Die Frage, mit der ich mich befassen werde, ist
dem Anschein nach allgemein, entstammt aber einem ganz bestimmten
Kontext. Sie wird von einer äußerst paradoxen Situation
getragen, die dem Denken des Politischen im Rahmen der liberalen
Demokratien wohlbekannt ist. So verkündet man namentlich in
Frankreich die letzten zehn Jahre die Wiederherstellung einer endlich
von den Fesseln der Sozialwissenschaft befreiten politischen Philosophie.
Nun ist es aber so, daß einerseits die Aussagen dieser wiederhergestellten
politischen Philosophie im Wesentlichen in akademischen Kommentaren
zu einigen kanonischen Autoren bestehen und, einmal auf die Gegenwart
angewandt, kaum mehr zustande bringen, als gängige Ansichten
über Recht, Rechtsstaat, Gesetz und Konsens zu beglaubigen,
die dem Selbstverständnis der liberalen Demokratien angehören.
Und andererseits ist diese Philosophie mit einer beunruhigenden
Begleiterscheinung verbunden, daß nämlich das Politische
selbst zu einer wahren Seltenheit geworden ist. Zu einer Zeit, in
der man dem Politischen im Namen des Sozialen, der sozialen Bewegungen
oder der Sozialwissenschaft sein Daseinsrecht abzustreiten suchte,
bekundete es sich dennoch in einer Vielfalt von Subjektivierungsweisen
und -orten, auf der Straße, in den Fabriken oder auf den Universitäten
zum Beispiel. Die wiederhergestellte politische Philosophie meldet
sich heute im Schweigen und Ausbleiben dieser Orte zu Wort. Sie
meldet sich in der ständig abnehmenden Anzahl der subjektiven
Akteure des Politischen zu Wort. Sie geht mit einer politischen
Praxis einher, von der das Politische immer mehr ins Abseits gedrängt
wird, von der es zu kaum mehr fähig, als sich hier und da den
Schwankungen des Weltmarktes anzupassen, erklärt wird.
Ich behaupte nicht, daß die endlich wiederhergestellte
politische Philosophie für diese Leere verantwortlich ist.
Solch weitreichende Wirkungen liegen gewiß außerhalb
ihrer Fähigkeit. Ich behaupte vielmehr, daß die Weise,
auf die das Leere ihrer Rede das Leere des politischen Schauplatzes
überdeckt, als Symptom eines Problems zu verstehen ist, das
weit ihre bescheidene Existenz übersteigt. Es wäre ja
möglich, daß politische Philosophie im allgemeinen eine
Weise ist, das Politische zu bestreiten bzw. es als abwesend zu
setzen. Gerade dieser Möglichkeit möchte ich hier nachgehen.
Ich stelle also zwei vorläufige Hypothesen auf.
Erste Hypothese: Die politische Philosophie ist
ein Denken, das mit dem Politischen Schluß zu machen, einen
theoretischen, der Ausübung des Politischen eigenen, Skandal
abzuschaffen sucht.
Zweite Hypothese: Diese Abschaffung des Skandals bzw. des Paradoxes
des Politischen nimmt eine paradoxe Form an. Sie wird dem Projekt
einer Verwirklichung des wahren Wesens des Politischen angeglichen.
Die Frage "Gibt es eine politische Philosophie?"
wandelt sich also um zur Frage: "Welcher Typ der Begegnung zwischen
der Ausübung des Politischen und der Ausübung der Philosophie
wird mit dem Ausdruck 'politische Philosophie' benannt"? Diese Frage
verlangt nun einige vorhergehende Unterscheidungen und vorläufige
Definitionen, mittels derer das Spezifische des Politischen festgesetzt
werden soll.
Beginnen wir mit einer grundsätzlichen Unterscheidung.
Das, was im allgemeinen als Politisches bezeichnet wird, besteht
aus einer Gesamtheit von Prozessen, die Verbindung und Einwilligung
von Gemeinschaften hervorbringen: Organisation der Macht, Distribution
von Stellen und Funktionen, Legitimationssystem dieser Distribution.
Ich schlage vor, dieser Distribution von Mächten, Funktionen
und Legitimationen einen anderen Namen zu geben. Ich schlage vor,
sie Polizei (franz.: police) zu nennen. Ich bin mir
dabei vollkommen der Probleme bewußt, die mit dieser Bezeichnung
verbunden sind, besonders noch im Französischen. Der englischen
Sprache steht ein breites Spektrum von Ausdrücken zur Verfügung,
um Institutionen, Funktionen und Praktiken zu bezeichnen, von police
über policy und polity bis zur politics.
Andere Sprachen1, auch das Französische, sind in
dieser Hinsicht viel ärmer. "Polizei" evoziert hier
gegenüber der polysemischen "Politik" die Tätigkeit
der gemeinen Polizei, von prügelnden Knüppeln der Ordnungskräfte
bis zur Spitzelarbeit der Geheimpolizei. Aber diese einschränkende
Identifizierung ist meiner Meinung nach willkürlich. Die gemeine
Polizei ist, welche Rolle sie auch in verschiedenen Regimen spielen
mag, nur eine besondere Form der viel allgemeineren Ordnung der
Polizei, die auf die richtige Anordnung der Körper in der Gemeinschaft
abzielt. Dies kann in der Entwicklung der westlichen Gesellschaften
verfolgt werden, die den Polizisten zum Element eines gesellschaftlichen
Dispositivs macht, zu welchem das Gesundheitliche, das Fürsorgliche
und das Kulturelle zusammengeknüpft sind. Der Polizist wirkt
hier sowohl als Freund und Helfer als auch als Agent der öffentlichen
Ordnung, und sein Name wird zweifelsohne in der Zukunft noch weitere
Umwandlungen erfahren, von jenem Euphemisierungsprozeß erfaßt,
durch den unsere Gesellschaften verschmähte Funktionen oder
wenigstens das Bild von ihnen aufzuwerten suchen.
Wie dem auch sei, ich werde im Folgenden das Wort
Polizei und das Adjektiv polizeilich in dieser neutralen,
nicht pejorativen Bedeutung gebrauchen. Ich identifiziere also die
Polizei nicht mit dem, was durch den Ausdruck "Staatsapparate"
bezeichnet wird. Der Begriff des Staatsapparates setzt eine Entgegensetzung
von Staat und Gesellschaft voraus, deren erstes Glied als Maschine
fungiert, die dem Leben des zweiten ihre straffe Ordnung aufzwingt.
Im Konzept der Polizei versuche ich aber etwas anderes zu denken:
Daß nämlich staatliche Funktionen jener Distribution
von Stellen und Funktionen angehören, von der eine gesellschaftliche
Ordnung gebildet wird. Für mich bezeichnet die Polizei eine
Körperordnung, von der die Einteilungen zwischen den Weisen
des Handelns, des Seins und des Redens definiert werden, eine Ordnung,
durch die diesen bestimmten Körpern mittels ihres Namens diese
bestimmten Stellen und diese bestimmten Aufgaben zugewiesen werden.
Es handelt sich um eine Ordnung des Sichtbaren, die bewirkt, daß
diese bestimmte Tätigkeit sichtbar ist und jene nicht, daß
dieses Wort als Teil des Diskurses, jenes aber als Lärm vernommen
wird. In diesem Sinne wird zum Beispiel von einem Polizeigesetz
traditionellerweise der Arbeitsplatz als ein dem öffentlichen
Schauplatz gegenübergestellter, nicht von dessen Modi des Redens
und Sehens geregelter Raum des Privaten bestimmt. Die Polizei stellt
also nicht einfach eine "Disziplinierung" der Körper
dar; es handelt sich vielmehr um die Regel ihres Erscheinens, um
die Konfiguration von Besetzungen und von sinnlichen Qualitäten
der Räume, auf die diese Besetzungen distribuiert sind.
Ich möchte nun den Namen des Politischen
für etwas anderes in Anspruch nehmen, und zwar für etwas,
dessen Existenz selbst problematisch ist. Als Politisches werde
ich hier eine Tätigkeit bezeichnen, von der diese Distribution
in Frage gestellt und auf ihre Kontingenz, auf die Abwesenheit ihres
Grundes zurückgeführt wird. Als politisch kann jene Tätigkeit
bezeichnet werden, die einen Körper von dem ihm angewiesenen
Ort anderswohin versetzt; die eine Funktion verkehrt; die das sehen
läßt, was nicht geschah, um gesehen zu werden; die das
als Diskurs hörbar macht, was nur als Lärm vernommen wurde.
Politisches ist also die Benennung jener Tätigkeit, von der
die Ordnung der auf Stellen, Funktionen und Mächte verteilten
Körper durch das Einbringen einer Voraussetzung, die dieser
Ordnung vollkommen äußerlich ist, aufgehoben wird: Der
Voraussetzung von der Gleichheit eines jeden sprechenden Wesens
mit einem jeden anderen sprechenden Wesen.
Diese politische Aufhebung der polizeilichen Ordnung
kann durch eine Apologie veranschaulicht werden, die ich Pierre-Simon
Ballanche entlehne, einem französischen Denker aus dem 19.
Jahrhundert. Heute fast vollkommen vergessen, ist Ballanche einer
der seltenen Autoren, die einen realen und tiefen Einfluß
auf die Ausbildung der Emanzipationsidee innerhalb der Arbeiterbewegung
in Frankreich ausübten. In seinen Essais de paligénésie
sociale erzählt er 1829 eine mythische Episode der römischen
Geschichte nach, die von der plebejischen Sezession auf dem Aventin
handelt. Die leidenschaftliche Auseinandersetzung, in die sich die
römischen Senatoren angesichts der Trennung verwickeln, nimmt
in Ballanches Erzählung eine exemplarische Bedeutung an. Die
aufgeworfene Frage lautet: Soll mit den Aufständischen verhandelt
werden oder nicht? Die "polizeiliche" Logik jener, die
eine solche Verhandlung ablehnen, läßt sich im folgenden
Argument zusammenfassen: Mit den Plebejern kann nicht geredet werden,
weil sie keine sprechende Wesen sind. Aus ihrem Munde bekommt man
nur Lärm zu hören, eine "Art von Gebrüll",
das Hunger oder Wut anzeigt, nie aber artikulierte Rede und Diskurs.
Es sind namenlose Wesen, die arbeiten, essen und sich vermehren,
aber keine Wesen der Rede, der Versprechung und des Vertrags. Die
polizeiliche Logik stellt also eine strenge Konfiguration des Verhältnisses
zwischen der Ordnung des Diskurses und der Ordnung der Körper
dar, die verschiedenen Wesen verschiedene Räume anweist.
Dieser Logik widerspricht die unerhörte Enthüllung,
die jener machte, der auf den Aventin ging um zu sehen, was dort
eigentlich vor sich gehe: Die Plebejer sprechen, jeder von ihnen
trägt einen Namen, ihre Beschwerden sind diskursiv artikuliert,
ein Band von Versprechen verbindet sie. Sie haben bewiesen, daß
sie sprechende Wesen seien, so daß es also angebracht sei,
mit ihnen Verträge zu schließen und sich durch Versprechungen
zu binden. Diese Enthüllung teilte die Senatoren in zwei Lager:
in jene, die meinten, daß sich der Zeuge von einer Illusion
täuschen ließ, daß namenlose Wesen unmöglich
sprechen können, und in jene, die dem Zeugnis Glauben schenkten
und darin das Ende ihrer Macht erblickten: "Wenn sie sprechen,
dann ist unsere Zeit abgelaufen", sagt einer unter ihnen.
Es ist der polizeilichen Ordnung unmöglich, diesem Moment der
Gleichheit von sprechenden Körpern zu begegnen. Das eigentliche
Moment des Politischen, jenes, das Ballanche 'Emanzipation' nennt,
besteht weder in der Trennung noch im Abkommen beider Parteien.
Es befindet sich genau im Dazwischen, in der Entscheidung, die sowohl
die einen als die anderen zu treffen haben und die sich auf die
Eigenschaft eines Körpers und auf den Namen eines Subjekts
bezieht.
Wir wollen aus dieser Apologie folgenden Schluß
ziehen: Vom Politischen können wir sprechen, wenn es einen
Ort und Formen für die Begegnung von zwei heterogenen Prozessen
gibt. Erstens, des polizeilichen Prozesses in der oben definierten
Bedeutung. Zweitens, des Prozesses der Gleichheit. Ich verstehe
unter diesem Ausdruck eine offene Menge von Praktiken, die von der
Voraussetzung der Gleichheit eines jeden sprechenden Wesens mit
einem jeden anderen sprechenden Wesen und vom Bestreben, diese Voraussetzung
zu verifizieren, geleitet werden. Aus dieser Definition lassen sich
zwei Schlußfolgerungen ziehen. Erstens, die Gleichheit ist
kein Zustand, ein Ziel, den die Handlung zu erreichen sucht. Sie
ist eine Voraussetzung, die zu verifizieren sich die Handlung anschickt.
Zweitens, diese Menge von Praktiken hat keinen eigenen Namen. Die
Gleichheit hat keine ihr eigene Sichtbarkeit. Ihre Voraussetzung
muß in den Praktiken, von denen sie ins Spiel gebracht wird,
begriffen, aus ihrer Implizitheit gezogen werden. Das heißt,
wenn wir auf die Apologie vom Aventin zurückgreifen: Die Gleichheitsvoraussetzung
muß gerade im Diskurs, von dem die Ungleichheit ausgesagt
wird, erfaßt werden. Menenius Agrippa erklärt den Plebejern,
daß sie nicht stumpfsinnige Mitglieder der Stadtgemeinde sind,
deren Lebensprinzip von den Patriziern verkörpert wird. Aber,
um sie solcherart über ihren Platz aufzuklären, muß
er voraussetzen, daß die Plebejer seinen Diskurs verstehen.
Er muß diese Gleichheit von sprechenden Wesen voraussetzen,
die der polizeilichen Distribution von Körpern, denen ihr Platz
und ihre Funktion zugewiesen sind, widerspricht.
Es geht also um folgendes Problem: Gibt es einen
Namen und einen Schauplatz, die der Gleichheit eigen sind? Ist die
Gleichheit nicht vielmehr der Name einer nichtpolitischen Bedingung
des Politischen? Genau darum ging es historisch im Emanzipationsbegriff.
Emanzipation, das ist Gleichheit in actu, die Gleichheitslogik sprechender
Wesen, die auf das durch Ungleichheit geprägte Gebiet der Distribution
von Körpern in der Gemeinschaft einwirkt. Wie kommt es zu dieser
Wirkung? Damit es das Politische geben kann, muß es einen
Ort geben, an dem die polizeiliche Logik und die Gleichheitslogik
einander begegnen können. Das ist eine Voraussetzung, die man
ablehnen kann. Ich habe im Maître ignorant2
diese Ablehnung in ihrer Reinform beim Theoretiker der "intellektuellen
Emanzipation" Joseph Jacotot analysiert. Jacotot stellt auf
eine radikale Weise die Logik der Gleichheitsvoraussetzung der Logik
der Verbindung von gesellschaftlichen Körpern gegenüber.
Seiner Meinung nach ist es immer möglich, die Gleichheit zu
verwirklichen, nur daß dieser Verwirklichungsakt immer eine
singuläre Handlung bleiben muß und stets die Wiederholung
der reinen Spur der Gleichheitsverifikation darstellt. Diese jeweils
singuläre Handlung der Gleichheit stellt aber keine Form der
gesellschaftlichen Verbindung dar. Sobald die Gleichheit versucht,
einen Platz in der gesellschaftlichen und staatlichen Organisation
einzunehmen, verkehrt sie sich in ihr Gegenteil. Sobald es zur Institutionalisierung
der intellektuellen Emanzipation kommt, wandelt sie sich in Unterweisung
des Volkes um, sie wird also zur Einrichtung seiner ständigen
Unmündigkeit. Daher müssen diese zwei Prozesse einander
fremd bleiben, zwei verschiedene Gemeinschaften konstituierend,
auch wenn diese aus gleichen Individuen zusammengesetzt werden:
Die Gemeinschaft von gleichen Geistern und die Gemeinschaft von
gesellschaftlichen Körpern, die durch die unegalitäre
polizeiliche Fiktion vereinigt sind. Die zwei Prozesse können
nicht miteinander verbunden werden, ohne daß sich die Gleichheit
in ihr Gegenteil umwandeln würde.
Diese Behauptung muß, wenn es das Politische
geben soll, geändert werden. Anstatt zu sagen, daß die
Polizei keine Gleichheit zuläßt, werden wir vielmehr
sagen, daß jede Polizei der Gleichheit Unrecht antut. Dieses
Unrechte3 ist also das, was die Orte des Politischen
bestimmt, die Orte der Begegnung zwischen beiden Prozessen. Diese
Begegnung setzt voraus, daß es Subjekte und Dispositive der
Subjektivierung gibt, die sich für die Behandlung dieses Unrechten
konstituieren. Diese Subjekte messen das, was unmeßbar ist,
die Logik des Gleichheitsmerkmals und die Logik der gemeinschaftlichen
Ordnung. Sie messen sie in der Form der Darlegung eines Unrechten.
Mit anderen Worten, das Politische ist der Raum, in dem die Logik
des Gleichheitsmerkmals die Form der Behandlung eines Unrechten
annimmt, indem sie zum Argument eines allgemeinen Unrechts wird,
das sich mit einem bestimmen Unrecht in der Einteilung der Besetzungen,
Funktionen und der Stellen verknüpft.
Damit ist auch gesagt, daß die Subjekte
des Politischen besondere Subjekte sind, Subjekte, die sich immer
von sich selbst unterscheiden. Sie sind in Wirklichkeit weder Staatsfunktionen
noch soziale Gruppen. Sie bilden sich in einer Art Überblendung
der Namen und Identitäten dieser Funktionen und dieser Gruppen
aus. Das gilt für das politische Subjekt par excellence, für
das Subjekt "Volk". So jedenfalls lautet der Skandal,
der anfangs von den Gegnern des griechischen demos aufgedeckt
wird. Demos, das ist der Begriff einer falschen Identität,
die der Gemeinschaft kein Einheitsprinzip anbietet. Es ist eine
schwebende Berechnung, eine kontingente und veränderliche Existenz.
Demos ist der Name der Gemeinschaft und auch der Name eines
Teiles der Gemeinschaft: Der Mehrheit, die im Parlament als Volk
entscheidet; der Partei der Armen, der Volkspartei, die ihren Namen
als Fraktion mit dem Namen des Volkes als Totalität gleichsetzt.
Der undenkbare Begriff des demos wird also zum logischen
Monstrum eines Teiles der Gemeinschaft, der sich mit seinem Ganzen
gleichsetzt. Und der Skandal vertieft sich noch wegen der Tatsache,
daß das Volk als beeinträchtigter Teil, als Teil, dem
Unrecht geschieht, seinen Namen als Partei der Armen mit dem des
Volkes als Gemeinschaft gleichsetzt.
Aber vielleicht ist unser Versuch, die "Verrechnung"
zu denken, die dem demokratischen politischen Schauplatz eigen ist,
zu einfach. Der Skandal eines Teiles, der sich mit dem Ganzen gerade
im Namen seiner Stellung eines beherrschten Teiles, dem Unrecht
geschieht, gleichsetzt, verweist auf das Paradox, das die überschüssige
Natur des politischen Subjekts an sein Handeln als Darlegung eines
Streithandels4 bindet. Das Problem liegt nicht nur darin,
daß sich das Volk vom Volk unterscheidet, daß sich die
Armen im Namen des Volkes mit der Gemeinschaft gleichsetzen. Es
liegt vielmehr darin, daß sich "die Armen" selbst
nicht mit den Armen als identifizierbaren Teil der Gesellschaft
gleichsetzen. Die Vorstellung des demos als politischem Subjekt
macht die Grenze unbestimmbar: Sie vermengt Oualitäten und
Quantitäten. Sie überblendet kollektive politische Subjekte,
sie verrückt sie im Verhältnis zur Verteilung der Teile
der Gemeinschaft. Sie bildet, einem Ausdruck des jungen Marx nach,
Klassen heraus, die keine Klassen sind. Die marxistische Theorie
einer universellen Klasse verweist, jenseits ihres hegelschen Bezugs
und ihrer spezifischen Ausarbeitung bei Marx, letztendlich auf diese
Natur von demokratischen politischen Entitäten, die nicht das
sind, was sie sind, die sich immer durch eine Verschiebung im Verhältnis
zu den aufzählbaren Teilen der Gesellschaft herausbilden.
Die "Usurpation" des Volks-Namens durch
die Armen hat also nichts Zufälliges an sich. Sie veranschaulicht
beispielhaft die eigentliche Weise der politischen Begegnung. Politische
Figuren sind immer in gesellschaftlichen Figuren gefangen. Diese
gesellschaftlichen Figuren unterscheiden sich von sich selbst, werden
politisch insofern, als sie die Darstellung der Gleichheit eines
jeden mit einem jeden anderen tragen. Der Name der Armen schließt
im Namen einer sozialen Gruppe den Namen von jedermann ein. Gleichzeitig
definiert er einen Platz, den jedermann einnehmen kann, er macht
eine gesellschaftliche Bezeichnung für einen Prozeß der
politischen Subjektivierung zugänglich.
Dieser Prozeß läßt sich zweifelsohne
noch deutlicher im modernen "proletarischen" Subjekt fassen.
Ich vergesse dabei keineswegs, daß dieses Subjekt der Gegenstand
von wüstesten Verkörperungen war, die zu schauerlichen
Folgen führten. Das Politische existiert genau im engen und
gewagten Zwischenraum von zwei Verkörperungen, im Raum zwischen
den Identitäten der polizeilichen Distribution von Funktionen
und diesen neuen Identitäten, bei denen jede Subjektivierung
von der Möglichkeit bedroht ist, zu mißlingen und sich
als wahres und ausschließliches Wesen der Gemeinschaft verwirklichen
zu wollen. Proletarier bezeichnet den engen und gewagten Abstand
zwischen der "Natürlichkeit" des Arbeiters als Produzenten/Reproduzenten
und der Übernatürlichkeit des neuen Menschen, des Produzenten,
der die Arbeit als Wesen der Gemeinschaft verkörpert. Zur organisatorischen
Figur der politischen Moderne wurde das proletarische Subjekt durch
folgendes: Proletarier war zunächst der Name aller Namenlosen,
der Name aller Nichteinberechneten. In diesem Namen kam in ihrer
Reinform die polizeiliche Verteilung der Körper zum Vorschein,
von der die auf die stumme Dunkelheit der Arbeit Verwiesenen von
jenen getrennt werden, die das Vorrecht des Diskurses und der Sichtbarkeit
in Anspruch nehmen können. Im Namen des Proletariers wurde
das absolute Unrecht dieser Verteilung in bezug auf die Gleichheit
von jedermann mit jedermann anderem dargelegt. Proletarier war der
Name des Arbeiters und der Name der Gleichheit jedes sprechenden
Wesens mit jedem anderen sprechenden Wesen.
Nichts kann diesen Sachverhalt besser veranschaulichen
als der eigenartige gerichtliche Dialog, der sich während des
Prozesses gegen den Revolutionär Auguste Blanqui im Jahr 1832
abspielte5. Auf die übliche Aufforderung, seinen
Beruf anzugeben, antwortete Blanqui mit einem einfachen: "Proletarier".
Worauf der Staatsanwalt unmittelbar einwendete: "Das ist kein
Beruf", auf die Gefahr hin, vom Angeklagten erklärt zu
bekommen, dies sei "der Beruf von Millionen Franzosen, die
jedes politischen Rechts beraubt sind". Der Konflikt zwischen
der Polizei und dem Politischen läßt sich im Konflikt
zweier Gebrauchsweisen des Wortes "Beruf" zusammenfassen.
Für den Staatsanwalt, der die polizeiliche Logik verkörpert,
bedeutet "Beruf" soviel wie "Gewerbe": Jene
Tätigkeit, die einem Körper seinen Platz und seine Funktion
zuweist. Die revolutionäre Politik vertretend, gibt Blanqui
demselben Wort eine andere Bedeutung: Beruf ist ein Eingeständnis,
eine Erklärung. Und zwar die Erklärung der Zugehörigkeit
zu einem Kollektivsubjekt, das keine soziale Gruppe ist, sondern
die offene Menge jener darstellt, die nicht einberechnet sind, die
sich gerade in der Bestätigung dieser Ausschließung mit
einrechnen und auf diese Weise die Differenz zwischen der unegalitären
Distribution der gesellschaftlichen Körper und der Gleichheit
sprechender Wesen subjektivieren. Die "proletarische"
Subjektivierung bestimmt, in Überblendung einer Masse von Arbeitern,
ein Subjekt des Unrechten. Sie bestimmt auf diese Weise einen Platz,
den jedermann besetzen kann. Gerade deshalb eignet sie sich dazu,
den Arbeiter oder den Werktätigen der Identität eines
Produzenten-Reproduzenten zu entreißen, die ihm die polizeiliche
Ordnung festsetzt.
Ich möchte hier noch einen Punkt hervorheben,
der mir bedeutend genug erscheint. Der Begriff des Unrechten, so
wie ich ihn verstehe, kann keiner bestimmten historischen Konfiguration
zugeschrieben werden. Ich kann keineswegs der "postmodernen"
These zustimmen, die den Begriff des Unrechten mit einer spezifischen
Dramaturgie des Proletariats als absoluten Opfers verknüpft.6
Der Begriff des Unrechten hängt nicht von einer pathetischen
Figur des Opfers ab, und das Allgemeine, das von ihm ins Spiel gebracht
wird, ist nicht das Allgemeine des absoluten Opfers. Dieser Begriff
bildet vielmehr den Kern des politischen Dispositivs im allgemeinen.
Das Unrechte ist einfach die Subjektivierungsweise, in welcher die
Verifikation der Gleichheit zu ihrer politischen Form kommt. Wenn
es das Politische gibt, dann aufgrund eines einzigen Allgemeinen,
der Gleichheit, und diese nimmt die spezifische Gestalt des Unrechten
an. Das Unrechte bildet ein eigentümliches Allgemeines, ein
polemisches Allgemeines, indem es die Darstellung der Gleichheit
an den Konflikt der gesellschaftlichen Teile bindet.
Und das bedeutet auch, daß das Unrechte,
das vom Politischen ins Spiel gebracht wird, eine ganz bestimmte
Natur besitzt, die es von jenen Formen unterscheidet, denen es mit
Vorliebe angeglichen wird und in denen das Politische im Recht,
in der Religion oder im Phänomen des Krieges aufgelöst
wird. Das politische Unrechte unterscheidet sich zunächst vom
juristischen Streitfall, der als Beziehung von zwei bestimmten Parteien
objektivierbar und durch sachadäquate rechtliche Verfahren
regelbar ist. Der Unterschied liegt darin, daß die Parteien
nicht vor der Erklärung des Unrechten existieren. Das Proletariat
existiert als Teil der Gesellschaft nicht vor dem Unrecht, das von
seinem Namen ausgedrückt wird. Das bedeutet auch, daß
das durch ihn dargelegte Unrechte nicht in Form der Übereinstimmung
zwischen den Parteien geregelt wird. Auf diese Weise wird es nicht
geregelt, weil Subjekte, die vom politischen Unrechten ins Spiel
gebracht werden, nicht Entitäten sind, denen zufälligerweise
dieses oder jenes Unrecht geschieht. Sie sind vielmehr Entitäten,
deren Existenz selbst die Äußerungsweise dieses Unrechten
ist. Die Fortdauer dieses Unrechten ist unendlich, weil die Verifikation
der Gleichheit unendlich ist und weil der Widerstand der polizeilichen
Ordnung gegen diese Verifikation grundsätzlich ist.
Aber dieses nichtregelbare Unrechte ist deshalb
nicht auch schon etwas, was nicht behandelt werden könnte.
Es ist weder mit dem unsühnbaren Krieg noch mit der untilgbaren
Schuld gleichzusetzen. Diese zweite Unterscheidung ist notwendig.
Das politische Unrechte wird nicht geregelt. Es wird aber behandelt.
Zwischen der rechtlichen Regelung und der untilgbaren Schuld deckt
der politische Streithandel etwas Unversöhnbares auf, das sich
aber nichtsdestoweniger behandeln läßt. Das Unmeßbare
der Gleichheit von sprechenden Wesen und das Unmeßbare der
Verteilung von gesellschaftlichen Körpern messen sich dennoch
aneinander. Aber diese Behandlung übersteigt sowohl den Dialog
von wechselseitigen Interessen wie auch die Reziprozität von
Recht und Verpflichtung. Sie führt zur Konstitution besonderer
Subjekte, die das Unrechte auf sich nehmen, es gestalten, ihm Formen
und neue Namen erfinden und seine Behandlung in einer eigentümlichen
Zusammensetzung von Ereignissen, Praktiken und Argumentationen handhaben.
Diese Zusammensetzungen stellen Gleichheit und Ungleichheit zusammen,
binden sie aneinander zu einem Fall, der dargelegt werden kann.
So werden etwa von einem Arbeiterstreik des 19. Jahrhunderts zwei
Sachverhalte zusammengestellt, die sonst nichts miteinander zu tun
haben: Die von der Deklaration der Menschenrechte verkündigte
Gleichheit und eine verworrene Frage der Arbeitszeit oder der Werkstattordnung.
Die politische Handlung besteht zunächst im Messen der beiden
Inkommen- surabilitäten, in der Errichtung eines Schauplatzes
der Rede und der Sichtbarkeit, wo beide artikuliert werden können.
Die egalitäre Einschreibung und die unegalitäre Distribution
in ein Verhältnis setzend, weist der politische Akt gleichzeitig
die Ungleichheit der Distribution von Körpern und gesellschaftlichen
Räumen und das gleiche Vermögen sprechender Wesen nach.
Auf diese Weise bringt er zugleich neue Einschreibungen der Gleichheit
und eine Sphäre neuer Sichtbarkeit für andere Nachweisungen
hervor.
Damit soll gesagt werden, daß es keine dem
Politischen eigene Orte oder Handlungen gibt. Das politische Merkmal
einer Handlung besteht im Geflecht, das sie bewirkt, es wird nicht
vom Ort, an dem sie dies leistet, gebildet. Ein Streik ist etwa
nicht seiner "Ziele" wegen politisch. Er ist es wegen
seiner Form, seines Vermögens, Entitäten ins Verhältnis
zu setzen, die der polizeilichen Ordnung nach in keinem Verhältnis
zueinander stehen, ihnen einen Ort zu schaffen, wo sie zusammen
gesehen werden und miteinander artikuliert sind, also das Sehen
des Unrechten zu ermöglichen und dem Kollektiv, das es thematisiert,
Gestalt zu verleihen. Das bedeutet auch, daß es nicht angebracht
ist, eine Epoche des Streithandels, an die großen Erzählungen
von gestern gebunden, einer postmodernen Epoche des différend,
an das gegenwärtige Aufblühen der Sprachspiele und der
kleinen Erzählungen gebunden, entgegenzusetzen. Die politische
Interlokution hat immer verschiedene Satzordnungen miteinander vermengt
und immer das Allgemeine in demonstrativen Sequenzen singularisiert,
sie hat immer dem Heterogenen gemäß funktioniert. Nur
mittels einer retrospektiven Illusion kann davon gesprochen werden,
daß es eine Zeit der großen Erzählungen, des Schauplatzes
eines homogenen Diskurses und des allgemeinen Opfers "gegeben
hat".
Wir können also sagen, daß es das Politische
im allgemeinen gibt, wenn Subjekte, die keinem Teil des gesellschaftlichen
Ganzen zuweisbar sind, die Verifikation der Gleichheit in die Behandlung
eines Unrechten einschreiben, wenn diese eigentümlichen Subjekte
Verfahren erfinden, durch die ein Fall des Unrechten gestiftet und
nachgewiesen wird. Das Politische kann also demzufolge nie "rein"
sein, sich nie in einem der Gemeinschaft oder dem Gesetz eigenen
Wesen gründen. Es ist ein System von Formen, die imstande sind,
das Merkmal der Gleichheit aufzunehmen, ohne ihr jemals eine ihr
eigene Gestalt zu geben. Die Gleichheit befindet sich immer außerhalb
ihrer selbst. Sie ist die nichtpolitische Bedingung des Politischen.
Das Politische ist nicht ohne Gleichheit möglich. Aber die
Gleichheit hat innerhalb des Politischen keine eigene Existenz.
Von diesem Ausgangspunkt aus kann nun jenes Verhältnis
der Philosophie zum Politischen bestimmt werden, das im Ausdruck
"politische Philosophie" enthalten ist. Das Wort "politische
Philosophie" bezeichnet keine Unterart, kein Gebiet und keine
Spezifikation der Philosophie. Ebensowenig bezeichnet es eine Reflexion
der immanenten Rationalität der politischen Tätigkeit.
"Politische Philosophie" ist der Name einer Begegnung
- einer polemischen Begegnung - in der das Paradox oder der Skandal
des Politischen dargelegt wird: Die Abwesenheit eines ihm eigenen
Grundes. In der Darlegung dieses Skandals findet die politische
Philosophie ihren Anfang. Diese Darlegung kommt unter dem Zeichen
einer Idee zustande, die als Alternative zum kontingenten, unbegründeten
Zustand des Politischen vorgestellt wird. Es handelt sich hier um
das Schlagwort, mit dem Sokrates den Unterschied zwischen sich und
den Bürgern der demokratischen Polis erklärte: aleithos
politeuesthai, wahrhaftig Politik betreiben, die Politik in
Wahrheit betreiben: die Politik als Verwirklichung des eigenen
Wesens der Politik betreiben.
Diese Losung setzt einen bestimmten Befund sowie
eine bestimmte Diagnose hinsichtlich der Existenz des Politischen
voraus. Der Befund bezieht sich darauf, daß jedem Prinzip
der Gemeinschaft immer schon eine Faktizität des Politischen
vorangeht. Das Politische ist immer schon da, ohne auf sein Prinzip
oder seine arkhe zu harren, ohne auf den "richtigen"
Anfang zu warten, der es als Verwirklichung seines eigenen Prinzips
hervorbringen würde. Das Projekt des in Wahrheit Politischen
bestimmt sich angesichts einer Faktizität, eines Schon-Da-Seins
des Politischen in Form der Demokratie. Diese Faktizität des
demos hat, wie wir gesehen haben, drei wesentliche Eigenschaften:
Die Konstituierung einer Sphäre, wo der Name des Volkes erscheinen
kann; die ungleiche Berechnung dieses Volkes, das gleichzeitig ein
Ganzes und dessen Teil ist; die paradoxe Zurschaustellung eines
Streithandels durch einen Teil des Volkes, der sich im Namen eines
ihm angetanen Unrechts für das Ganze des Volkes ausgibt.
Dieser paradoxe Sachverhalt eines Politischen
des demos, das der gemeinschaftlichen arkhe vorangeht,
hat die platonische Verspottung des "rohen Volks-Tieres"
hervorgerufen. Er wird aber in seiner Reinform erst in Aristoteles
Politik dargelegt. Aristoteles behandelt den Beginn der Politik
zweimal. Am Anfang des Buches I wird ein "eigenes" Wesen
der Politik bestimmt: das menschliche Privileg des logos,
der die Äußerung des Nützlichen und des Schädlichen
und folglich die Auseinandersetzung über Gerechtes und Ungerechtes
erlaubt. Die physis scheint so dem gemeinschaftlichen nomos
den Weg zu bahnen. Das Buch III schlägt aber einen vollkommen
anderen Ton an. Es ist unmöglich, gemeinsame "Nützlichkeit"
oder "Gerechtigkeit" unabhängig von einer Tatsache
zu denken, die sich in jeder Polis aufdrängt: der Existenz
und des Gegensatzes zwischen einer Masse von Armen und einer kleinen
Anzahl von Reichen. Es existiert eine erste Undurchsichtigkeit,
ein Schon-Da-Sein der Spaltung, die jede Verwirklichung des gemeinschaftlichen
telos belastet. Bei dieser Undurchsichtigkeit handelt es
sich keineswegs um eine Undurchsichtigkeit der gesellschaftlichen
Materie, mit der sich das Politische befassen müßte.
Sie ist vielmehr eine Art Erststrukturierung des Politischen.
Die Diagnose der "politischen Philosophie"
lautet also folgendermaßen: Das Politische verfügt in
seiner faktischen, demokratischen Form über kein eigenes Prinzip.
Es stellt Gerechtigkeit vor, aber nur als in verschiedene Formen
des Streithandels verwickelt, so wie es die Gleichheit nur als in
arithmetischen Berechnungen der Ungleichheit verflüchtigt vorstellt.
Kurz, das Politische ist nicht imstande, sein eigenes Maß
zum Ausdruck zu bringen. Dieses Maß des Politischen heißt
Gerechtigkeit. Das Politische in seinem faktischen, demokratischen
Zustand ist, so lautet die These, nicht imstande, dieses Maß
zu formulieren, es ist nicht imstande, die Gleichheit zu denken,
die es als Gerechtigkeit möglich machen würde. Seine Gleichheit
äußert sich in Wirklichkeit in der wilden Gestalt eines
Unrechten, das der Gemeinschaft keinen Maßstab liefert, das
unfähig ist, die Gleichheit als Verteilungsprinzip einer gemeinschaftlichen
Gerechtigkeit vorstellig zu machen. Der Eröffnungsdiskurs der
"politischen Philosophie" kann so in zwei Formeln zusammengefaßt
werden. Erstens, Gleichheit ist nicht Demokratie. Zweitens, Gerechtigkeit
ist kein Verfahren mit dem Ungerechten.
Diese zwei Sätze sind, was ihren unmittelbaren
Aussageinhalt anbetrifft, richtig. Gleichheit macht sich in der
Tat nicht in der Demokratie vorstellig, Gerechtigkeit nicht im Unrecht.
Das Politische arbeitet immer an diesem Abstand, der es macht, daß
die Gleichheit nur in der Gestalt des Unrechten besteht. Es arbeitet
an der Begegnung zwischen der Gleichheitslogik und der "polizeilichen"
Logik. Die entscheidende Frage lautet aber hier: Wie ist dieser
Abstand, eine normale Bedingung des Politischen, zu verstehen? Die
philosophische Auseinander- setzung deutet ihn als Anzeichen einer
radikalen Verkehrung. Sie behauptet, daß ein Politisches,
das nicht die Verwirklichung seines eigenen Prinzips ist, überhaupt
kein Politisches sei. Das "in Wahrheit Politische" setzt
sich also der demokratischen Gestalt der gespaltenen und gewagten
politischen Subjektivierung entgegen; die Harmonie der Gerechtigkeit
der Verdrehung des Unrechten; die geometrische Gleichheit, als jenes
kosmische Verhältnis, das eine Harmonisierung von Polis und
Seele möglich macht, der als Herrschaft von Mehr und Weniger
verstandenen arithmetischen Gleichheit; die koinonia dem
demos. Ein Archi-Politisches bestimmt sich also im Verhältnis
zur undenkbaren politischen Verknotung von Gleichheit und Ungleichheit.
Es stellt sich zur Aufgabe, das wahre Wesen des Politischen durch
die Aufhebung seiner Erscheinung zu verwirklichen. Und das heißt,
das Politische durch die Abschaffung dieser Distanz des Volkes zu
"sich selbst", die das demokratische politische Dispositiv
in den Mittelpunkt des staatsbürgerlichen Raums einbaut, zu
verwirklichen. Kurz, es geht darum, das Wesen des Politischen durch
die Abschaffung der Distanz, in der das Politische besteht, zu verwirklichen,
das Politische also durch die Abschaffung des Politischen zu verwirklichen.
Das Programm der politischen Philosophie besteht in einer eigentümlichen
Spirale, die ich antizipierend folgendermaßen zusammenfassen
werde: Es geht darum, das Politische durch seine Abschaffung zu
verwirklichen, das heißt, das Politische durch die Verwirklichung
der Philosophie "an Stelle" des Politischen zu verwirklichen.
Aber die Philosophie an dieser Stelle zu verwirklichen würde
letztendlich bedeuten, die Philosophie durch die Abschaffung der
Philosophie zu verwirklichen.
Dieses Programm einer die demokratische Faktizität
korrigierenden Republik nimmt vom Anfang an zwei paradigmatische
Formen an. Die "gute" Form ist natürlich bei Aristoteles
zu finden. Er nennt sie gewiß nicht "politische Philosophie".
Und dennoch wird gerade bei ihm nostalgisch nach diesem unauffindbaren
und doch gefundenen Objekt gesucht: Die Verwirklichung einer natürlichen
Ordnung des Politischen in einer konstitutionellen Ordnung, die
so zustande kommt, daß selbst jenes, was sich als Hindernis
dieser Verwirklichung in den Weg stellt, der Unterschied zwischen
den Reichen und den Armen, das Dispositiv der Erscheinung des demos,
darin miteingeschlossen wird. Bei Aristoteles stellt sich die "politische
Philosophie" so dar, als hätte sie ihr eigenes Programm
vollbracht: die Einschließung des demos in die koinonia,
deren Negation es doch ist.
Dies setzt eine spezifische Gestalt des gelehrten,
künstlerischen, gesetzgebenden und reformatorischen Philosophen
voraus, der imstande ist, die Elemente des demokratischen politischen
Dispositivs in der Gerechtigkeitsordnung der politeia neu
aufzustellen. Die Figuren des politischen Schauspiels müssen
also bühnenmäßig neubesetzt werden. Die Erscheinungen
und die Berechnungen des demos müssen so angeordnet werden,
daß der Streithandel neutralisiert wird. Die Nichtunterscheidbarkeit
der Gestalten der demokratischen Politik, die dem gesellschaftlichen
Körper zusätzlich aufgezwungen sind, wird also in einer
eigentümlichen Form der Mimesis von neuem ins Spiel gebracht,
die bewirkt, daß die Verwirklichung und Abschaffung des Politischen
nicht mehr zu unterscheiden sind. An den Grenzen der demokratischen
Faktizität und der Idealität der politeia schlägt
die aristotelische politische Wissenschaft folgendes Kraftstück
vor: zustandebringen, daß das demos absolut im Dispositiv,
von dem die physis im nomos vollendet wird, anwesend
ist, aber in einer abwesenden Anwesenheit, die nicht imstande ist,
den Streithandel zu unterstützen. Wir können uns hier
die Analyse der guten oder schlechten Typen der Demokratie im Buch
IV der Politik in Erinnerung rufen. Die bäuerliche Demokratie
wird bekannterweise auf den ersten Platz eingestuft, weil in ihr
der demos an seinem Platz gerade abwesend ist. Die Zerstreuung
der Bauern auf weitentfernte Flächen hindert sie daran, sich
als demos zu konstituieren, die Stelle ihrer Macht zu besetzen.
Das Gesetz herrscht also, sagt Aristoteles, mittels der Abwesenheit
der prosodos: Der Abwesenheit von Mitteln, die es der demokratischen
Ordnung ermöglichen würden, eine Subjektivierungsweise
des Politischen zu sein. Koinonia schließt das demos
in sich ein, ohne seinen Streithandel erleiden zu müssen. Die
politeia verwirklicht sich also als Distribution von Körpern
auf einem Gebiet, das ihren gegenseitigen Abstand aufrechterhält.
Die Verräumlichung - die Differenz des erfolgreich konstituierten
demos zu sich selbst - verkehrt, sie nachahmend, die Selbstdifferenz
des demokratischen Volkes. Diese Utopie einer korrigierten Demokratie,
einer verräumlichten, abwesenden Politik, wird ein langes Leben
haben: Ihre Spuren sind im modernen Zeitalter sowohl in der "guten"
Demokratie tocquevillescher Prägung, im Amerika der weiten
Entfernungen, wo man einander nicht begegnet, zu finden, als auch,
in einem bescheideneren Maßstab, im Europa unserer Politiker.
In ihrer aristotelischen Form schlägt die
"politische Philosophie" die Verwirklichung der Idee des
Guten vor, und zwar durch eine genaue Mimesis des politischen Durcheinanders,
das seine Erfüllung verhindert. Das Politische wird hier utopisch
in der Soziologie aufgehoben. Und parallel dazu hebt sich die Philosophie
in der Ausübung ihrer selbst als Politik auf. Aristoteles schlägt
hier die ewig faszinierende Gestalt eines Gnadenzustandes der politischen
Philosophie vor, des Gnadenzustandes eines in sein Gegenteil verkehrten
Politischen. Dieser Zustand wurde übrigens in der Politik nie
realisiert, nichtsdestoweniger wird er aber phantasmatisch in Form
einer ruhigen Soziologisierung vorgestellt, eines ruhigen Endes
des Politischen, in dem die beiden Bedeutungen des "Endes"
- das telos, das vollendet, und die Geste, die abschafft
- übereinstimmen.
So sieht die glückliche Utopie der politischen
Philosophie aus. Aber Aristoteles, der unseren politischen Philosophen
darin überlegen war, das Theater genau zu kennen, sagt uns
selbst: Nur schlechte Tragödien haben ein glückliches
Ende, bei dem niemand tötet oder getötet wird und alle
Darsteller als gute Freunde auseinandergehen. Und so hat sich auch
das Verhältnis der Philosophie zum Politischen hauptsächlich
in einer anderen Form entwickelt. Diese Form hat, von Platon bis
zu Marx, den radikalen Abstand zwischen der Wahrheit des Politischen
und ihrem demokratischen Schein eingeführt. In dieser Form
erscheint der Schein der Gleichheit als Maske einer wesentlichen
Ungleichheit, das Aufrechterhalten des Unrechten als Verschleierung
einer grundsätzlichen Ungerechtigkeit. Und dort, wo hinter
den Erklärungen und Forderungen der Gerechtigkeit in Wahrheit
die bloße Ungerechtigkeit, hinter dem Vorzeigen der Gleichheit
die radikale Ungleichheit zum Vorschein kommen, dort bricht auch
das Politische zusammen. Demzufolge wird entweder die unendliche
Anklage des unendlichen Umherirrens des Politischen vorgeschlagen,
oder aber die Ersetzung dieses Umherirrens mit dem zu seiner Wahrheit
gekommenen politischen Körper.
Der Körper der Wahrheit, der wahre Körper
des Politischen wird von Platon auf jenen Seiten des Gorgias
benannt, auf denen auch die Ausschließlichkeit des alethos
politeusthai beansprucht wird. Er nennt sich kosmos.
Eine sich in Wahrheit vollendende Politik, das ist die Anordnung
der politischen Körper nach der gleichen Regel der geometrischen
Gleichheit, des Verhältnisses und der Freundschaft, die zwischen
den im kosmos verteilten Himmelskörpern als zahlenmäßige
Verwirklichung der Idee herrscht. Von dieser Bestimmung des Körpers
der Wahrheit aus sind zwei Stellungnahmen möglich. Die erste
wird auf den berühmten Seiten des Theatet dargestellt.
Das göttliche und das irdische Exemplar stehen in keinem Verhältnis
zueinander. Die Wahl eines dem göttlichen Beispiel gemäßen
Lebens nennt sich "flüchten". Wir finden hier, in
einer umgekehrten Form, jene Nicht-Begegnung, von der wir anfangs
gesprochen haben. Die in ihrer radikalen Bestimmung verstandene
Gleichheit und das Politische als demokratisches Dispositiv sind
inkommensurabel. Diese Stellungnahme wird auch zum Schluß
des Buches IX der Republik verteidigt. Es geht nicht darum,
zu wissen, ob die Verfassung, deren Plan dargelegt wurde, Möglichkeit
hat, sich irgendwann zu realisieren. Der Gerechte wird sich in allen
Fällen danach richten, aber keineswegs, um Politik im Alleingang
zu betreiben, sondern nur um der Führung seiner Seele willen.
Dieser Flucht wird die andere Stellungnahme gegenübergestellt:
Die Verwirklichung der Philosophie als Politik, die Neubegründung
einer Gemeinschaft ohne demos, die zweite Geburt, die am
Ende des Buches III der bloßen Macht der schönen Lüge
von den Gattungen des Goldes, des Silbers und des Eisens anvertraut
wird. Diese Realisierung der Philosophie als Politik ist nichts
anderes als die Verwirklichung des Körpers der Wahrheit als
Polizei, von der die Körper an ihre Stelle gesetzt werden.
Dies ist in Wahrheit die einzige treffende Gegenüberstellung,
in deren Rahmen man die platonische Politik denken kann. Die anderen
Gegensätze, etwa der Gegensatz zwischen einem guten demokratischen
Sokrates und einem bösen totalitären Platon, oder aber
zwischen einem jungen, idealistischen und utopischen Platon und
einem alten, strengen und pragmatischen Platon, entspringen bloß
den Bildungstopoi vom verräterischen Schüler oder vom
weise machenden Alter. Alles ist im "kosmischen" Projekt
gegeben, das die Erklärung des alethos politeuesthai
begleitet. Es impliziert, daß das Politische, soll es gerecht
sein, dies nur auf jene Art sein kann, auf die die Seele gerecht
ist, auf die der Kosmos durch die "goldene Kette" des
richtigen Verhältnisses, der geometrischen "Freundschaft"
zusammengefügt ist. Alles ist schon in der anfänglichen
Teilung der Polis auf vier Handwerker gegeben, die "keine Zeit"
haben, etwas anderes zu tun als das, was sie tun. Diesen vier Handwerkern,
die den Kern der Polis bilden, verbietet der Philosoph das, worin
die Definition der Philosophie selbst besteht: Die Möglichkeit,
"etwas anderes" zu tun als das, was sie tun, eine andere
als durch ihre Arbeit bestimmte Identität anzunehmen. Den Handwerkern,
aus denen die Polis zusammengesetzt wird, ist es verboten zu lügen:
verboten, einen anderen Namen als den ihrigen, eine andere Form
als die ihrige anzunehmen. Wir wissen, daß diese Unmöglichkeit
im Buch II der Republik als eine einfache funktionelle Arbeitsteilung
geschildert wird. Im Buch IV erhält diese "faktische"
Unmöglichkeit ihren wahren Namen. Sie nennt sich Gerechtigkeit,
sie ist die Gerechtigkeit selbst, die anwesend war, den Akteuren
direkt vor Augen, ohne daß diese es wußten: Das göttliche
Verhältnis, verwirklicht als Distribution der Körper in
der Polis.
Das Paradox des "reinen Politischen"
wird also vorbildlich verwirklicht. Die Philosophie verlangt ein
reines Politisches: eine Gemeinschaft ohne Schein, eine von jedem
Unrecht befreite Gerechtigkeit, eine von demokratischen Berechnungen
und Verrechnungen bereinigte Gleichheit. Aber es scheint, daß
sich dieses reine Politische nur in einer dem Politischen entgegengesetzten
Form, in Form der Polizei verwirklichen kann. "Reines"
Politisches ist nichts anderes als reine Polizei. Die "wahre"
Gerechtigkeit verwirklicht sich in einer genau bemessenen Distribution
der Handlungen verschiedener Körper. Der philosophische Abstand
verwirklicht sich in der Sozio-Logie, in der Logik der richtigen
Distribution von gesellschaftlichen Körpern, die ihren Funktionen
gemäß an ihre Stellen verwiesen sind. Das Paradox, von
dem das "reine" Politische betroffen wird, trifft gleichzeitig
auch die "politische Philosophie". Die Philosophie muß
aus sich selbst heraustreten, sich als Philosophie abschaffen, um
sich als Archi-Politik, und das heißt letztendlich, als radikale
Polizei, zu verwirklichen.
Der marxistische Zugang nimmt eine im Verhältnis
zu diesem Punkt symmetrische Position ein: Er vertritt den radikalen
Überschuß des Ungleichen und des Ungerechten über
das, was davon vom Recht oder von der Gleichheit, die von der Politik
behauptet oder verlangt werden, dargestellt werden kann. Er macht
das "absolute Unrecht" geltend, den Überschuß
des Unrechten, der jede politische Argumentation, jede politische
Steuerung des egalitären Arguments zerstört. In diesem
Überschuß enthüllt sich die Wahrheit des Politischen.
Bei dieser Wahrheit handelt es sich gewiß nicht mehr um die
Idee des Guten, um Gerechtigkeit, Gleichheit, um den kosmos,
die der Unordnung der Körper entgegengesetzt wären. Im
Gegenteil, es handelt sich um die Radikalität dieser Unordnung,
die jede Politik der Lüge straft. Die Wahrheit des Politischen
ist nicht sein Wesen, sie liegt vielmehr in der Äußerung
seiner Falschheit. Sie ist im Abstand zu suchen, der allerorts zwischen
den Worten und den Gestalten, die vom Politischen in den Vordergrund
gesetzt werden, und der sie tragenden Wirklichkeit herrscht. Die
Wahrheit des Politischen ist das Gesellschaftliche, und zwar nicht
als das sinnliche Fleisch des Politischen, sondern vielmehr als
der Abgrund von dessen radikaler Falschheit.
Was spezifiziert nun das moderne Dispositiv des
Verhältnisses des Politischen zu seiner "Wahrheit"?
Der Sachverhalt, daß diese Wahrheit nicht mehr, so wie bei
Platon, dem Politischen gegenübergestellt oder ihm übergeordnet,
in seinem Wesen oder in seiner Idee eingeschrieben ist. Sie befindet
sich hinter ihm oder unterhalb seiner. Diese Wahrheit ist also nichts
anderes als das Wahre seiner Lüge, die Bewegung, von der seine
Lüge aufgedeckt wird. Das Archipolitische wird auf diese Weise
ins Metapolitische verwandelt. Die Metapolitik ist die Widerlegung
des Politischen im Kern des Politischen selbst, der Nachweis, der
jeden Fall des Politischen verdoppelt, um ihm die Verkennung dessen
eigener Wahrheit vorzuführen, auf diese Weise den Abstand zwischen
den Namen und den Sachen bezeichnend: die Nacktheit des Menschen
hinter der Herrlichkeit des Staatsbürgers; das Eigentum des
Eigentümers und das Nichteigentum des Nicht-Eigentümers
hinter der Nacktheit des Menschen; das absolute Un-Recht des Proletariers
hinter den Menschenrechten usw. Die moderne Metapolitik funktioniert
als eine ständige Interpretation des Unterschiedes des Volkes
zu sich selbst, der, wie wir gesagt haben, für das Politische
konstitutiv ist. Sie ist - im Unterschied zur Heilkunde des antiken
philosophischen Gesetzgebers - eine Symptomatologie, die in jeder
politischen Differenz, zum Beispiel im Unterschied zwischen dem
Menschen und dem Staatsbürger, ein Zeichen der Nicht-Wahrheit
sieht.
Aber dieser Prozeß der Auslöschung
des Politischen hat auch seine Kehrseite. Die metapolitische Interpretation
des Politischen wird ihrerseits wieder auf der politischen Schaubühne
interpretiert. Die Metapolitik tritt auf diese Weise innerhalb des
politischen Dispositivs, dessen Nichtigkeit sie aufdeckt, in einer
interpretierenden und einer interpretierten Gestalt auf. Sie nimmt
an seinem Funktionieren teil: Durch ihre Kritik die Selbstdifferenz
des Volkes verdoppelnd, wiederholt sie deren Inszenierung. Sie verdoppelt
und inszeniert von neuem die Zweideutigkeit von Namen und Äußerungen
der gesellschaftlichen Gestalten als politische Gestalten. Das moderne
Dispositiv des Politischen lebt von der Kritik des Politischen.
Es wird anhand der Wirkung der Wiederkehr der Metapolitik ins Feld
der politischen Subjektivierung konstruiert.
Versuchen wir die konstitutiven Schichten dieses
modernen Dispositivs zusammenzufassen, von dem die Subjektivierungsweisen
des Politischen mit den Objektivierungsformen der Metapolitik vermengt
werden.
1. Das moderne Politische ist, wie jedes Politische,
an die Entfaltung des Namens und der Erscheinung des Volkes gebunden.
Diese Entfaltung ist eng mit einem bestimmten Begriff der modernen
politischen Philosophie verbunden, dem Begriff der Souveränität.
Dieser Zusammenhang stellt aber von Anfang an ein Paradox dar. Der
Begriff der Souveränität strebt nämlich, insbesondere
noch in seiner Konzeptualisierung gemäß Hobbes, ein genau
entgegengesetztes Ziel an: Durch ihn soll die polizeiliche Konstitution
der Gemeinschaft vor der politischen Subjektivierungsweise geschützt
werden. Die Definition des Souveräns - was auch seine spezifische
Verkörperung sein mag - schließt jedes Recht und Unrecht
ins Spiel bringende Instanz als mit der Idee der Gemeinschaft im
Widerspruch stehend aus. Die Tautologie der Souveränität
wird gerade durch diese Ausschließung konstituiert. Aber sie
kann selbst wiederum nur auf der Grundlage einer Voraussetzung konstituiert
werden, die sie gleichzeitig zerstört - der Voraussetzung von
der Gleichheit eines jeden mit einem jeden anderen. Das moderne
Politische entspringt aus dieser Verdrehung, die ein Politisches
ohne Volk, ohne Subjektivierung des Unrechten konstituiert, dies
aber nur auf der Grundlage der Gleichheit tun kann. Die Fiktion
vom Verzicht auf Gleichheit im Vertrag ist auf diese Weise umkehrbar.
Und der Begriff der Souveränität, gebildet um das Volks-Subjekt
fernzuhalten, hat im Gegenteil, das Prinzip der Gemeinschaft subjektivierend,
zum neuen Auftauchen dieses Subjekts und zu seiner Identifizierung
mit diesem Prinzip/Subjekt der Gemeinschaft beigetragen. Er hat
eine Äquivalenz zwischen Prinzip und Gewalt, zwischen der arkhe
der "guten" Regierungen und dem kratos der Demokratie
gegründet. Die revolutionäre und demokratische Politik
kann also auf der Identifizierung des Volkes mit dem Prinzip der
Gemeinschaft begründet werden, einer Identifizierung, für
die Rousseau deutlich genug zeigt, wie sie durch Verschiebung der
Hobbesschen Konzeptualisierungselemente zustande kommt.
2. Nun wird aber die Identifizierung des Volkes
mit dem Subjekt/Prinzip der Gemeinschaft sofort verdoppelt. Dem
Volk der Souveränität setzt sich in Wirklichkeit ein anderes
Volk gegenüber, das denselben Namen trägt und dennoch
dem ersten in nichts ähnlich ist. Ein vor-politisches oder
außer-politisches Volk - die arbeitende und leidende Bevölkerung,
die unwissende Masse, die ungebändigte Menge usw. -, dessen
Faktizität die Vollendung der Souveränität behindert
oder ihr widerspricht. Der Name des Volkes wird also von neuem zum
Namen eines Abstandes, und die Geschichte des modernen Politischen
ist die Geschichte der verschiedenen Weisen, diesen Abstand zu interpretieren
und zu regeln.
3. Es gibt nun zwei hauptsächliche Weisen,
diesen Abstand des Volkes zu sich selbst zu denken und zu behandeln.
Erstens, die Weise der Metapolitik. Diese versteht den Abstand als
Äußerung einer unmöglichen Identifizierung, als
Anzeichen der Unwahrheit des idealen Volkes der Souveränität.
Hier ist unschwer das marxistische Interpretationsparadigma der
Menschenrechte zu erkennen: Der Abstand des Menschen und des Staatsbürgers
zeigt hier eine Unwahrheit an. Aber gleichzeitig äußert
sich darin eine Macht, von der dieser Abstand, diese Unwahrheit
des demokratischen politischen Schauplatzes abgeschafft werden muß.
Die Verwirklichung/Abschaffung der Philosophie stellt sich hier
als Verwirklichung/Abschaffung des Politischen dar. Sie ist die
Bewegung des Wahren, das den Schein auflöst. Diese Lokalisierung
der Wahrheit bezeichnet eine Stelle, das Gesellschaftliche, an der
das Politische in der Äußerung seines versteckten Wesens
verschwindet. Sie bezeichnet auch eine Weise des Wissens, in der
sich die Philosophie in ihrer Wahrheit, der Sozialwissenschaft,
aufhebt. Die Sozialwissenschaft - die "Soziologie" - ist
der generische Name des Diskurses, in dem sich die Philosophie aufheben
muß, um das Atopische des demokratischen Politischen abzuschaffen.
Daraus folgt eine meistens nur halbwegs verstandene Konsequenz.
Die Sozialwissenschaft der Moderne ist der politischen Philosophie
keineswegs entgegengesetzt, sozusagen als positives und positivistisches
Wissen, von dem zu Recht oder zu Unrecht die politische Philosophie
aufgegeben wurde. Sie ist im modernen Zeitalter die tatsächliche
Existenzweise dieses fünffüßigen Schafes, das sich
politische Philosophie nennt. Das Gesellschaftliche stellt keineswegs
jenes unheilvolle Vergessen des Politischen dar, das von den angeblichen
Wiederherstellern der politischen Philosophie beklagt wird. Es ist
vielmehr der Name ihrer modernen Gestalt.
4. Dieser Punkt kann durch eine Analyse der zweiten
Art, den Abstand des Volkes von sich selbst, den Abstand zwischen
dem souveränen Volk und dem empirischen Volk zu denken, klargestellt
werden. Es handelt sich also, zweitens, um die eigentlich politische
Weise, die der kämpfenden Demokratie eigen ist. Von dieser
wird in der Tat der Abstand als Ort eines Streithandels praktiziert.
Anstatt ihn als Differenz zwischen Namen und Sachen, zwischen Formellem
und Realem zu interpretieren, interpretiert sie ihn als repräsentierbaren,
nachweisbaren Abstand zwischen einem Namen und anderen Namen, einem
Körper und anderen Körpern, Formen und anderen Formen.
Sie setzt nicht ein wahres Volk einem idealen Volk der Souveränität
gegenüber. Sie inszeniert vielmehr in ihrer Differenz verschiedene
Erscheinungsweisen des Volkes, unterschiedene Gestalten seines Körpers,
die miteinander ins Verhältnis gesetzt werden müssen.
Im selben Beweisgang bringt sie zwei Erscheinungen des Volkes in
der ihnen eigenen Distanz zum Vorschein. Einerseits das Volk, in
dessen Namen das Gesetz beschlossen und ausgeübt wird. Andererseits
dieses andere Volk, das in den Bänken des Gesetze verfassenden
Parlamentes abwesend ist und nur auf der falschen Seite der Richterstühle,
von denen das Gesetz angewendet wird, zur Präsenz kommt. Das
souveräne Volk der erhabenen Gleichheitserklärungen und
das unsichtbare Volk, das in der dröhnenden und dunklen Welt
der Arbeit eingeschlossen ist. Es geht also nicht mehr darum, den
Abstand zwischen diesen zwei Gestalten des Volkes anzuzeigen, sich
vom Falschen aus auf das Wahre zu berufen. Es geht darum, das Verhältnis
zwischen dem, was ohne Verhältnis ist, als Ort eines Streithandels
zu konstruieren.
Diese Konstruktion ist das Werk einer Instanz,
die wir das dritte Volk nennen können. Es ist weder das Volk
der Souveränität, der Verfassung und des Gesetzes, noch
das Volk der Arbeit und des Elendes. Es ist der Operator, der ihren
Abstand verarbeitet, ihr Nicht-Verhältnis ins Verhältnis
setzt und einem Nicht-Ort seinen Ort verleiht. Es handelt sich zum
Beispiel um jenen Operator, der unter dem Namen des Arbeiters und
Proletariers zwei Flächen ohne sichtbare Überschneidung
ins Verhältnis setzt, den Raum des Staatsbürgertums und
den Raum der Arbeit. Dieser Raum ist, der guten polizeilichen Logik
gemäß, ein Hausraum, ohne Recht auf Sichtbarkeit und
öffentliche Diskussion. Um beide Räume ins Verhältnis
zu setzen, muß das proletarische oder arbeitende Subjekt die
Grenzen des Sichtbaren und des Unsichtbaren, die Verhältnisse
zwischen Sagen, Sehen und Tun verrücken. Aber um das zu vollbringen,
muß es die Formen der metapolitischen Bloßlegung der
demokratischen Politik neu inszenieren, sie in der Form des demokratischen
Streithandels fassen.
5. Die Eigentümlichkeit des modernen politischen
Dispositivs liegt also darin, daß es die Vereinigung von Entgegengesetztem
darstellt. Das Gesellschaftliche und die gesellschaftliche Bewegung,
der Sozialismus und die Arbeiterbewegung, wurden durch die Verflechtung
von zwei widersprüchlichen Verfahren gebildet: Das eine behandelte
den Streit als Symptom, das andere behandelte das Symptom auf die
Art des Streithandels. "Arbeiter" und "Proletarier"
waren so Namen von Akteuren eines doppelten Prozesses: Namen von
Akteuren einer demokratischen Politik, die den Abstand des Volkes
zu sich selbst und seinem Streithandel behandeln; und Namen
von metapolitischen Gestalten, von Akteuren der "realen Bewegung",
deren Aufgabe es war, den politischen Schein und seine entwickeltste
Form, die demokratische Illusion, aufzulösen. An den Personen
und an den Interpretationsverfahren wird eine eigentümliche
Verbindung des Entgegengesetzten durchgeführt. Die demokratische
Politik interpretiert den Abstand in der theatralischen Bedeutung
des Wortes als Handlung, die eine Verwicklung von Wörtern sehen
läßt. Die wissenschaftliche Metapolitik interpretiert
diese theatralische Interpretation als Symptom der Unwahrheit. Aber
sie wird ihrerseits reinterpretiert. Ihre Interpretation macht andere
Weisen möglich, diesen Abstand ins Spiel zu setzen und ihn
abzuschaffen. Und das "Gesellschaftliche" ist das Dispositiv
der Gesamtheit dieser Zwischen-Interpretationen, das moderne Dispositiv
eines Politischen, das mit seiner Negation verflochten ist.
Man sieht also die Wertlosigkeit der neuesten
Aufrufe, eine wahre politische Philosophie gegen die verderblichen
Irrgänge der Sozialwissenschaft aufzustellen. Ein authentisches
Denken des Politischen muß gerade mit diesen gängigen
Entgegensetzungen zwischen dem Politischen und dem Gesellschaftlichen
brechen. Das Gesellschaftliche war in der Moderne der Ort, an dem
sich das Politische abgespielt hat, der Name, den das Politische
angenommen hat. Dieser Name ist in der Tat dem Namen seines Anderen
ähnlich. Aber das Politische arbeitet genau an der Homonymie
und am Ununterscheidbaren. Jedes Politische betätigt sich auch
am Rand der radikalen Gefahr, die in der Verkörperung, der
Verwirklichung des politischen Subjekts im gesellschaftlichen Körper
verborgen liegt. Die politische Handlung hält sich immer im
Dazwischen auf, zwischen der "natürlichen" Gestalt,
der polizeilichen Gestalt der Verkörperung einer funktionsmäßig
geteilten Gesellschaft und der Grenzfigur einer anderen, archi-
oder metapolitischen Verkörperung: der Verwandlung des Subjekts,
das an der Desinkorporation der "natürlichen" gesellschaftlichen
Ordnung arbeitete, in einen glorreichen Körper, in den neuen
Menschen. Die Sozialwissenschaft war die politische Form der Moderne,
eine Form, die vom gespannten Verhältnis zwischen der Philosophie
und dem Politischen und vom philosophischen Projekt, die Philosophie
durch ihre Aufhebung zu verwirklichen, bestimmt war. Dieser Konflikt
und dieses Projekt kamen in den Umwandlungen der marxistischen Sozialwissenschaft
oder der Soziologie eines Durkheim, eines Tocqueville oder eines
Weber viel stärker zum Vorschein als in den angeblich reinen
Formen der politischen Philosophie. Das platonische Programm einer
organischen Gemeinschaft hat die erste Epoche der Sozialwissenschaften
beherrscht. Das aristotelische Programm einer durch die Distanz
zu sich selbst gesetzten Gemeinschaft belebt immer noch deren zweite.
Aus dieser skizzenhaften Analyse kann meiner Meinung
nach folgende Schlußfolgerung gezogen werden, die den gegenwärtigen
Anspruch, zum reinen Politischen und zur politischen Philosophie
"zurückzukehren", betrifft: Dieser Anspruch kann
heute nur als Versuch verstanden werden, zu einem Punkt diesseits
des konstitutiven Konflikts des modernen Politischen, d.h. der grundlegenden
Auseinandersetzung zwischen der Philosophie und dem Politischen
zurückzukehren. Also, kurz gesagt, zu einem Nullpunkt des Politischen
und der Philosophie zurückzukehren. Dieser Nullpunkt besteht
in der theoretischen Idylle einer philosophischen Bestimmung des
Guten, das von der politischen Gemeinschaft zu verwirklichen wäre.
Diese philosophische Idylle ist auch eine politische Idylle: Die
Verwirklichung des gemeinsamen Guten durch eine aufgeklärte,
sich auf das Vertrauen der Massen stützende Elitenregierung.
In dieser einfältigen Idylle, die Aristoteles
auf konsensuelle Gemeinplätze reduzieren möchte, muß
die gemeinsame Niederlage des Politischen und der Philosophie erkannt
werden. Die Reflexion des Verhältnisses von Philosophie und
Politischem wird keineswegs durch die willfährige Kritik der
Sozialwissenschaft oder des "Historizismus" vorangebracht.
Die Geschichte war der konzeptuelle Ort, an dem sich die konfliktuelle
Natur des Politischen und der philosophisch-politische Traum seiner
Abschaffung in der Moderne abspielten. Die "Rückkehr"
ist einzig als ein Zurück zum Diesseits des Politischen und
der Philosophie möglich. Die "politische Philosophie"
muß der Ort einer nichtversöhnbaren Unstimmigkeit bleiben.
Es gibt kein reines Wesen des Politischen, das darzustellen und
zu verwirklichen der Philosophie anheimfiele. Mit dem Politischen
ist es, mit Kafka gesprochen, so beschaffen, wie mit der Literatur.
Kafka zufolge ist das Schreiben nicht bei sich selbst anwesend.
Ebenso ist auch das Politische im Vollzug nicht bei sich selbst.
Die Philosophie kann, im Bestreben, das Politische auf dem ihm eigenen
Gebiet anzusiedeln, nichts anderes erreichen, als sich selbst im
Überschuß des Archi- oder Metapolitischen oder in der
eigenen Auslöschung, von der das gegenwärtige Denken zeugt,
anzusiedeln. Die "politische Philosophie" kann nichts
anderes sein als Aufnahme und Neudarlegung des konstitutiven Paradoxes
des Politischen.