Demokratische Staatsbürgerschaft und politische Gemeinschaft

von Chantal Mouffe

Die Themen 'Staatsbürgerschaft'1 und 'Gemeinschaft' werden heutzutage in vielen Teilen der Linken diskutiert. Das ist zweifellos eine Konsequenz aus der Krise der Klassenpolitik und zeigt das zunehmende Bewußtsein von der Notwendigkeit einer neuen Identifikationsform an, um die herum die Kräfte zu organisieren sind, die für eine Radikalisierung der Demokratie kämpfen. Ich glaube, daß die Frage nach politischen Identitäten entscheidend ist und daß der Versuch, Bürger2-Identitäten zu entwerfen, eine der wichtigen Aufgaben demokratischer Politik darstellt. Doch es existieren viele verschiedene Vorstellungen von Staatsbürgerschaft, und in ihrem Widerstreit untereinander stehen wesentliche Fragen auf dem Spiel. Die Art und Weise, wie wir Staatsbürgerschaft definieren, ist daher unmittelbar mit der Art von Gesellschaft und politischer Gemeinschaft verknüpft, die wir wollen.
Wie sollen wir die Staatsbürgerschaft auffassen, wenn unser Ziel eine radikale und plurale Demokratie ist? Solch ein Projekt benötigt die Erzeugung einer Äquivalenzkette zwischen demokratischen Kämpfen und deshalb die Herstellung einer gemeinsamen politischen Identität zwischen demokratischen Subjekten. Welche Bedingungen müssen vorhanden sein, damit die Anrufung als 'Bürger' diese Rolle zu erfüllen vermag?
Dies sind die Probleme, die ich ansprechen werde, und ich werde dahingehend argumentieren, daß die Schlüsselfrage darin besteht, wie wir die Natur der politischen Gemeinschaft unter modernen demokratischen Bedingungen zu begreifen haben. Ich bin der Auffassung, daß wir über die Vorstellungen von Staatsbürgerschaft sowohl der liberalen als auch der zivil-republikanischen Tradition hinausgehen müssen, während wir auf ihre jeweiligen Stärken aufbauen. Um meine Überlegungen in den Kontext laufender Diskussionen zu stellen, werde ich damit beginnen, mich auf die Debatte zwischen kantianischen Liberalen und den sogenannten 'Kommunitaristen' einzulassen. Auf diese Weise hoffe ich, die Spezifität meines Ansatzes sowohl politisch als auch theoretisch hervorzuheben.

Liberalismus versus Zivil-Republikanismus

Was wirklich zwischen John Rawls und seinen kommunitaristischen Kritikern auf dem Spiel steht, ist das Thema der Staatsbürgerschaft. Zwei unterschiedliche Sprachen, in denen wir unsere Identität als Staatsbürger artikulieren, stehen hier einander gegenüber. Rawls schlägt vor, den Bürger einer konstitutionellen Demokratie in Begriffen von gleichen Rechten darzustellen, die durch seine zwei Gerechtigkeitsgrundsätze ausgedrückt werden. Er behauptet, daß, sobald sich die Staatsbürger selbst als freie und gleiche Personen betrachten, sie anerkennen müßten, daß sie zum Verfolgen ihrer eigenen unterschiedlichen Vorstellungen des Guten die gleichen Grundgüter - nämlich die gleichen Grundrechte, Freiheiten und Chancen - benötigen sowie die gleichen dazu zweckdienlichen Mittel wie Einkommen, Vermögen und den gleichen sozialen Ausgangspunkt der Selbstachtung. Darum sollten sie sich über eine politische Vorstellung von Gerechtigkeit einigen, die besagt, daß "alle sozialen Grundgüter - Freiheit und Chancen, Einkommen und Vermögen und die Ausgangslage der Selbstachtung - gleich zu verteilen sind, es sei denn, daß eine ungleiche Verteilung von einigen oder von allen dieser Güter zum Vorteil der Benachteiligsten ist"3. Gemäß dieser liberalen Sichtweise stellt die Staatsbürgerschaft das Vermögen jeder Person dar, seine oder ihre Definition des Guten zu bilden, zu überprüfen und rational zu verfolgen. Als Bürger werden diejenigen betrachtet, die ihre Rechte gebrauchen, um ihr Eigeninteresse innerhalb gewisser Einschränkungen - auferlegt durch die Notwendigkeit, die Rechte der Anderen zu respektieren - zu fördern. Die Kommunitaristen wenden dagegen ein, daß dies einer verkürzten Auffassung entspricht, die die Idee des Bürgers als jemanden, für den es natürlich ist, sich mit anderen zu vereinigen, um ein gemeinsames Handeln hinsichtlich des Gemeinwohls zu verfolgen, ausschließt. Michael Sandel hat argumentiert, daß Rawls Vorstellung eines Selbst in dem eines 'ungebundenen' Selbst besteht, die keinen Raum für eine 'konstitutive' Gemeinschaft läßt, eine Gemeinschaft, die gerade die Identität der Individuen konstituieren würde. Aus ihr folgt nur eine 'instrumentelle' Gemeinschaft, in der die Individuen mit ihren vorher definierten Interessen und Identitäten im Hinblick darauf eintreten, diese Interessen zu fördern.4
Die Alternative zu diesem mangelhaften liberalen Ansatz stellt für die Kommunitaristen die Wiederbelebung der zivil-republikanischen Sicht von Politik dar, die eine starke Betonung auf die Idee eines Gemeinwohls legt, das vor und unabhängig von individuellen Wünschen und Interessen besteht. Diese Tradition ist heutzutage nahezu verschwunden, weil sie durch den Liberalismus ersetzt wurde, obwohl sie eine lange Geschichte aufweist. Sie zeigte ihre stärkste Ausprägung in den italienischen Republiken am Ende des Mittelalters, aber ihre Ursprünge reichen zum griechischen und römischen Denken zurück. Sie wurde im siebzehnten Jahrhundert in England durch James Harrington, John Milton und andere Republikaner reformuliert. Später breitete sie sich durch die Arbeit der Neo-Harringtonianer in der Neuen Welt aus, und neueste Studien haben gezeigt, daß sie während der Amerikanischen Revolution eine sehr wichtige Rolle spielte.5
Obgleich mit der liberalen Vorstellung von Staatsbürgerschaft ernsthafte Probleme verbunden sind, müssen wir uns auch der Unzulänglichkeiten der zivil-republikanischen Lösung bewußt sein. Sie stellt uns eine Sichtweise von Staatsbürgerschaft zur Verfügung, die viel reichhaltiger als die liberale ist, und ihre Vorstellung von Politik als einen Bereich, wo wir uns als Teilnehmer an einer politischen Gemeinschaft anerkennen können, übt offensichtlich eine starke Anziehung auf Kritiker des liberalen Individualismus aus. Trotzdem liegt in der Rückkehr zu einer vormodernen Sicht auf Politik eine reale Gefahr, die nicht die Neuheit moderner Demokratie und den entscheidenden Beitrag des Liberalismus anerkennt. Die Verteidigung des Pluralismus, die Idee individueller Freiheit, die Trennung von Kirche und Staat und die Entwicklung einer bürgerlichen Gesellschaft sind alle für eine moderne, demokratische Politik konstitutiv. Sie verlangen, daß zwischen dem privaten und dem öffentlichen Gebiet, dem Bereich der Moral und dem Bereich der Politik, eine Unterscheidung vorgenommen wird. Im Gegensatz zu dem, was einige Kommunitaristen vorschlagen, kann eine moderne, demokratische politische Gemeinschaft nicht um eine einzelne substantielle Idee des Gemeinwohls herum organisiert werden. Die Wiedergewinnung einer starken partizipatorischen Idee von Staatsbürgerschaft sollte nicht auf Kosten der Preisgabe individueller Freiheit geschehen. Das ist der Punkt, an dem die kommunitaristische Kritik des Liberalismus eine gefährliche konservative Wende nimmt.
Die Aufgabe besteht meiner Meinung nach nicht im Ersetzen einer Tradition durch die andere, sondern eher darin, beide heranzuziehen und zu versuchen, ihre Einsichten in eine neue Konzeption der Staatsbürgerschaft, die einem Projekt der radikalen und pluralen Demokratie angemessen ist, zu verbinden. Obgleich der Liberalismus gewiß zu der Formulierung der Idee einer universellen Staatsbürgerschaft beitrug, die sich auf die Feststellung stützte, daß alle Menschen frei und gleich geboren werden, reduzierte er Staatsbürgerschaft zu einem bloß rechtlichen Zustand, der die Rechte aufstellt, die die Individuen gegen den Staat besitzen. Die Art und Weise, wie diese Rechte ausgeübt werden, ist so lange bedeutungslos, wie ihre Inhaber das Gesetz nicht brechen oder die Rechte der Anderen beeinträchtigen. Der soziale Zusammenschluß erfüllt lediglich den Zweck, die produktiven Fähigkeiten zu steigern und die Erfüllung des individuellen Wohlstandes einer jeden Person zu erleichtern. Die Ideen von öffentlicher Willensbildung, bürgerlicher Tätigkeit und politischer Teilnahme an einer Gemeinschaft von Gleichen sind den meisten liberalen Denkern fremd.
Im Gegensatz dazu betont der Zivil-Republikanismus den Wert der politischen Beteiligung und schreibt unserer Einfügung in eine politische Gemeinschaft eine zentrale Rolle zu. Aber das Problem taucht mit der Erfordernis auf, die politische Gemeinschaft in einer Weise zu begreifen, die mit moderner Demokratie und liberalem Pluralismus vereinbar ist. Mit anderen Worten sehen wir uns dem alten Dilemma gegenüber, wie die Freiheiten der Alten mit den Freiheiten der Modernen zu versöhnen sind. Die Liberalen argumentieren dahingehend, daß die zwei unverträglich sind und daß heutzutage Ideen über das 'Gemeinwohl' nur totalitäre Implikationen haben können. Folgt man ihnen, dann ist es unmöglich, demokratische Institutionen mit der Bedeutung gemeinsamer Ziele, die vormoderne Gesellschaften genossen haben, zu verbinden, und dann stellen die Ideale der 'republikanischen Tugend' nostalgische Überbleibsel dar, die ausrangiert werden müßten. Sie behaupten, daß aktive politische Teilnahme mit der modernen Idee von Freiheit unvereinbar ist. Individuelle Freiheit kann nur in negativer Weise als Abwesenheit von Zwang verstanden werden.
Dieses Argument, das durch Isaiah Berlin in 'Two Concepts of Liberty'6 wirkungsvoll reformuliert wurde, wird gewöhnlich dazu verwendet, jeden Versuch zu diskreditieren, die zivil-republikanische Vorstellung von Politik wiederzubeleben. Gleichwohl wurde es kürzlich von Quentin Skinner in Frage gestellt, der darauf hinweist, daß es keine grundsätzliche Unvereinbarkeit zwischen der klassisch republikanischen Vorstellung von Staatsbürgerschaft und moderner Demokratie gibt.7 Er macht in einigen Formen republikanischen Denkens, insbesondere bei Machiavelli, eine Art und Weise ausfindig, Freiheit zu denken, die, obgleich negativ - und damit modern - politische Teilnahme und staatsbürgerliche Tugend einschließt. Sie ist negativ, weil Freiheit als Abwesenheit von Hindernissen bei der Verwirklichung unserer gewählten Ziele verstanden wird. Aber sie besagt auch, daß solch eine individuelle Freiheit nur von Bürgern eines 'freien Staates', einer Gemeinschaft, deren Mitglieder aktiv an der Regierung teilnehmen, gewährleistet werden kann. Um unsere eigene Freiheit zu schützen und um die Knechtschaft, die ihren Gebrauch unmöglich machen würde, zu vermeiden, müssen wir staatsbürgerliche Tugenden kultivieren und uns dem Gemeinwohl widmen. Die Idee eines Gemeinwohls außerhalb unserer privaten Interessen stellt eine notwendige Bedingung dar, in den Genuß individueller Freiheit zu kommen. Skinners Argument ist wichtig, weil es die Behauptung der Liberalen widerlegt, daß individuelle Freiheit und politische Teilnahme niemals in Einklang gebracht werden könnten. Das ist für ein radikal-demokratisches Projekt von entscheidender Bedeutung; doch die Art der politischen Gemeinschaft, die für eine derartige Artikulation zwischen den Rechten der Individuen einerseits und der politischen Teilnahme der Bürger andererseits angemessen ist, stellt dann das Problem dar, das nun angesprochen wird.

Moderne Demokratie und politische Gemeinschaft

Eine andere Möglichkeit, sich der Debatte zwischen kantianischen Liberalen wie Rawls und den Kommunitaristen zu nähern, besteht in der Frage nach dem Vorrang des Rechts vor dem Guten; dies ist für das Thema der modernen, demokratischen politischen Gemeinschaft von unmittelbarer Bedeutung.
Ein derartiger Vorrang bringt für Rawls zum Ausdruck, daß individuelle Rechte nicht zugunsten der allgemeinen Wohlfahrt geopfert werden können, wie es im Fall des Utilitarismus geschieht, und daß die Gerechtigkeitsgrundsätze Beschränkungen auferlegen, was die zulässigen Vorstellungen des Guten sind, die die Individuen verfolgen dürfen. Darum besteht er darauf, daß die Gerechtigkeitsgrundsätze unabhängig von jeder besonderen Vorstellung des Guten hergeleitet werden müssen, weil sie die Existenz einer Vielzahl widerstreitender Vorstellungen des Guten respektieren müssen, um bei allen Bürgern akzeptiert zu werden. Seine Absicht ist hier eine Verteidigung des liberalen Pluralismus, der verlangt, daß den Individuen weder eine bestimmte Vorstellung des Wohlergehens noch ein besonderer Lebensentwurf aufgezwungen wird. Dies sind für Liberale private Fragen, die auf die individuelle Moral Bezug nehmen, und sie glauben, daß das Individuum in der Lage sein sollte, ihr bzw. sein Leben gemäß ihrer bzw. seiner Wünsche ohne unnötige Eingriffe von außen zu organisieren - daher die Zentralität der Idee individueller Rechte und die Behauptung, daß die Gerechtigkeitsgrundsätze keine bestimmte Vorstellung des guten Lebens privilegieren dürfen.
Ich sehe das als einen wichtigen Grundsatz an, der verteidigt werden muß, weil er für moderne demokratische Gesellschaften von entscheidender Bedeutung ist. In der Tat ist die moderne Demokratie gerade durch die Abwesenheit eines substantiellen Gemeinwohls gekennzeichnet. Dies ist die Bedeutung der demokratischen Revolution, wie sie von Claude Lefort analysiert wurde8, der sie mit der Auflösung der Marksteine der Gewißheit identifizierte. Laut Lefort stellt die moderne demokratische Gesellschaft eine Gesellschaft dar, in der Macht zu einem leeren Ort geworden und vom Gesetz und vom Wissen getrennt ist. In solch einer Gesellschaft ist es nicht mehr möglich, eine endgültige Garantie, eine definitive Legitimation, bereitzustellen, weil Macht nicht mehr in der Person des Fürsten verkörpert und mit einer transzendentalen Instanz verbunden ist. Macht, Gesetz und Wissen sind deswegen einer radikalen Unbestimmtheit ausgesetzt; in meinen Begriffen: ein substantielles Gemeinwohl wird unmöglich. Darauf weist Rawls ebenfalls hin, wenn er behauptet, "daß die Hoffnung auf eine politische Gemeinschaft aufgeben werden muß, wenn wir darunter eine politische Gesellschaft verstehen, deren Einheit in der einhelligen Zustimmung zu einer allgemeinen und umfassenden Lehre liegt."9 Wenn sich der Vorrang des Rechts vor dem Guten darauf beschränken würde, wäre ich damit einverstanden. Doch Rawls möchte einen absoluten Vorrang des Rechts vor dem Guten einführen, weil er nicht erkennt, daß dieser nur in einem bestimmten Gesellschaftstyp mit spezifischen Institutionen existieren kann und daß er ein Ergebnis der demokratischen Revolution darstellt.
Darauf erwidern die Kommunitaristen mit gutem Grund, daß ein solch absoluter Vorrang des Rechts nicht bestehen kann und daß wir uns eine Bedeutung des Rechts und eine Vorstellung der Gerechtigkeit nur durch unsere Teilnahme an einer Gemeinschaft, die das Gute in einer gewissen Weise festlegt, aneignen können. Mit Recht weist Charles Taylor darauf hin, daß der Fehler des liberalen Ansatzes darin besteht, daß "es ihm mißlingt, den Grad in Betracht zu ziehen, nach welchem das freie Individuum mit seinen Zielen und Erwartungen, deren rechtmäßige Gewinne es zu beschützen versucht, nur innerhalb einer bestimmten Art von Zivilisation möglich ist; daß es einer langen Entwicklung von bestimmten Institutionen und Praktiken, von Rechtsstaatlichkeit, von Regeln gegenseitiger Achtung, von der Gewöhnung an gemeinsame Beratungen, von gemeinsamer Vereinigung, von einer kulturellen Entfaltung und so weiter bedarf, um das moderne Individuum herzustellen."10
Jedoch schießen die Kommunitaristen über ihr Ziel hinaus, wenn einige von ihnen, wie Sandel, daraus schließen, daß es niemals einen Vorrang des Rechts vor dem Guten geben könne und daß wir deswegen den liberalen Pluralismus verwerfen und zu einem Gemeinschaftstyp zurückkehren sollten, der um geteilte moralische Werte und eine substantielle Idee des Gemeinwohls herum organisiert wird. Wir können mit Rawls völlig übereinstimmen, wenn es um den Vorrang der Gerechtigkeit als die grundlegende Qualität sozialer und politischer Institutionen und um die Verteidigung des Pluralismus und von Rechten geht, und gleichzeitig darauf bestehen, daß diese Grundsätze für einen bestimmten Typ politischer Vereinigung charakteristisch sind.
Gleichwohl gibt es einen anderen Aspekt der kommunitaristischen Kritik des Liberalismus, auf den wir nicht verzichten, sondern den wir reformulieren sollten. Die Abwesenheit eines einzigen substantiellen Gemeinwohls in modernen demokratischen Gesellschaften und die Trennung zwischen dem Bereich der Moral und dem Bereich der Politik hat ohne Zweifel einen unbestreitbaren Gewinn an individueller Freiheit bedeutet. Aber die Folgen für die Politik waren sehr schädlich. Alle normativen Belange wurden zunehmend an den Bereich privater Moral, an das Gebiet der 'Werte', verwiesen, und die Politik wurde ihrer ethischen Bestandteile beraubt. Eine instrumentelle Vorstellung wurde dominant, die sich ausschließlich mit den Kompromissen zwischen vorher festgelegten Interessen befaßte. Auf der anderen Seite hat die ausschließliche Beschäftigung des Liberalismus mit Individuen und ihren Rechten keinen wirklichen Gehalt und keine Orientierung zur Ausübung dieser Rechte zur Verfügung gestellt. Dies führte zu einer Abwertung von staatsbürgerlichen Verhaltensweisen und von dem gemeinsamen Anliegen und hat einen zunehmenden Mangel an sozialer Bindung in den demokratischen Gesellschaften verursacht. Die Kommunitaristen haben Recht, eine derartige Situation zu kritisieren, und ich bin mit ihrem Versuch einverstanden, einige Aspekte der klassischen Vorstellung von Politik wiederzubeleben. Wir haben die verlorene Verbindung zwischen Ethik und Politik wiederherzustellen, dies kann aber nicht durch Preisgabe der Verdienste der demokratischen Revolution geschehen. Wir sollten die falsche Dichotomie zwischen individueller Freiheit und Rechten oder zwischen staatsbürgerlicher Tätigkeit und politischer Gemeinschaft nicht akzeptieren. Unsere Wahl ist nicht diejenige zwischen einer Menge von Individuen ohne ein gemeinsames öffentliches Interesse und einer vormodernen Gemeinschaft, die um eine einzige substantielle Idee des Gemeinwohls herum organisiert ist. Es ist die entscheidende Herausforderung, sich die moderne, demokratische politische Gemeinschaft außerhalb dieser Dichotomie vorzustellen.
Ich habe schon darauf hingewiesen, wie Quentin Skinner eine mögliche Form der Artikulation zwischen individueller Freiheit und bürgerlicher Teilnahme andeutet. Aber wir müssen ebenfalls dazu in der Lage sein, den ethischen Charakter moderner Staatsbürgerschaft in einer Art und Weise zu formulieren, die mit dem moralischen Pluralismus vereinbar ist und den Vorrang des Rechts vor dem Guten anerkennt. Was wir teilen und was uns zu Mitbürgern in einem liberal-demokratischen Regime macht, ist nicht eine substantielle Idee des Guten, sondern eine Reihe politischer Grundsätze, die für diese Tradition charakteristisch sind: die Prinzipien von Freiheit und Gleichheit für alle. Diese Prinzipien konstituieren, was wir - Wittgenstein folgend - als 'Grammatik' politischen Verhaltens bezeichnen können. Bürger sein bedeutet, die Autorität dieser Grundsätze und die Regeln, in denen sie verkörpert sind, anzuerkennen, und sie unsere politischen Urteile und unser Handeln leiten zu lassen. Durch die Anerkennung der liberal-demokratischen Grundsätze vereinigt zu sein: das ist die Bedeutung von Staatsbürgerschaft, die ich vorschlagen möchte. Das impliziert, Staatsbürgerschaft nicht als einen rechtlichen Zustand, sondern als eine Form der Identifikation, einen Typ politischer Identität, anzusehen: etwas, was konstruiert wird und nicht empirisch vorhanden ist. Weil es immer konkurrierende Interpretationen der demokratischen Prinzipien von Freiheit und Gleichheit geben wird, wird es folgerichtig ebenfalls ständig konkurrierende Interpretationen von einer demokratischen Staatsbürgerschaft geben. Bevor ich nun die Natur einer radikal-demokratischen Staatsbürgerschaft untersuchen werde, muß ich zu der Frage nach der politischen Vereinigung oder der Gemeinschaft zurückkehren.

Die politische Gemeinschaft: Universitas oder Societas?

Wie ich im vorhergehenden andeutete, müssen wir eine Art politischer Vereinigung ersinnen, die, obwohl sie nicht die Existenz eines substantiellen Gemeinwohls postuliert, trotzdem die Idee einer Gemeinschaft (commonality) impliziert, von einem ethisch-politischen Band, das eine Verknüpfung zwischen den Teilnehmern an jener Vereinigung herstellt und uns dazu berechtigt, von einer politischen 'Gemeinschaft' - wenn auch nicht im engeren Sinn - zu sprechen. Mit anderen Worten suchen wir nach einem Weg, uns den Unterscheidungen zwischen öffentlich und privat, Moral und Politik, die den wichtigsten Beitrag des Liberalismus zur modernen Demokratie dargestellt haben, anzuschließen, ohne auf die ethische Natur der politischen Vereinigung zu verzichten.
Ich bin der Auffassung, daß die von Michael Oakeshott in On Human Conduct vorgeschlagenen Überlegungen zu einer staatsbürgerlichen Vereinigung für einen derartigen Zweck sehr aufschlußreich sein können, wenn wir sie in einer bestimmten Weise interpretieren. Oakeshott zeigt, daß societas und universitas, die im späten Mittelalter als zwei unterschiedliche Arten der menschlichen Vereinigung verstanden wurden, auch zwei verschiedene Auffassungen des modernen Staates darstellen können. Universitas deutet ein Engagement für das Vorhaben an, gemeinsame substantielle Zwecke zu verfolgen oder ein Allgemeininteresse zu fördern. Sie bezieht sich deswegen "auf Personen, die sich auf eine Art und Weise vereinigen, als bildeten sie eine natürliche Person, eine Verbindung von Personen, die selbst eine Person darstellt oder in einigen wichtigen Hinsichten wie eine Person erscheint."11
Im Gegensatz zu diesem Modell der Vereinigung von Handelnden, die an einem durch einen Zweck bestimmten gemeinsamen Vorhaben teilnehmen, bezeichnet societas oder 'staatsbürgerliche Vereinigung' eine formale, nach Regeln geleitete Beziehung und keine substantielle, auf ein gemeinsames Handeln bezogene Beziehung. "Die Idee der societas entspricht der von Handelnden, die - durch eigene Entscheidung oder durch Lebensumstände - in Beziehung zueinander stehen, um eine identifizierbare Vereinigung einer bestimmten Art zu bilden. Das Band, das sie verbindet und im Hinblick auf das sich jeder als socius anerkennt, ist nicht das des Engagements in einem Vorhaben, gemeinsame substantielle Zwecke zu verfolgen oder ein Allgemeininteresse zu fördern, sondern ist das der gegenseitigen Verläßlichkeit."12 Deswegen ist es keine Art von Beziehung, die auf ein gemeinsames Handeln abzielt, sondern eine Beziehung, in der die Teilnehmer durch die Anerkennung der Autorität gewisser Verhaltensbedingungen gegenseitig positioniert sind.
Oakeshott besteht darauf, daß die Teilnehmer an einer societas bzw. die cives weder wegen eines gemeinsamen Vorhabens noch mit dem Ausblick, die Erfüllung individuellen Wohlergehens einer jeden Person zu erleichtern, vereinigt sind; was sie verbindet, ist die Anerkennung der Autorität von Bedingungen, die ihre gemeinsamen oder öffentlichen Anliegen spezifizieren - eine 'Praxis der gegenseitigen Rücksichtnahme (civility)'. Dieses öffentliche Anliegen oder diese Bezugnahme der cives aufeinander nennt Oakeshott respublica. Sie ist eine Praxis der gegenseitigen Rücksichtnahme (civility) die keine Handlungsweisen, sondern Bedingungen festlegt, denen bei der Auswahl von Handlungsweisen zugestimmt werden muß. Diese bestehen aus einem Komplex von Regeln oder regelähnlichen Vorschriften, die keine zu begehrenden Erfüllungen oder auszuführenden Handlungen, sondern "moralische Erwägungen vorschreiben, die die Bedingungen festsetzen, denen bei der Auswahl von Handlungsweisen zugestimmt werden muß."13
Oakeshotts Idee der bürgerlichen Vereinigung als societas scheint mir angemessen, um eine politische Vereinigung unter modernen demokratischen Voraussetzungen zu definieren. In der Tat stellt es eine Art menschlicher Vereinigung dar, die das Verschwinden einer einzigen substantiellen Idee des Gemeinwohls anerkennt und Raum für individuelle Freiheit läßt. Es ist eine Form der Vereinigung, die auch von untereinander relativ fremden Menschen gebildet werden kann, die vielen zweckgerichteten Vereinigungen angehören und deren Zugehörigkeitsgefühl zu bestimmten Gemeinschaften nicht als Grund für einen Konflikt mit ihrer Mitgliedschaft in der staatsbürgerlichen Vereinigung angesehen wird. Das wäre nicht möglich, wenn man eine solche Vereinigung als universitas, als auf einen Zweck ausgerichtete Vereinigung begreifen würde, da sie die Existenz anderer, genuin zweckgerichteter Vereinigungen, deren Teilnahme den Individuen freisteht, nicht gestatten würde.
Der politischen Gemeinschaft anzugehören verlangt, daß wir eine besondere staatsbürgerliche Verkehrsprache akzeptieren, die respublica. Deren Regeln schreiben Verhaltensnormen vor, denen zugestimmt werden muß, um nach selbstgewählten Erfüllungen zu streben und selbstgewählte Handlungen auszuführen. Die Identifikation mit diesen Regeln staatsbürgerlicher Umgangsweise erzeugt eine gemeinsame politische Identität zwischen Personen, die ansonsten in vielen verschiedenen Vorhaben involviert sind. Diese moderne Form von politischer Gemeinschaft wird nicht durch eine substantielle Idee des Gemeinwohls, sondern durch ein gemeinsames Band, ein öffentliches Anliegen, zusammengehalten. Aus diesem Grund stellt sie eine Gemeinschaft ohne eindeutige Form und ohne festgelegte Identität dar und befindet sich in unaufhörlicher Neuzusammensetzung. Eine derartige Vorstellung unterscheidet sich eindeutig von der vormodernen Idee der politischen Gemeinschaft, doch sie weicht ebenfalls von der liberalen Idee der politischen Vereinigung ab. Denn der Liberalismus sieht zwar eine politische Vereinigung als eine Form einer zweckgerichteten Vereinigung, einem Vorhaben an, jedoch mit dem Unterschied, daß in diesem Fall der Zweck ein instrumenteller ist: die Förderung des Eigeninteresses.
Oakeshott kritisiert die liberale Sicht des Staates als Schlichter von Interessen, die er für ebenso unzulänglich für eine staatsbürgerliche Vereinigung hält wie die Idee des Staates als Förderer eines Interesses, und behauptet, "daß angenommen worden sei, daß die 'Rechtsstaatlichkeit' ausreiche, um eine staatsbürgerliche Vereinigung zu bestimmen, während doch die Art des Gesetzes von entscheidender Bedeutung ist: 'moralisch' oder 'instrumentell'."14 Seine Vorstellung sollte deswegen nicht mit der liberalen Doktrin der Rechtsstaatlichkeit durcheinandergebracht werden. Er hebt den moralischen Charakter der respublica hervor und erklärt, daß politisches Denken, das sich auf die respublica bezieht, dieses im Hinblick auf das bonum civile tut. Er stellt fest: "Daher kennzeichnet civility eine Ordnung moralischer (nicht instrumenteller) Erwägungen, und die sogenannte Neutralität staatsbürgerlicher Vorschriften entspricht nur der halben Wahrheit, die durch die Anerkennung einer staatsbürgerlichen Vereinigung ergänzt werden müßte, die selbst einen moralischen Zustand und keinen des Kalküls darstellt."15 Mit 'Moral' bezieht er sich offensichtlich nicht auf eine umfassende Sichtweise, sondern auf das, was ich vorgeschlagen habe, das 'Ethisch-Politische' zu nennen, da er behauptet, daß, was staatsbürgerlich wünschenswert ist, nicht aus allgemeinen moralischen Grundsätzen gefolgert oder abgeleitet werden kann und daß es die politische Beratschlagung mit sie selbst betreffenden moralischen Erwägungen zu tun hat. "Diese respublica ist die Artikulation eines gemeinsamen Interesses, daß das Verfolgen aller Absichten und die Förderung aller Interessen, die Erfüllung aller Wünsche und die Verbreitung aller Überzeugungen mit den Bedingungen in Übereinstimmung stehen sollen, die in Regeln formuliert wurden, die wiederum gleichgültig gegenüber den Verdiensten irgendeines Interesses oder der Wahrheit oder Falschheit irgendeiner Überzeugung sind und folgerichtig nicht selbst ein substantielles Interesses oder eine Doktrin zum Ausdruck bringen."16
Wir können - unter Verwendung von Rawls Vokabular - sagen, daß in einer bürgerlichen Vereinigung oder societas ein Vorrang des Rechts vor dem Guten existiert, aber daß im Fall von Oakeshott die Grundsätze, die das Recht kennzeichnen, die respublica, nicht wie bei Rawls in einer kantianischen, sondern in einer hegelianischen Weise begriffen werden, da, gemäß der respublica vereinigt zu sein, für ihn bedeutet, einer sittlichen* Beziehung anzugehören. Was ich an diesem Ansatz nützlich finde ist, daß, während er die Anerkennung des Pluralismus und individueller Freiheit gestattet, die Vorstellung von societas nicht alle normativen Aspekte an die Sphäre privater Moral abtritt. Diese Art von Vereinigung - die Oakeshott bis zu Machiavelli, Montesquieu und Hegel zurückverfolgt - erlaubt es uns, eine bestimmte Idee der politischen Gemeinschaft im Sinne eines nichtinstrumentellen, ethischen Typs von Verbindung zwischen cives aufrechtzuerhalten, während wir sie von der Existenz eines substantiellen Gemeinwohls befreien.
Ich erwähnte am Anfang, daß Oakeshotts Überlegungen in einer bestimmten Weise interpretiert werden müßten, um für ein radikal-demokratisches Projekt fruchtbar zu sein. Ich bin mir natürlich vollkommen des konservativen Gebrauchs bewußt, den er von der Unterscheidung zwischen societas und universitas macht, aber ich glaube, daß er nicht der einzige und notwendige ist.17 Tatsächlich beruht Oakeshotts Konservatismus in der Bedeutung, die er der respublica gibt, aber das kann natürlich durch die Einführung radikalerer Prinzipien beseitigt werden, wie ich später aufzeigen werde. Aber grundsätzlicher beruht er auf seiner mangelhaften Idee von Politik. Denn seine Vorstellung von Politik als einer gemeinsam geteilten Sprache von civility ist nur für einen Aspekt von Politik angemessen: den Standpunkt des 'Wir', den von unserem Freund. Jedoch hat Carl Schmitt zu Recht darauf hingewiesen, daß das Kriterium des Politischen in der Freund/Feind-Beziehung besteht. Was bei Oakeshott völlig fehlt, ist der Aspekt der Spaltung und des Antagonismus, also der des Feindes. Dies ist ein Versäumnis, das behoben werden muß, wenn wir uns seine Vorstellung von societas aneignen wollen.
Um Konflikt und Antagonismus in Oakeshotts Modell einzubringen, ist es notwendig anzuerkennen, daß die respublica das Produkt einer gegebenen Hegemonie, den Ausdruck von Machtverhältnissen, darstellt und daß sie in Frage gestellt werden kann. Politik dreht sich größtenteils um die Regeln der respublica und ihren vielen möglichen Interpretationen; sie bewirkt die Herstellung der politischen Gemeinschaft und findet nicht innerhalb dieser statt, wie einige Kommunitaristen es gerne hätten. Das politische Leben besteht aus kollektivem, öffentlichem Handeln; es zielt auf die Konstruktion eines 'Wir' innerhalb einer vielfältigen und konfliktgeladenen Umgebung. Doch um ein 'Wir' zu konstruieren, muß es von einem 'Sie' unterschieden werden, und das beinhaltet die Errichtung einer Grenze und die Bestimmung eines Feindes. Solange Politik sich auf die Konstruktion einer politischen Gemeinschaft und auf die Herstellung einer Einheit richtet, können eine jeden einschließende politische Gemeinschaft und eine abschließende Einheit deshalb niemals verwirklicht werden, weil es immer eines 'konstitutiven Außen' bedarf, eines Außerhalb der Gemeinschaft, das ihre Existenz ermöglicht. Antagonistische Kräfte werden niemals verschwinden und Politik bleibt durch Konflikt und Spaltung gekennzeichnet. Formen der Übereinkunft können erreicht werden, aber sie sind immer begrenzt und vorläufig, da ein Konsens notwendigerweise auf Akte der Ausgrenzung basiert. Wir sind in der Tat sehr weit von einer Sprache der civility entfernt, die Oakeshott so lieb und teuer ist!

Ein radikal-demokratisches Konzept von Staatsbürgerschaft

Was geschieht bei einer derartigen Sichtweise mit der Idee der Staatsbürgerschaft? Wenn wir Staatsbürgerschaft als diejenige politische Identität verstehen, die über die Identifikation mit der respublica hergestellt wird, wird eine neue Konzeption des Bürgers möglich. Zunächst befassen wir uns jetzt mit einem Typ politischer Identität, einer Form von Identifikation, und nicht mehr einfach nur mit einem rechtlichen Status. Der Bürger ist nicht, wie im Liberalismus, jemand, der als passiver Empfänger bestimmter Rechte auftritt und der den Schutz des Gesetzes genießt. Es ist nicht so, daß diese Elemente unwichtig werden, aber die Definition des Bürgers verschiebt sich, weil wir die Betonung auf seine Identifikation mit der respublica legen. Sie stellt eine gemeinsame politische Identität von Personen dar, die, obwohl sie sich in vielen verschiedenen zweckgerichteten Vorhaben engagieren und sich aufgrund unterschiedlicher Vorstellungen vom Guten voneinander unterscheiden können, die Unterwerfung unter die von der respublica vorgeschriebenen Regeln akzeptieren, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen und ihre Handlungsweisen auszuführen. Was sie aneinander bindet ist ihre gemeinsame Anerkennung einer Reihe von ethisch-politischen Werten. In diesem Fall stellt Staatsbürgerschaft nicht nur eine Identität unter vielen dar, wie im Liberalismus, oder die bestimmende, die alle anderen überragt, wie im Zivil-Republikanismus. Es ist ein Artikulationsprinzip, das die verschiedenen Subjektpositionen sozial Handelnder berührt (was ich zeigen werde, wenn ich die Unterscheidung von öffentlich und privat diskutiere), während es die Existenz einer Vielzahl spezifischer Bindungen und die Achtung der individuellen Freiheit gewährleistet.
Solange wir uns politisch betätigen, werden dort jedoch konkurrierende Formen der Identifikation bestehen, die mit den unterschiedlichen Interpretationen der respublica verbunden sind. In einem liberal-demokatischen Regime können wir uns die respublica als durch die politischen Grundsätze eines solchen Regimes konstituiert vorstellen: Gleichheit und Freiheit für alle. Wenn wir diese Bedeutung auf Oakeshotts Vorstellung von respublica beziehen, können wir feststellen, daß diese Bedingungen, denen zugestimmt und denen im Handeln Rechnung getragen wird, als Forderung verstanden werden, die anderen als freie und gleiche Personen zu behandeln. Dies eröffnet offensichtlich potentiell sehr radikale Interpretationen. Eine radikal-demokratische Interpretation wird zum Beispiel die zahlreichen sozialen Beziehungen hervorheben, in denen Herrschaftsverhältnisse existieren und die angefochten werden müssen, wenn die Prinzipien von Freiheit und Gleichheit angewandt werden sollen. Sie sollte zu einer den verschiedenen, für eine Ausdehnung und Radikalisierung der Demokratie kämpfenden Gruppen gemeinsamen Erkenntnis führen, daß sie ein gemeinsames Interesse haben und daß sie in der Wahl ihrer Handlungen gewissen Verhaltensregeln zustimmen sollten. Mit anderen Worten: sie sollte eine gemeinsame politische Identität als radikal-demokratische Bürger konstruieren.
Die Hervorbringung politischer Identitäten als radikal-demokratische Bürger hängt deshalb von einer kollektiven Form der Identifikation zwischen den demokratischen Forderungen ab, die sich in einer Vielzahl von Bewegungen auffinden lassen: Frauen, Arbeiter, Schwarze, Homosexuelle und Umweltschützer, sowie in einigen anderen 'neuen sozialen Bewegungen'. Das ist eine Konzeption von Staatsbürgerschaft, die, durch eine gemeinsame Identifikation mit einer radikal-demokratischen Interpretation der Prinzipien von Freiheit und Gleichheit, auf die Herstellung eines 'Wir' abzielt - eine Äquivalenzkette zwischen ihren Forderungen, um sie auf Grundlage des Prinzips demokratischer Äquivalenz zu artikulieren. Dabei soll nicht ein bloßes Bündnis zwischen gegebenen Interessen errichtet werden, sondern eine tatsächliche Veränderung der Identifikation dieser Kräfte vorgenommen werden. Dies verstehen viele pluralistische Liberale nicht, weil sie für Machtverhältnisse blind sind. Sie stimmen der Notwendigkeit zu, die Sphäre der Rechte auszudehnen, um bisher ausgeschlossene Gruppen einzuschließen, aber sie sehen diesen Prozeß als einen des stetig fortschreitenden Einschlusses in die Staatsbürgerschaft an. Das ist die typische Geschichte, wie sie von T. H. Marshall in seinem gefeierten Artikel 'Citizenship and Social Class' erzählt wurde. Das Problem mit einem derartigen Ansatz besteht darin, daß er die Grenzen nicht berücksichtigt, die der Ausdehnung des Pluralismus aufgrund der Tatsache gesetzt werden, daß einige bestehende Rechte gerade durch den Ausschluß oder die Unterordnung von anderen Rechten (rights of other categories) konstituiert wurden. Diese Identitäten müssen zunächst dekonstruiert werden, wenn verschiedene neue Rechte anerkannt werden sollen.
Um eine Hegemonie der demokratischen Kräfte zu ermöglichen, sind neue Identitäten erforderlich, und ich plädiere hierbei zugunsten einer gemeinsamen politischen Identität als radikal-demokratische Bürger. Darunter verstehe ich eine kollektive Identifizierung mit einer radikal-demokratischen Interpretation der Prinzipien des liberal-demokratischen Regimes: Freiheit und Gleichheit. Solch eine Interpretation setzt voraus, daß diese Prinzipien in einer Art und Weise aufgefaßt werden, daß sie die unterschiedlichen sozialen Verhältnisse und Subjektpositionen in Rechnung stellen, in denen sie von Bedeutung sind: Geschlecht, Klasse, 'Rasse', Ethnizität, sexuelle Orientierung und so weiter.
Ein derartiger Ansatz kann nur angemessen innerhalb einer Problematik formuliert werden, die den sozial Handelnden nicht als einheitliches Subjekt, sondern als die Artikulation einer Gesamtheit von Subjektpositionen auffaßt, die innerhalb bestimmter Diskurse hergestellt und immer nur prekär und vorübergehend an den Schnittstellen dieser Subjektpositionen vernäht wird. Nur mit einer nicht-essentialistischen Vorstellung des Subjekts, die sich die psychoanalytische Einsicht zu eigen macht, daß alle Identitäten Identifikationsformen darstellen, können wir die Frage nach der politischen Identität in einer fruchtbaren Weise stellen. Eine nicht-essentialistische Sichtweise wird ebenfalls benötigt, wenn wir uns mit den Ideen von respublica, societas und der politischen Gemeinschaft beschäftigen. Denn es ist entscheidend, diese nicht als empirische Bezugsgrößen, sondern als diskursive Oberflächenphänomene anzusehen. Dieses außer acht zu lassen, würde den hier vorausgesetzten Politiktyp vollkommen unverständlich machen.
An diesem Punkt schließt die radikal-demokratische Interpretation von Staatsbürgerschaft an die laufenden Debatten über 'Postmodernismus' und an die Kritik des Rationalismus und Universalismus an. Die von mir vorgeschlagene Sicht von Staatsbürgerschaft verwirft die Idee einer abstrakten universalistischen Bestimmung von Öffentlichkeit, die dem privaten Bereich - betrachtet als Bereich der Partikularität und der Differenz - entgegengesetzt ist. Sie stellt heraus, daß, obgleich die moderne Idee des Bürgers für die demokratische Revolution tatsächlich von entscheidener Bedeutung war, sie heutzutage ein Hindernis für deren Ausdehnung darstellt. Wie feministische Theoretikerinnen dargelegt haben, wurde der öffentliche Bereich moderner Staatsbürgerschaft auf der Verwerfung der Teilhabe von Frauen gegründet.18 Dieser Ausschluß wurde als unentbehrlich angesehen, um die Allgemeinheit und Universalität der öffentlichen Sphäre zu postulieren. Die Unterscheidung von privat und öffentlich, so ausschlaggebend sie für die Geltendmachung individueller Freiheit war, führte auch zu einer Identifizierung des Privaten mit dem häuslichen Bereich und spielte eine wichtige Rolle bei der Unterordnung der Frauen.
Der Vorstellung, daß die Ausübung der Staatsbürgerschaft in der Übernahme eines universellen Standpunktes besteht, der mit der Vernunft schlechthin gleichgesetzt wurde und den Männern vorbehalten war, setze ich die Vorstellung entgegen, daß sie ihren Ausdruck darin findet, sich mit den ethisch-politischen Prinzipien moderner Demokratie zu identifizieren, und daß es genausoviele Formen von Staatsbürgerschaft geben kann, wie es Interpretationen dieser Prinzipien gibt.
Aus diesem Blickwinkel heraus wird die Unterscheidung von privat und öffentlich nicht aufgegeben, sondern reformuliert. Hier kann uns wieder Oakeshott helfen, eine Alternative zu den Beschränkungen des Liberalismus zu finden. Nach ihm entspricht societas einem staatsbürgerlichen Zustand, in dem jedes Vorhaben 'privat' ist, während es niemals vor den 'öffentlichen' Bedingungen gefeit ist, wie sie in der respublica vorgeschrieben werden. In einer societas "stellt jede Situation ein Aufeinandertreffen zwischen 'Privatem' und 'Öffentlichem' dar, zwischen einem Handeln oder einer Äußerung, die darauf abzielen, sich eine vorgestellte und als wesentlich erwünschte Erfüllung zu verschaffen, und den Bedingungen der civility, die bei der Ausführung der civility gebilligt werden müssen; und es gibt keine Situation, in der eine der beiden Seiten ausgeschlossen wäre."19 Die Wünsche, Entwürfe und Entscheidungen sind privat, weil sie der Verantwortlichkeit jedes Einzelnen unterliegen, doch die Ausführungen sind öffentlich, weil sie die Zustimmung zu den Bedingungen verlangen, die in der respublica festgelegt sind. Da die Regeln der respublica substantielle Handlungen und Äußerungen nicht auferlegen, verbieten oder rechtfertigen und den Handelnden nicht vorschreiben, was sie zu tun haben, respektiert diese Form der Vereinigung die individuelle Freiheit. Doch die Zugehörigkeit des Individuums zu der politischen Gemeinschaft und seine Identifizierung mit ihren ethisch-politischen Prinzipien manifestiert sich in der Akzeptanz eines öffentlichen Anliegens, wie sie in der respublica zum Ausdruck kommt. Sie stellt die 'Grammatik' des Verhaltens der Bürger bereit.
Im Falle eines radikal-demokratischen Bürgers erlaubt ein derartiger Ansatz uns, uns vorzustellen, wie eine Bezugnahme auf Freiheit und Gleichheit sein Handeln in allen Bereichen des sozialen Lebens prägen sollte. Keine Sphäre ist vor dieser Bezugnahme sicher und Herrschaftsverhältnisse können überall angefochten werden. Trotzdem befassen wir uns nicht mit einer zweckgerichteten Art von Gemeinschaft, die ein einziges Ziel an alle ihre Mitglieder ausgibt, und darum bleibt die Freiheit des Einzelnen geschützt.
Die Unterscheidung zwischen privat (individueller Freiheit) und öffentlich (respublica) wird ebenso aufrechterhalten wie die zwischen Individuum und Bürger, doch sie entsprechen nicht unterschiedlichen, getrennten Sphären. Wir können nicht sagen: Hier enden meine Pflichten als Bürger und beginnt meine Freiheit als Individuum. Diese beiden Identitäten befinden sich in einem permanenten Spannungsverhältnis, das niemals aufgelöst werden kann. Doch das entspricht genau der Spannung zwischen Freiheit und Gleichheit, die die moderne Demokratie kennzeichnet. Sie stellt die Lebensenergie (very life) eines solchen Regimes dar, und jeder Versuch, sie in einen vollkommenen Einklang miteinander zu bringen, um eine 'wahre' Demokratie zu verwirklichen, kann nur zu seiner Zerstörung führen. Darum erkennt ein Projekt radikaler und pluraler Demokratie die Unmöglichkeit einer vollständigen Verwirklichung der Demokratie und der endgültigen Errichtung der politischen Gemeinschaft an. Seine Absicht besteht darin, die symbolischen Ressourcen der liberal-demokratischen Tradition zu nutzen, um für die Vertiefung der demokratischen Revolution zu kämpfen, wohlwissend, daß es einem niemals endenden Prozeß gleichkommt. Meine These lautete an dieser Stelle, daß das Ideal der Staatsbürgerschaft zu solch einer Ausdehnung der Prinzipien von Freiheit und Gleichheit einen großen Beitrag leisten könnte. Durch die Verbindung des Ideals von Rechten und des Pluralismus mit den Vorstellungen einer lebendigen Öffentlichkeit und ethisch-politischer Belange könnte eine neue, moderne demokratische Konzeption von Staatsbürgerschaft das Ansehen des Politischen wiederherstellen und als Vehikel für die Konstruktion einer radikal-demokratischen Hegemonie dienen.

 
 
Anmerkungen
* Im Original deutsch.
1 Mit 'Staatsbürgerschaft' übersetzen wir den Begriff citizenship. Er bezeichnet die Form der Regulation, die das Verhältnis zwischen Einzelnem bzw. Individuum und Kollektiv bzw. (politischer) Gemeinschaft regelt. Der Begriff Staatsbürgerschaft kann also unter Umständen mißverständlich sein, wenn er auf den Staat als Instanz dieser Regulation bezogen wird, was hier jedoch keinesfalls impliziert wird. [Anm. d. Übers.]
2 Mit 'Bürger' übersetzen wir den Begriff citizen. Dies gilt es zu berücksichtigen, weil die Teilung des Individuums in die politische Person (den citoyen, der an der politischen Gemeinschaft teilnimmt) und in die Privatperson (den bourgeois, der seine Eigeninteressen verfolgt) im Deutschen nicht adäquat wiedergegeben werden kann, weil beide Seiten des Individuums mit dem Begriff 'Bürger' bezeichnet werden. Wenn im folgenden also vom Bürger die Rede ist, wird ausschließlich von dem politischen bzw. gemeinschaftlichen Aspekt ausgegangen. [Anm. d. Übers.]
3 Rawls, John (1971): A Theory of Justice, Oxford, S. 302f. [Genau diese Stelle fehlt in der deutschen Übersetzung. Vgl. Rawls, John (1975): Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/Main. S. 337. Anm. d. Übers.]
4 Vgl. Sandel, Michael (1982): Liberalism and the Limits of Justice, Cambridge.
5 Für eine allgemeine Darstellung der Debatte, siehe: Mouffe, Chantal (1993): American Liberalism and its Communitarian Critics, in: Dies.: The Return of the Political, London, S. 23-40.
6 Vgl. Berlin, Isaiah (1969): Two Concepts of Liberty, in: Ders.: Four Essays on Liberty, Oxford. [dt.: Berlin, Isaiah (1995): Zwei Freiheitsbegriffe, in: Ders.: Freiheit. Vier Versuche, Frankfurt/Main, S. 197-256]
7 Skinner, Quentin (1984):The Idea of Negative Liberty: Philosophical and Historical Perspective, in: Rorty, Richard et al. (Hrsg.): Philosophy in History, Cambridge.
8 Lefort, Claude (1986): The Political Forms of Modern Society, Oxford, S. 305ff.
9 Rawls, John (1987): The Idea of an Overlapping Consensus, in: Oxford Journal of Legal Studies, Band 7, Nr. 1, S. 10. [dt.: Rawls, John (1992): Der Gedanke eines übergreifenden Konsenses, in: Ders.: Die Idee des politischen Liberalismus, Franfurt/Main, S. 308.]
10 Taylor, Charles (1955): Philosophy and the Human Sciences, Philosophical Papers 2, Cambridge, S. 200.
11 Oakeshott, Michael (1975): On Human Conduct, Oxford, S. 203.
12 ebd., S. 201.
13 ebd., S. 182.
14 ebd., S. 318.
15 ebd., S. 175.
16 ebd., S. 172.
17 Eines von Oakeshotts Zielen ist zweifellos die Idee der Verteilungsgerechtigkeit und die Formen der Staatsintervention, die von einer derartige Idee legitimiert werden, doch ich glaube nicht, daß uns die Unterscheidung zwischen universitas und societas notwendigerweise darauf festlegt, Staatsintervention als etwas, das unmittelbar mit einer Vorstellung des Staates als zwckgerichtetes Vorhaben verknüpft ist, zu verwerfen. Man kann Staatsintervention durchaus auf der Grundlage einer bestimmten Interpretation der respublica rechtfertigen.
18 siehe zum Beispiel: Pateman, Carole (1988): The Sexual Contract, Stanford; und Fraisse, Geneviève (1989): Muse de la raison, Aix-en-Provence.
19 Oakeshott, Michael: A. a. O., S. 183.
 
 
Aus dem Englischen von Michael Heister & Richard Schwarz

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Der Übersetzung lag folgender Text zugrunde:
Chantal Mouffe (1993): "Democratic Citizenship and the Political Community", in: Dies.: The Return of the Political, London: Verso, S. 60-73.
© by Chantal Mouffe, 1993.
Wir danken ihr und dem Verso-Verlag für die Genehmigung des "Abdrucks".

 
 

 

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