstream
der zeitgenössischen Ethiken. Seine „radikale Kritik“ (E, 112) dieser
ethischen Konfiguration, deren Grundlagen und Implikationen Badiou
genau bestimmt, besteht im Wesentlichen aus folgenden fünf Aspekten.
1. Diese „Ethik“ geht von dem Leiden der Menschen aus und bestimmt
den Menschen als potenzielles Opfer (E, 22). 2. Sie geht nicht von
einer positiven Konzeption des Guten aus, sondern definiert das
Gute durch das Nicht-Böse (E, 53). 3. Es handelt sich um eine „Ethik“
des Westens, die die Anerkennung der kulturellen Differenzen nur
zulässt, solange diese Differenzen nicht allzu sehr von der westlichen
Kultur abweichen (E, 39). 4. Sie versucht nicht, das Böse aus seinen
Entstehungsbedingungen zu denken, sondern beruft sich auf die konsensuelle
Evidenz des Bösen. 5. Sie diffamiert jede „Willensabsicht, eine
Gerechtigkeits- oder Gleichheitsidee in die Wirklichkeit umzusetzen“,
indem sie behauptet, dass jeder „kollektive Willen zum Guten“ das
Böse macht (E, 25). Für Badiou ist diese Konzeption der „Ethik“
nihilistisch, weil sie von einem „Nicht-Wollen“ (E, 51) ausgeht
und den Tod allgemein ins Zentrum rückt, indem sie den Menschen
als Opfer und als „Sein-für-den-Tod“ bestimmt (E, 52). Und sie ist
konservativ, weil sie vor der bestehenden Ordnung resigniert und
als moralischer Kitt für den Kapitalismus und die parlamentarische
Demokratie dient. Diese „ethische“ Konfiguration, die er summarisch
zusammenfasst, bezeichnet Badiou als „‚ethische’ Ideologie“ (E,
112). Sie ist ideologisch, weil sie ohne Wahrheit auskommt.
Diesem hegemonialen moralisch-politischen Dispositiv, für dessen
philosophische Grundlegung Habermas' Konsensethik und Levinas' Ethik
des Anderen die komplementären Bezugspunkte bilden, setzt Badiou
seine Ethik der Wahrheiten entgegen. So wie es für Badiou kein Subjekt
im Allgemeinen gibt, gibt es für ihn auch keine inhaltlich gefüllte,
allgemeine Ethik. Entsprechend den vier Situationen und den diesen
Situationen entsprechenden Wahrheitsprozessen, gibt es statt einer
Ethik deren vier: eine Ethik der Politik, der Wissenschaft, der
Kunst und eine Ethik der Liebe. Trotz der Heterogenität dieser Wahrheitsprozesse
stimmen deren Ethiken in ihrer formalen Definition (E, 65) und in
ihren wichtigsten Problemen überein. Unter Ethik versteht Badiou
keine Aufforderung zu bestimmten Handlungsweisen, sondern die Ethiken
dienen als Korrektiv: durch sie sollen die Gefahren gebannt werden,
die den jeweiligen Wahrheitsprozessen innewohnen. Deshalb richtet
sich die Ethik auch nicht an alle, sondern nur an diejenigen, die
an einem oder mehreren Wahrheitsprozessen teilhaben. So sind z.B.
die Adressaten der Ethik der Politik die politischen Akteure, die
einem politischen Ereignis die Treue halten, indem sie ihre Politik
der Wahrheit der gegenwärtigen Situation entgegensetzen. Die Ethik
der Politik folgt und ergänzt also die Politik der Wahrheit und
bekommt ihre Bedeutung erst durch die Möglichkeit, dass der Wahrheitsprozess
unterbrochen wird. So wie für Badiou der Wahrheitsprozess und dessen
Fortsetzung das Gute ist, so bezeichnet er die Unterbrechung eines
Wahrheitsprozesses mit dem Ausdruck "das Böse". Die Aufgabe der
Ethik der Wahrheiten definiert sich dann dadurch, dass sie dem Bösen
entgegentritt und garantiert, dass die Wahrheitsprozesse fortgesetzt
werden. Dies gilt für alle Wahrheitsprozesse, wenn auch in unterschiedlicher
Weise.
Man wird ‚Ethik der Wahrheiten' im Allgemeinen das
Prinzip der Fortsetzung eines Wahrheitsprozesses nennen - oder,
noch genauer und komplexer, das, was der Anwesenheit von jemandem
in der Komposition eines Subjekts, das den Prozess dieser Wahrheit
induziert, Konsistenz verleiht. (E, 65)
Wenn Badiou an dieser Stelle von der „Fortsetzung eines Wahrheitsprozesses“
spricht, dann antwortet seine Ethik auch unmittelbar auf ein schwieriges
Problem seiner Philosophie des Ereignisses: wie kann ein Ereignis,
das nur einen Bruchpunkt, sei er auch noch so radikal, markiert
und nur ein kontingenter Moment ist, der zwar Wirkungen zeitigt,
aber keine eigene Dauer besitzt, wie kann diesem Ereignis eine Kontinuität
verliehen werden? Oder anders gesagt: da das Ereignis immer schon
vergangen ist und deshalb den ontologischen Status des Verschwindens
hat (E, 95) und sich in den Situationen nur Spuren von deren Wahrheit
finden, bedarf es für die Konstituierung des Wahrheitsprozesses
eines Prinzips, um die Wahrheit des Ereignisses zu bewahren und
die Zeichen in der Situation als Zeichen des Ereignisses zu erkennen.
Dieses ontologische Problem, das den Begriff des Ereignisses betrifft,
fällt also mit dem zentralen ethischen Problem zusammen. Dieses
besteht darin, wie die Wahrheitsprozesse aufrecht gehalten werden
können und wie die Teilhabe des Individuums an einem Subjekt der
Wahrheit Konsistenz bekommt. Um diese Konsistenz herzustellen, reicht
das momenthafte Ergriffensein durch eine Ereignis nicht aus, sondern
es bedarf dazu – wie Badiou betont – einer Entscheidung:
Welcher ‚Entscheidung’ entspringt also der Wahrheitsprozess?
Der Entscheidung, sich von nun an auf die Situation vom Standpunkt
des ereignishaften Zusatzes aus zu beziehen. Lassen Sie uns
das eine Treue nennen. Dem Ereignis treu sein, das ist das
Sich-Bewegen in der Situation, die zu diesem Ereignis einen Zusatz
bringt, indem man die Situation ‚gemäß’ dem Ereignis dachte
(aber alles Denken ist eine Praxis, ein auf die Probe Stellen).
Was natürlich dazu zwingt, eine neue Seins- und Handelnsweise in
der Situation zu erfinden, da ja das Ereignis nicht innerhalb
der gewöhnlichen Gesetze der Situation enthalten war. (E, 62)
Was den Wahrheitsprozess fortsetzt ist also die Treue. Wichtig ist,
dass es sich bei der Treue nicht um eine Eigenschaft handelt, die
zum Wahrheitsprozess hinzukommt, sondern die Treue ist der Wahrheitsprozess
selbst. So ist die Treue nicht eine Forderung an die Liebenden,
sondern die Liebe ist die Treue, die Treue zu dem Ereignis der Liebesbegegnung.
Oder anders ausgedrückt, die Treue ist das „ungewusste“ Prinzip
der Liebe (E, 67). Die Treue bildet das Prinzip der Konsistenz und
des Bewahrens. Es handelt sich dabei aber nicht um eine Form der
Erinnerung (KH, 182), sondern die Treue zeigt sich im gegenwärtigen
Handeln und Denken. Die Treue stellt im Individuum eine Kontinuität
her. Eine Kontinuität zwischen Ereignis und Individuum, wodurch
sich das Subjekt konstituiert. Gleichzeitig ist die Treue zu einem
Ereignis der „fortgesetzte und immanente Bruch“ (E, 91), den das
Ereignis an der Situation vollzieht. Durch diesen doppelten Bezug
von Kontinuität und Bruch – Kontinuität in Bezug auf das Ereignis
und Bruch in Bezug auf die Situation – bestimmt sich auch das Subjekt
in doppelter Weise: durch seine Treue zum Ereignis und seine Distanz
zur Situation. Dieses Verhältnis von Subjekt und Ereignis fasst
Badiou wie folgt zusammen.
Das Ereignis enthüllt die Leere der Situation. Denn
es zeigt, dass das, was ist, ohne Wahrheit war. Ausgehend von dieser
Leere konstituiert sich das Subjekt als Fragment eines Wahrheitsprozesses.
Und diese Leere trennt es von der Situation oder von dem Ort, schreibt
es in einen noch nie dagewesenen Weg ein. Somit stimmt es, dass
der Prüfstein von der Leere, vom Ort der Leere das Subjekt einer
Wahrheit bildet; aber dieser Prüfstein konstituiert keine Kontrolle.
Und überdies lässt sich ganz allgemein sagen, dass eine Wahrheit
von jedem beliebigen Subjekt aktiviert werden kann. Jene Erscheinung,
in der das Subjekt mit der Wahrheit verknüpft wird, ist die Entscheidung,
weiterhin zu sein. Treue zum Ereignis, Treue zur Leere. Das Subjekt
entscheidet sich dazu, in dieser Distanz zu sich selbst, die durch
die Enthüllung der Leere hervorgebracht worden ist, zu verharren.
Die Leere als das eigentliche Sein des Ortes. (KH, 76)
Nun ist das Individuum, der Einzelne nicht das Subjekt. Badious
Begriff des Subjektes impliziert, dass es immer eine Differenz zwischen
Individuum und Subjekt gibt. Das Individuum kann an der Komposition
eines Subjektes mit anderen Individuen teilhaben, aber es geht nicht
in seinem Subjekt-Sein auf, da das Subjekt-Werden immer in
der Überschreitung seiner selbst besteht. Durch diese Differenz
stellt sich im Individuum, das ja Träger des Wahrheitsprozesses
ist, ein Verhältnis zu seinem Subjekt-Werden her. Deshalb besteht
das Problem der Konsistenz nicht nur in der Konstituierung des Subjektes,
sondern auch in dem Verhältnis zu dieser Subjektkonstitution. Durch
diesen doppelten Aspekt kann Badiou seine Ethik der Wahrheiten in
einer an Kierkegaard erinnernden Formulierung dadurch bestimmen,
„dass es sich für den ‚Jemanden’ darum handelt, einer Treue treu
zu sein“ (E, 69). Durch die Treue konstituiert sich das Subjekt
und gleichzeitig bedarf es einer Treue, die im Individuum dieser
Treue die Treue hält. Erst dann stellt sich die „ethische Konsistenz“
(E, 70) her. Dazu muss der Einzelne die – wie Badiou sie benennt
– „desinteressierten Interessen“ (E, 70), die sich aus der Teilhabe
an einem Wahrheitsprozess ergeben, mit den Interessen seines „normalen“
Lebens verbinden. Der Einzelne hat also die Aufgabe, die Komponenten
seines Selbst so zu schichten und zu komponieren, dass er sein „subjektives
Prinzip“ in das „Interessenprinzip“ (E, 69) des menschlichen Tieres
integrieren kann. Problematisch wird diese Arbeit an einem Selbst
erst, wenn das fiktive Bild seines Selbst, das seine „Vielfach-Komposition“
(E, 76) überlagert und begleitet, sich auflöst, dadurch die Ambivalenz
der Interessen zum Vorschein kommt und die Treue zur Treue infrage
gestellt wird. Erst in diesem Moment tritt die Ethik als Korrektiv
auf.
Badious Ethik der Wahrheiten ist also eine Ethik der Treue, eine
Treue zur Treue. Diese Ethik steht entsprechend dem Prinzip der
Konsistenz unter der Maxime des Weitermachens (E, 113) oder des
Ausharrens. Dabei zeigt sich wiederum der doppelte Aspekt von Kontinuität
und Bruch:
Die Ethik einer Wahrheit lautet also problemlos:
‚Tue alles, was du kannst, um das ausharren zu lassen, was über
das Ausharren hinausgeschritten ist. Harre in der Unterbrechung
aus. Ergreif in deinem Sein, was dich ergriffen und gebrochen hat.’
(E, 69)
Wenn Badiou die Treue in den Mittelpunkt seiner Ethik stellt, dann
muss vor allem betont werden, dass es sich bei der Treue nicht um
die Treue zu einer Person oder Sache, nicht zu einer Gemeinschaft
oder Weltanschauung handelt, sondern um die Treue zu einem Ereignis.
Das heißt, die Treue zu einem Ereignis ist kein despotisches Festhalten
an einem früheren Geschehen, weil der durch ein Ereignis ausgelöste
Wahrheitsprozess in ständigem Bezug zur gegenwärtigen Situation
steht. Was aus der Treue zu einem Ereignis folgt, hängt nicht nur
von den Ereignissen ab, sondern auch von den Situationen, die aus
der Perspektive des Ereignisses interpretiert werden. Somit ist
der Wahrheitsprozess ein offener Prozess, der den Veränderungen
der Situation Rechnung trägt. Ähnliches gilt auch für das konkrete
Handeln und Denken. Wie sich die ethische Haltung unter konkreten
Umständen zeigt und wie sich die Treue genau ausprägt, ist nicht
normativ vorgegeben, sondern hängt von zwei Aspekten ab. Einerseits
ist die Teilhabe an der Subjektkomposition von der Individualität
der Individuen abhängig, sodass es durch die „menschliche Vielfalt“
(E, 69) auch mannigfaltige Ausprägungen der Treue geben kann. Und
andererseits entscheidet das Individuum, welche Rolle es seiner
Treue zu einem Wahrheitsprozess zuerkennt und wie sich sein desinteressiertes
Interesse mit seinen lebensnotwendigen Interessen komponiert.
Das Ziel von Badious Ethik der Wahrheiten besteht darin, die Fortsetzung
der Wahrheitsprozesse zu gewährleisten und die Gefahren zu bannen,
die der Treue zu den Wahrheitsprozessen innewohnen. Oder anders
ausgedrückt, die Ethik der Wahrheiten versucht, „dem Bösen durch
ihre eigene Treue zu den Wahrheiten entgegenzutreten – dem Bösen,
von dem sie erkannt hat, dass es die Kehrseite oder die Schattenseite
dieser Wahrheiten ist“ (E, 114).
Das Böse
Für unsere Zeit heute muß ein Denken
der Wahrheit in Angriff genommen
werden, das mit der Leere verbunden ist, ohne dabei die Figur des
Meisters zu
passieren. Weder den geopferten noch den hervorgerufenen Meister.
(KH, 74)
Im Gegensatz zur zeitgenössischen „ethischen“
Ideologie kann man nicht von der Evidenz des Bösen ausgehen: der
bestehende Konsens über das Böse ist immer prekär. Um zwischen dem
Bösen und der Schlechtigkeit – oder wie man es mit Badiou auch sagen
könnte: der grausamen Unschuld des Lebens – zu unterscheiden, reicht
es nicht aus, einen Konsens über das, was böse ist, zu erzielen.
So evident das Böse auch manchmal sein mag, die Evidenz ist immer
problematisch, denn: „Seit Althusser weiß man, dass nichts weniger
evident ist als die Evidenz.“10 Das Böse muss dagegen
als Böses gedacht (E, 53) und dessen Konstitutionsbedingungen
bestimmt werden.
Badiou nimmt im Verhältnis zur ideologischen „Ethik“ eine Umkehrung
vor und schließt sich dadurch wieder an die philosophische Tradition
seit Aristoteles an: Nicht das Gute muss vom Bösen her, als Vermeidung
des Bösen, gedacht werden, sondern umgekehrt:
Wenn es überhaupt Böses gibt, muss es vom Guten
her gedacht werden. Ohne die Beachtung des Guten und also der Wahrheiten
gibt es nur die grausame Unschuld des Lebens, die diesseits des
Guten und des Bösen ist. (E, 83)
Für Badiou ist das Böse keine Abwesenheit des Guten, sondern das
Böse ist eine Verkehrung des Guten oder – wie er auch sagt – „eine
gestörte Wirkung der Macht des Wahren“ (E, 84). Er wendet sich dabei
gegen Definitionen, die wie z.B. Platons „das Böse als einfache
Abwesenheit der Wahrheit“ oder „als Nicht-Wissen des Guten“ bestimmen
(E, 84). Der entscheidende Punkt von Badious Konzeption des Bösen
ist also die Ableitung des Bösen vom Guten: das Böse gibt es nur,
weil es das Gute gibt, gäbe es das Gute nicht – und wie wir gesehen
haben, bestimmt Badiou das „normale“, auf seinen Interessen beruhende
Leben des Menschen als unschuldig und somit diesseits von Gut und
Böse -, gäbe es auch kein Böses. Deshalb ist das Böse, wie das Gute
auch, „keine Kategorie des menschlichen Tieres“, sondern „eine Kategorie
des Subjektes“ (E, 90) und steht mit der anderen Dimension der Wirklichkeit
in Zusammenhang. Erst durch die Überschreitung von Situationen,
durch die Überschreitung der Interessen des Individuums und durch
die Konstituierung des Subjektes als unsterbliche Einzigkeit lassen
sich die menschlichen Handlungen als gut oder böse bezeichnen.
Innerhalb seiner Ethik der Wahrheiten unterscheidet Badiou drei
Formen des Bösen. Sie leiten sich aus den drei Hauptdimensionen
eines Wahrheitsprozesses ab, nämlich Ereignis, Treue des Subjektes
und Wahrheit. Diese Ableitungen beschreiben die Gefahren, die sich
in der Ethik der Wahrheiten aus der Bezugnahme auf ein Gutes ergeben.
Die Differenzierung in drei Formen des Bösen gibt es natürlich in
allen vier Bereichen der Wahrheit. Weil diese Wahrheitsprozesse
heterogen sind, gibt es nur formale Übereinstimmungen in Bezug auf
die drei Formen des Bösen: über diese Übereinstimmungen hinaus zeitigen
sie ganz spezifische Wirkungen, die sich nicht aufeinander reduzieren
lassen. Wenn im Folgenden diese drei Formen des Bösen beschrieben
und bestimmt werden, können nur vereinzelte Beispiele aus den verschiedenen
Bereichen herangezogen werden.
a.) Trugbild und Terror
Ein grundlegendes Problem von Badious Philosophie
des Ereignisses besteht in der genauen Bestimmung der Ereignisbegriffs.
Wenn Badiou ein Ereignis als immanenten Bruch, als Übergang von
einer Situation in eine andere bestimmt, dann impliziert diese Definition
nicht notwendigerweise, dass jeder Bruch, jede Neuheit auch schon
ein Ereignis ist (E, 95). Es stellt sich also die Frage, nach welchen
Kriterien sich ein „authentisches Ereignis“ (E, 99) von einem nichtauthentischen
Ereignis, einem „Pseudoereignis“ (TS, 188) unterscheiden lässt und
was ein Ereignis als Ereignis kennzeichnet. Um an dieser Stelle
das markanteste Beispiel zu nennen: wie lässt sich das Ereignis
der Oktoberrevolution von einem Pseudoereignis wie der „national-sozialistischen
Revolution“ unterscheiden? Für Badiou war die Machtübernahme der
Nazis zwar ein „Bruch mit der alten Ordnung“ (E, 96), aber deshalb
ist sie noch kein Ereignis im Sinne Badious. Um diese Unterscheidung
auch begrifflich zu markieren, führt er den Begriff des Trugbildes
ein: im Gegensatz zu „wahrhaften Ereignissen“ (E, 96) gibt es Trugbilder
von Ereignissen, wie z.B. die „national-sozialistische Revolution“.
Trugbilder sind für Badiou die erste Form des Bösen und kennzeichnen
sich dadurch, dass sie meistens Terror nach sich ziehen.
Das Böse ist der Prozess eines Trugbildes der Wahrheit.
Und es ist wesentlich Terror gegenüber allen unter einem von ihm
erfundenen Namen. (E, 102)
Die Schwierigkeit, zwischen echten Ereignissen und deren Trugbild
zu unterscheiden, beruht auf zahlreichen Übereinstimmungen zwischen
beiden Modi. (Diese Übereinstimmungen hatten auch dazu geführt,
dass „Heidegger eine ganze Weile von einem Trugbild eingenommen
wurde. Er glaubte, es mit dem Ereignis seines eigenen Denkens zu
tun zu haben.“ E, 117) Es handelt sich nach Badiou um formale Übereinstimmungen.
In Bezug auf unser Beispiel aus dem Bereich der Politik nennt er
folgende Übereinstimmungen: „der Bruch der alten Ordnung, die Unterstützung,
die man durch Massenversammlungen erwartet, der diktatorische Stil
des Staates, das Pathos der Entscheidung, die Verherrlichung des
Arbeiters“ (E, 96) und die „Verpflichtung zu einer Treue“ (E, 97).
Diese formalen Übereinstimmungen hatten immer wieder dazu geführt,
sowohl die „national-sozialistische Revolution“ als Wiederholung
der Oktoberrevolution zu betrachten als auch Faschismus und Stalinismus
gleichzusetzen. Badious Theorie des Bösen bietet im Gegensatz zu
den Totalitarismustheorien die Möglichkeit, genau zwischen beiden
Politiken zu unterscheiden. So handelt es sich bei der Oktoberrevolution
um ein echtes Ereignis und beim Stalinismus um einen Totalitarismus,
der nicht der ersten Form, sondern der dritten Form des Bösen zugeordnet
wird. Und bei der „national-sozialistischen Revolution“ handelt
es sich um eine Wiederholung der Oktoberrevolution in dem Sinne,
dass sie die Benennungen „Sozialismus“ und „Revolution“ aufgreift
und auf sie anspielt, ohne deren Wahrheit, den „Klassenkampf“ (TS,
190) zu wieder-holen. Stattdessen werden die Klassengegensätze durch
rassistische Gegensätze, von Deutschen und Juden, von Ariern und
Nicht-Deutschen ersetzt. Durch diese wieder-holende Verschiebung
auf der inhaltlichen Ebene entsteht ein Trugbild eines Ereignisses.
Jenseits der formalen Übereinstimmungen gibt es also inhaltliche
Differenzen zwischen einem Ereignis und einem Trugbild. Die beiden
wichtigsten sind: zum einen impliziert Badious Begriff der Wahrheit,
dass sie sich an alle wendet: es gibt keine Wahrheit einer Partikularität,
sondern nur universelle Wahrheiten. Und zum anderen bezieht sich
das Ereignis auf die Leere einer Situation und nicht auf ein Element
der Situation, wie es z.B. die Bezugnahme auf das deutsche Volk
wäre. Diese beiden Aspekte bilden die eng miteinander zusammenhängenden
Kriterien für die Unterscheidung von Ereignissen und Trugbildern.
Was bewirkt, dass ein wahrhaftes Ereignis am Ursprung
einer Wahrheit, der einzigen Sache, die für alle da und ewig ist,
sein kann, ist eben, dass es mit der Besonderheit einer Situation
nur indirekt über seine Leere verknüpft ist. Die Leere, das Vielfache-von-Nichts,
schließt niemanden aus noch zwingt es ihn. Es ist die absolute Neutralität
des Seins, derart, dass die Treue, an deren Ursprung ein Ereignis
steht, obgleich sie ein immanenter Bruch in einer einzigartigen
Situation ist, sich nichtsdestoweniger an alle richtet. (E, 96)
Konkret heißt das, dass die Leere der Situation erst einmal erreicht,
freigelegt werden muß. Geschieht dies bei einem Bruch nicht, entsteht
ein Trugbild eines Ereignisses. Dieses Nicht-Erreichen der Leere
und ein Element der Situation zur „Wahrheit“ der Situation zu machen,
zeigt sich in dem nationalsozialistischen Bruch mit den bestehenden
Verhältnissen, in der Beschränkung der „Wahrheit“ auf das deutsche
Volk und der Einsetzung des „Juden“ als diskursive Funktion, als
„abstrakte Universale“ (E, 100). So kehrt das Universelle als Negation
des Substantiellen, in Form des Nicht-Deutschen wieder. Welcher
Terror daraus folgte, ist ja hinlänglich bekannt. Badiou betont,
dass es sich bei diesem Terror nicht um politischen Terror, d.h.
Terror gegen die politischen Feinde, sondern um substanziellen Terror
handelt, der den Tod – oder dessen „aufgeschobene Form“: die „Versklavung“
(E, 98) – zum universellen Prinzip für alle Nicht-Deutschen macht:
„damit die Substanz sein kann“, darf „nichts sein“ (E, 101),
was nicht zur Substanz gehört. Dadurch wird jeder Einzelne auf sein
„Sein-zum-Tod“ (E, S.101) oder, wie Agamben sagen würde, auf „das
nackte Leben“11 reduziert.
Diese Form des Bösen als Trugbild des Ereignisses und der damit
verbundenen Entäußerung der Treue als Terror gilt natürlich nicht
nur für die politischen Wahrheitsprozesse. Auch in den Bereichen
der Wissenschaft, Kunst und Liebe gibt es diese Gefahr der Verkehrung
ins Böse, die durch die Ethik gebannt werden soll. So schreibt Badiou
in Bezug auf den Wahrheitsprozess der Liebe:
So kann man einsehen, dass gewisse sexuelle Leidenschaften
Trugbilder des Liebes-Ereignisses sind. Dass sie in dieser Eigenschaft
Terror und Gewalt nach sich ziehen, steht außer Zweifel. (E, 101)
b.) Verrat
Jeder Wahrheitsprozess hat, wie wir gesehen haben,
drei Dimensionen. Der Wahrheitsprozess im Ganzen beruht darauf,
dass es die Treue des Subjektes gibt: ohne Subjekte gäbe es keinen
Ort, an dem sich das Ereignis bewahren könnte, und keinen Träger
der Wahrheit, der die Wahrheit eines Ereignisses bezeugen könnte.
Diese Treue ist nicht nur die Treue zur Wahrheit eines Ereignisses,
sondern auch die Treue zu sich selbst. Einer Treue zum Ergriffensein
durch ein Ereignis. Somit impliziert diese Treue ein Selbstverhältnis,
ein Verhältnis des Einzelnen zu sich selbst, zu seinem Subjekt-Werden.
Dieses Selbstverhältnis markiert die zweite Dimension des Wahrheitsprozesses
und impliziert durch die Verkehrung des Guten die zweite Form des
Bösen. Badiou benennt dieses Böse – in Übereinstimmung mit dem üblichen
Sprachgebrauch – als Verrat. In seiner Bestimmung dieser Form des
Bösen stellt er nicht den Verrat an der Wahrheit in den Mittelpunkt,
sondern den Verrat an sich selbst: denn „von einer Treue abfallen
ist das Böse als Verrat an seinem eigenen Selbst als Unsterblicher,
der man ist“ (E, 95).
Der Verrat als Abkehr von der Treue wird möglich, weil das „Subjekt-Werden“
(E, 102) des Individuums immer prekär ist. Zum einen gibt es durch
den ontologischen Status des Ereignisses, seines Verschwunden-Seins
eine „Ungewissheit der Treue“ (E, 94), zum anderen hat der Einzelne
die nicht immer einfache Aufgabe, das desinteressierte Interesse
der Wahrheit mit den Interessen seines eigenen Lebens zu verbinden,
und außerdem ist das Subjekt immer wieder der Macht der Meinungen
ausgesetzt, gegen die es seine Wahrheit behaupten muss. Durch diese
vielfältigen Schwierigkeiten kann es zu einer Krise des Subjektes
kommen, in welchem Bereich der Wahrheit es auch immer sei.
Alle Welt kennt die Augenblicke der Krise eines Liebhabers, der
Entmutigung eines Forschers, der Erschöpfung eines Aktivisten, der
Sterilität eines Künstlers. Oder auch des anhaltenden Unverständnisses
gegenüber einem mathematischen Beweis auf der Seite des Leser, der
sich nicht auflösen wollenden Dunkelheit eines Gedichtes, dessen
Schönheit man jedoch vage wahrnimmt, usw. (E, 102)
Die Krise kennzeichnet sich dadurch, dass das Subjekt weiterhin
unter der Maxime des „Weitermachens“ steht, aber gleichzeitig das
Bild verschwunden ist, das der Einzelne durch seine Teilhabe an
einem Wahrheitsprozess und deren Integration in sein Leben konstituiert
hat. Es entsteht also in der Krise eine Diskrepanz zwischen dem
Bild seiner Selbst, das die Teilhabe an einem Wahrheitsprozess begleitet,
und der Aufforderung des Unsterblichen in ihm, den Wahrheitsprozess
fortzusetzen (E, 103). Diese Differenz kennzeichnet die Erfahrung
der Krise, die Badiou wie folgt beschreibt:
Eine Krise der Treue ist immer etwas, was die einzige
Maxime der Konsistenz, also der Ethik des ‚Weitermachen!’ durch
die Abwesenheit eines Bildes auf die Probe stellt. Weitermachen,
selbst dann, wenn man die Spur verloren hat, man sich nicht mehr
von dem Prozess ‚eingenommen’ fühlt, das Ereignis selbst dunkel
geworden ist, sein Name sich verloren hat oder man sich fragt, ob
es nicht der Name eines Irrtums, ja ein Trugbild, war. (E, 103)
Wichtig bei diesem Moment der Krise ist, dass alle Dimensionen des
Wahrheitsprozesses von diesen Zweifeln betroffen werden, obwohl
sie sich in der zweiten Dimension konstituieren. Das sich in der
Krise befindende Subjekt stellt den Wahrheitsprozess, durch den
es sich selbst konstituiert hat, selbst infrage: dass das Ereignis,
auf das es sich beruft, nur ein Trugbild sei und dass die Macht,
die es auf sich selbst ausübt, Terror sei (E, 103).
Diese Krise kann nun zu einem Verrat des Einzelnen an einem Wahrheitsprozess
führen – und das heißt, wie bereits gesagt, gleichzeitig auch an
sich selbst, an seinem eigenen Selbst, weil der Verrat immer eine
doppelter ist: an der Wahrheit des Ereignisses und an seiner Subjektivierung
durch das Ereignis. Als Beispiel für „die Versuchung nachzugeben,
sich von der subjektiven Komposition zurückzuziehen“ (E, 77) lassen
sich folgende anführen:
eine Liebe zu zerstören, weil sich ein obszönes Begehren aufdrängt,
eine politische Linie zu verraten, weil sich das Ausruhen im ‚Dienst
an den Gütern’ anbietet, den wissenschaftlichen Eifer durch den
Wettlauf nach Glaubwürdigkeit und Ehren ersetzen oder gar in den
Akademismus unter dem Schutz der Propaganda, die den ‚überholten’
Charakter der Avantgarden anprangert, zurückzufallen. (E, 77)
Bei diesem Verrat findet wieder die doppelte Bewegung von Bruch
und Kontinuität statt, aber nun umgekehrt. Auf der einen Seite wird
die Kontinuität des Wahrheitsprozesses gebrochen und auf der anderen
Seite gibt es eine Wiederherstellung mit der Kontinuität der Situation
und der Meinungen. Doch diese Wiederherstellung kann keine Rückkehr
zu dem Zustand vor der Induzierung des Wahrheitsprozesses sein.
Wie Badiou sagt: der „Verrat ist kein bloßer Verzicht.“ (E, 103).
Das Ereignis hat stattgefunden, es hat eine Treue des Subjektes
gegeben und man hat mit der Wahrheit des Ereignisses gelebt: all
dies lässt sich nicht einfach auslöschen. Der Verrat ist ja nicht
nichts, er ist ja keine Abwesenheit der Treue, sondern immer Verrat
von etwas und an sich selbst. Treue und Verrat hinterlassen Spuren,
die immer noch wirken. Dadurch erklärt sich auch, warum der Verrat
an einer Wahrheit zur Folge hat, dass man zum Feind der Wahrheit
wird, an die man geglaubt hat. Aus diesem Grund kann Badiou auch
sagen, dass der Verrat ein Böses ist, „von dem man sich nicht erholt“
(E, 104).
c.) Desaster der Wahrheit
Wie bereits mehrfach erwähnt, besteht ein immanenter
Zusammenhang zwischen den Dimensionen des Wahrheitsprozesses – dem
kontingenten Ereignis, dem endlichen Subjekt und der unendlichen
Wahrheit. Fehlt eine dieser Dimensionen könnte sich der Wahrheitsprozess
– und d.h. auch das Gute – als solches nicht konstituieren. Während
sich das Gute in dem gleichzeitigen Vorhandensein aller drei Dimensionen
zeigt, teilt sich das Böse in drei zu differenzierenden Formen:
das Böse statt des Guten, das Böse nach dem Guten und das Böse mit
dem Guten. So lassen sich die drei Formen des Bösen als stufenweise
Steigerung der Verquickung des Bösen mit dem Guten verstehen. Beim
Trugbild ist es die Verwechslung mit dem wahren Ereignis – von daher
ist die erste Form des Bösen von Anfang an „böse“. Dagegen hat es
bei der zweiten Form des Bösen das Gute vorher schon gegeben, erst
danach findet eine Verkehrung vom Guten zum Bösen statt: Verrat
kann es nur dann geben, wenn es vorher eine Treue des Subjektes
gegeben hat. Bei der dritten Form des Bösen handelt es sich um ein
Böses, das dem Guten selbst eingeschrieben ist: es handelt sich
um die Identifizierung der „Wahrheit mit einer totalen Macht“ (E,
95). Badiou bezeichnet diese Form des Bösen als „Desaster der Wahrheit“
(E, 110). Die Verabsolutierung der Wahrheit, die zu einer Übersteigerung
des Guten und das heißt zum Bösen führt, ist eng mit der Sprache
verknüpft.
Entsprechend den beiden Seiten der Wirklichkeit unterscheidet Badiou
auch zwischen zwei Sprachen: zwischen der situativen Sprache und
der Subjekt-Sprache. Die situative Sprache ist die „pragmatische
Möglichkeit“, die in einer Situation „zusammenkommenden Elemente
zu benennen und über sie Meinungen auszutauschen“ (E, 106). Meinungen
sind für Badiou „Vorstellungen ohne Wahrheit, die anarchischen Überbleibsel
des geläufigen Wissens“ (E, 72), und dienen dazu, die Kommunikation
zwischen den Individuen aufrecht zu halten. Im Gegensatz zu dieser
auf Kommunikation beruhenden Sprache bezieht sich die Subjekt-Sprache
nicht auf Meinungen, sondern auf Wahrheit. Doch wie die beiden Seiten
der Wirklichkeit und der sie ausdrückenden Begriffe – wie z.B. Ereignis
und Situation – nicht voneinander getrennt gedacht werden können,
so stellt sich auch zwischen beiden Sprachen ein immanenter Zusammenhang
her. Denn es gibt keine Wahrheit außerhalb der Situation: jede Wahrheit
ist die Wahrheit einer Situation und gehört nur zu ihr. Wie die
Meinung bezieht sie sich auf Elemente der Situation und greift dabei
die situative Sprache auf, um die Elemente der Situation zu benennen.
Im Unterschied zur Meinung wird beim Wahrheitsprozess die Situation
aus der Perspektive des Ereignisses betrachtet und gleichzeitig
transformiert sich die situative Sprache in eine Subjekt-Sprache,
die Bedeutung nur für diejenigen Individuen hat, die an diesem Wahrheitsprozess
teilhaben.
Jede Wahrheit hat auch mit den Elementen der Situation
zu tun, da ihr Prozess nichts anderes ist, als sie vom in der
Perspektive des Ereignisses aus zu prüfen. In diesem Sinn gibt
es eine Identifizierung dieser Elemente durch den Wahrheitsprozess,
und da es sich um jemand handelt, der an der Komposition eines Wahrheitssubjektes
teilhat, ist es gewiss, dass er zu dieser Identifizierung beitragen
wird, indem er die situative Sprache gebraucht, die er als ‚Jemand’
wie jedermann praktiziert. Von diesem Standpunkt aus durchquert
der Wahrheitsprozess die situative Sprache auf die gleiche Weise,
wie er alle Kenntnisse durchquert. (E, 106)
Die Subjekt-Sprache konstituiert sich dadurch, dass sie die situative
Sprache aufgreift, um die Situation aus der Perspektive des Ereignisses
zu überprüfen und deren Wahrheit in die Sprache einzuschreiben.
Dadurch entstehen – entsprechend den vier Wahrheitsbereichen – die
Sprachen des Aktivisten, der Forscher, der Künstler und der Liebenden.
Wichtig bei dieser Unterscheidung von Subjekt-Sprache und situativer
Sprache ist, dass die Subjekt-Sprache „ein ganz alltägliches Aussehen
haben“ kann (E, 107) (wie z.B. die Äußerung „Ich liebe dich“ bei
einer Liebeserklärung), während sich gleichzeitig zwischen den Subjekten
(den Liebenden) eine Subjekt-Sprache konstituiert, deren „Macht
in der Situation völlig losgelöst“ ist „vom gemeinen Gebrauch derselben
Worte“ (E, 107). Hier zeigt sich, wie schon in der biblischen Erzählung,
die Bedeutung der Sprache für die Logik des Schibboleths.
Es gibt also einen immanenten Zusammenhang von Macht und Wahrheit.
Durch die Subjekt-Sprache ist das Einschreiben einer Wahrheit in
die situative Sprache möglich. Die Wahrheit hat die Macht, die Meinungen
zu verändern, ohne dass diese selbst wahr werden könnten (E, 105).
Im Unterschied zur situativen Sprache impliziert die Subjekt-Sprache
eine Kohärenz, wodurch es möglich scheint, „alle Elemente
der objektiven Sprache im Ausgang vom Wahrheitsprozess zu benennen
und zu bewerten“ und „die Totalität der objektiven Situation in
die besondere Kohärenz einer subjektiven Wahrheit“ (E, 108)
einzuordnen. Für Badiou impliziert also die positive Möglichkeit,
die Meinungen durch die Wahrheit zu verändern und die objektiven
Situationen aus der Perspektive von deren Wahrheit zu überprüfen,
die Gefahr, dass diese Macht der Wahrheit umschlägt und zu einer
totalen Macht wird. Der Dogmatismus der Wahrheit und das Erstarren
der Subjekt-Sprache sind die deutlichsten Anzeichen dieser totalen
Macht. Welche Folgen diese Verknüpfung von Macht und Wahrheit haben
kann, hat sich in der Geschichte ja hinlänglich gezeigt.
Die Totalisierung der Wahrheit betrifft nicht nur ihr Anderes, sondern
auch den Wahrheitsprozess selbst: die Totalisierung der Wahrheit
führt zu einer Unterbrechung des eigenen Wahrheitsprozesses und
zwar auf drei Ebenen. 1. Die Spannung in der Komposition des Individuums
zwischen den lebensnotwendigen Interessen und den desinteressierten
Interessen, die sich aus der Treue zu einem Wahrheitsprozess ableiten,
wird einseitig zugunsten der Wahrheit aufgelöst. Damit wird auch
„das menschliche Tier“ ruiniert, das ja Träger dieser Wahrheit ist.
2. Es werden durch den Dogmatismus Veränderungen der Wirklichkeit
nicht mehr wahrgenommen und diese nicht in das eigene Denken integriert.
3. Die grundsätzlichen Differenzen zwischen Ereignis und Situation,
Wahrheit und Wissen, Subjekt-Sprache und situativer Sprache werden
eingezogen: so hat z.B. die Totalisierung der Wahrheit das Ziel,
die Meinung zu vernichten (E, 108).
Was sich hier also zeigt, ist die Bedeutung, die die ontologische
Differenz für die politische Theorie bekommen kann. Für Badiou bedeutet
die ontologische Differenz zuallererst, dass es keine Totalität
des Seienden geben kann. Die ontologische Differenz garantiert,
dass es immer ein Spannungsverhältnis zwischen den zwei Seiten der
Wirklichkeit und den sie explizierenden Begriffen gibt. Aus der
Perspektive der ontologischen Differenz gibt es zwei Möglichkeiten
der Totalisierung. Zum einen die positive Totalität: die eine Seite
der Wirklichkeit wird entsprechend dem philosophischen Schibboleth
ignoriert und die Wirklichkeit reduziert sich auf die Totalität
des Gegebenen. Zum anderen die hier beschriebene Totalität der Wahrheit:
aus einem Wahrheitsprozess wird ein starres, dogmatisches System
gemacht, das alle positiv gegebenen Elemente in dieses System einordnet.
Bei beiden Totalisierungen wird die ontologische Differenz als solche
eingezogen. Aus Badious ethischer Perspektive heißt das: entweder
gibt es das Gute nur als Nicht-Böses oder das Gute verkehrt sich
zum Bösen. Diese Gefahr der Verabsolutierung des Guten versucht
Badiou zu bannen, indem er dem Guten eine Selbstbeschränkung auferlegt.
Das Gute ist das Gute nur insofern, als es nicht
vorgibt, die Welt zum Guten zu wenden. Ihr einziges Sein ist die
Herankunft als Situation einer einzigartigen Wahrheit. Es ist also
nötig, dass die Macht einer Wahrheit auch eine Ohnmacht ist. (E,
103)
Um dieser Ohnmacht der Wahrheit auch Raum zu geben und um der Totalisierung
der Wahrheit deren Detotalisierung entgegenzusetzen, spricht Badiou
mit Mallarmé vom „beschränkten Handeln“ (PW, 62). Durch diese Formel
soll die Offenheit des Wahrheitsprozesses garantiert und die Differenz
von Wahrheit und Meinung aufrecht gehalten werden. Diese politische
Selbstbeschränkung wird von Badiou auch ontologisch begründet. Die
Totalisierung der Wahrheit ist politisch nicht nur gefährlich, sondern
ontologisch auch gar nicht möglich. Dies impliziert schon die ontologische
Differenz. Für Badiou gibt es in jedem Wahrheitsprozess etwas Unnennbares,
das Teil des Wahrheitsprozesses ist, sich aber gleichwohl der Macht
der Wahrheit entzieht. Für die Liebe ist es die sexuelle Lust, für
das Gedicht die Macht der Sprache (KH, 39), für die Mathematik die
Konsistenz und für die Politik ist es die Gemeinschaft (E, 112).
Diese Unnennbarkeiten sind „unnennbar für die Subjekt-Sprache“ (E,
111). Werden sie dennoch benannt, dann findet ein Übergang von der
Subjekt-Sprache zur Meinung statt und dadurch verliert sie ihren
Bezug zur Wahrheit. Die Totalisierung der Wahrheit impliziert also
„um jeden Preis die Benennung erzwingen zu wollen“ (E, 112). Dies
ist die dritte Form des Bösen als Desaster der Wahrheit und kann
in allen vier Wahrheitsbereichen stattfinden.
Die Gefahr der Totalisierung der Wahrheit, die es ja auch in der
Philosophie geben kann, wird in der Philosophie Badious schon in
ihrer Grundlegung durch zwei Aspekte gebannt. Zum einen gibt es
für Badiou nicht nur eine Wahrheit, sondern vier Wahrheiten. Jede
der vier Bedingungen der Philosophie hat ihre eigene Wahrheit. Durch
die Heterogenität der Wahrheitsprozesse ist es nicht mehr möglich,
einen Bereich des Denkens auf einen anderen zu reduzieren (z.B.
Liebe auf Politik) und die Totalität einer Wahrheit herzustellen.
Zum anderen erhebt Badiou jede der vier Bedingungen der Philosophie
zu eigenständigen Denkformen, wodurch sich eine gewisse Distanz
zwischen den Bedingungen – z.B. dem politischen Denken und der Philosophie
– herstellt. Dadurch wird verhindert, dass sich die Philosophie
mit einer ihrer Bedingungen vernäht12 und sich eine philosophisch-wissenschaftliche
(wie der Positivismus) oder eine philosophisch-politische Totalität
(wie der Marxismus) konstituiert. Die Idee einer Verwirklichung
bzw. Aufhebung der Philosophie in der Wirklichkeit lehnt Badiou
nicht nur ab, sondern sie wird durch seine Konzeption von Philosophie
schon von vornherein ausgeschlossen.
Zum Ende noch ein Zitat von Badiou, in dem angedeutet wird, welche
„Tugenden“ die Ethik der Wahrheiten bedarf, damit die Wahrheitsprozesse
nicht unterbrochen werden und der Einzelne sein „Weitermachen“ nicht
aufgibt. Aus den drei Arten des Bösen – Trugbild, Verrat und Desaster
– lassen sich drei entsprechende Tugenden ableiten. Sie sollen verhindern,
dass man weder glaubt, „dass die Macht einer Wahrheit total“ ist,
noch „einer Wahrheit aus dem Wege“ geht und auch kein „unbeugsamer
Anhänger eines falschen Ereignisses“ wird (E, S.113).
Die Ethik verbindet also unter dem Imperativ ‚Weitermachen!’
eine Quelle des Unterscheidens (sich nicht von den Trugbildern einnehmen
zu lassen), des Muts (nicht nachzugeben) und der Zurückhaltung (sich
nicht den Extremen der Totalität hinzugeben). (E, 114)
Somit wird deutlich, dass es Badiou nicht darum geht, „gegen ein
äußeres und radikales Böses zu streiten“ (E, S.114). Das Böse ist
eine immanente Möglichkeit, die den Wahrheitsprozessen selbst innewohnt.
Das Böse ist „die Kehrseite oder die Schattenseite“ (E, 114) der
Wahrheiten. Mit seiner Ethik versucht Badiou „dem Bösen durch ihre
eigene Treue zu den Wahrheiten entgegenzutreten“ (E, 114) und die
Gefahren zu bannen, die sich aus dem Eintreten für eine Wahrheit
ergeben können: damit der Kampf für ein Gutes sich nicht in ihr
Gegenteil verkehrt und damit die Möglichkeit dieser Verkehrung nicht
dazu führt, den Kampf für eine Wahrheit zu unterlassen.
|
|
|
Anmerkungen
1 Ricoeur 1989, 66.
2 Vgl. die Sigelliste in der Bibliographie.
3 Neske, Kettering 1988, 99.
4 Zitiert nach GT, 25.
5 Vgl. dazu neuerdings Habermas 2001.
6 Dem Übersetzer dieses Textes, Jürgen Brankel, sei an dieser Stelle Dank ausgesprochen für die freundliche Überlassung seines Manuskriptes vor dessen Veröffentlichung.
7 Übersetzung in Zizek 2001, 177.
8 Vgl. Lipowatz 1982, 138f.
9 Benjamin 1980, 275.
10 Zupancic 2001, 56.
11 Agamben 2002, 18.
12 Vgl. dazu Badiou 1997, 51-61.
Literatur
Agamben,
Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben.
Frankfurt am Main 2002.
Badiou, Alain: Paulus. Die Begründung des Universalismus.
(P) München 2002.
Badiou, Alain: L'être et l'événement. (EE) Paris 1988.
Badiou, Alain: Manifest für die Philosophie. (MP)
Wien 1997.
Badiou, Alain: Die gegenwärtige Welt und das Begehren der
Philosophie. Aus: Badiou, Alain; Rancière, Jacques; Riha, Rado u.a.
(Hrsg.): Politik der Wahrheit. (PW) Wien 1997, 9-30.
Badiou, Alain: Lacans Herausforderung der Philosophie. Aus:
Badiou, Alain; Rancière, Jacques; Riha, Rado u.a. (Hrsg.): Politik
der Wahrheit. (PW) Wien 1997, 46-53.
Badiou, Alain: Wahrheiten und Gerechtigkeit. Aus: Badiou,
Alain; Rancière, Jacques; Riha, Rado u.a. (Hrsg.): Politik der
Wahrheit. (PW) Wien 1997, 54-63.
Badiou, Alain: Gott ist tot. Kurze Abhandlung über eine
Ontologie des Übergangs. (GT) Wien 2002.
Badiou, Alain: Kleines Handbuch der In-Ästhetik. (KH)
Wien 2001.
Badiou, Alain: Ethik. Versuch über das Bewußtsein vom
Bösen. (E) Wien 2003.
Benjamin, Walter: Theologische Kritik. Zu Willy Haas, „Gestalten
der Zeit“. Aus: Gesammelte Schriften. Band III. Frankfurt
am Main 1980.
Habermas, Jürgen: Glauben und Wissen. Friedenspreis des
deutschen Buchhandels. Frankfurt am Main 2001.
Lipowatz, Thanos: Die vier Diskurse. Aus: Hombach, Dieter
(Hrsg.): Mit Lacan. ZETA 02. Berlin 1982, 137-154.
Neske, Günther; Kettering, Emil (Hrsg.): Antwort. Martin
Heidegger im Gespräch. Tübingen 1988.
Ricoeur, Paul: Der Skandal des Bösen. In: Lettre,
Jg. 1989, H. 5, 66-67.
Zizek, Slavoj: Die Tücke des Subjekts. (TS) Frankfurt
am Main 2001.
Zupancic, Alenka: Das Reale einer Illusion. Frankfurt
am Main 2001.
|
|
|
Download als PDF-Dokument (134 KB)
Download als RTF-Dokument (213 KB)
Erstveröffentlichung des Textes in: Plurale.
Zeitschrift für Denkversionen, Nr. 3.
|
|
|
Wilhelm
Roskamm
|
|
 |
|