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Ein Althusser-Lexikon
von
Vittorio Morfino
[Der folgende Text wurde ursprünglich anläßlich
der italienischen Übersetzung der späten Schriften Louis Althussers
über den "aleatorischen Materialismus“ verfaßt, die als Sul materialismo
aleatorio, herausgegeben von V. Morfino und L. Pinzolo (Mailand:
Unicopoli, 2000), veröffentlicht wurden. Strukturiert als ein "Lexikon“,
enthält er eine große Anzahl längerer Zitate aus Althussers späten
Schriften, von denen viele vor der Veröffentlichung von Sul materialismo
aleatorio im Italienischen nicht verfügbar waren. Fast alle
dieser Essays sind momentan auch im Englischen nicht verfügbar.
Für die Übersetzung dieses Essays wurde mir freundlicherweise gestattet,
die in Kürze erscheinende englische Übersetzung der späten Schriften
Althussers von G. M. Goshgarian zu benutzen, die unter dem Titel
Philosophy of the Encounter: Later Writings, 1978-87 http://www.versobooks.com/books/ab/a-titles/althusser_encounter.shtml,
herausgegeben von François Matheron und Olivier Corpet (London:
Verso, 2006), veröffentlicht wird. Diese Ausgabe wird die Texte
“Marx in his Limits“, “Letter to Merab Mardashvili", "The Underground
Current of the Materialism of the Encounter", "Correspondence about
'Philosophy and Marxism'", "Philosophy and Marxism" und "Portrait
of the Materialist Philosopher" beinhalten. Weil die Paginierung
für diese Ausgabe noch nicht vorlag, beziehen sich alle Referenzen
dieses Textes auf die französische Originalausgabe. Zwei "späte“
Texte erschienen in der italienischen, nicht jedoch in der von Verso
herausgegebenen Ausgabe: "Sur la pensée marxiste" (1982) und "L'unique
tradition matérialiste" (1986). Alle übersetzten Stellen von "Sur
la pensée marxiste" und aus dem zweiten Teil von "L'unique tradition
matérialiste" (der erste Teil wurde übersetzt und veröffentlicht
in: Montag, Warren & Stolze, Ted (Hrsg.) (1997): The New Spinoza,
Minneapolis: University of Minnesota Press.) stammen von mir. Über
diese Texte hinaus enthält das IMEC-Archiv noch die folgenden Schriften
aus der Periode von 1982 bis 1986: "Sur la théologie de la libération.
Suite à un entretien avec le P. Breton" (28. März 1985), "Conversation
avec le P. Breton" (7. Juni 1985), "Thèses de juin 1986", "Sur l'analyse"
(undatiert), "Sur l'histoire" (6. Juli 1986), "Machiavel philosophe"
(undatiert), "Du matérialisme aléatoire" (11. Juli 1986).
Jason Smith, Borderlands]
1. Es ist zweifellos der 1992 veröffentlichten Autobiographie Die
Zukunft hat Zeit von Louis Althusser, die ursprünglich 1985
geschrieben wurde, zu verdanken, daß der Schleier des Schweigens
zerrissen wurde, der auf dem Namen "Althusser“ seit dem Mord an
seiner Frau fünf Jahre zuvor gelastet hatte. Die Veröffentlichung
der Autobiographie schien allerdings wieder einmal nur auf den "Fall“
Althusser, sowohl im medizinischen als auch im literarischen Sinn,
aufmerksam zu machen. Dies veranlaßte wiederum jene vielen Interpretationen
des Althusserschen Werks, die – wie verfeinert sie auch gewesen
sein mögen – letztlich dazu führten, das Verhältnis zwischen Althussers
Philosophie und seinem Leben kurzzuschließen, ohne dabei das komplexe
System von Vermittlungen, das ein derartiges theoretisches Unternehmen
verlangt, in Betracht zu ziehen. Althusser - den "Mörder“, der,
nachdem sein Prozeß eingestellt wurde, zu sprechen beginnt - als
einen Fall zu behandeln, hatte den Effekt, jeden anderen Aspekt
der Althusserschen Produktion bis zu seiner Autobiographie zu verdunkeln.
In den großzügigsten Interpretationen führte dies zu einer Absorption
seines Spätwerks durch die autobiographische Problematik. Wenn beispielsweise
Fabrice Alcandre und Christophe Brochard schreiben, daß "der kontingente
und irrationale Fakt, der sich in Althussers aleatorischem Materialismus
äußert, der Fakt des Wahnsinns par excellence ist“, werden die Erkenntnisse
von Althussers Spätwerk zu einer Theoretisierung seiner autobiographischen
Schrift reduziert (Alcandre & Brochard 1998: 184). In einer Polemik
gegen genau diesen Typ von Interpretation weist Gabriel Albiac darauf
hin, daß einer der paradoxen Effekte der Veröffentlichung der autobiographischen
Schriften Althussers "das Verschwinden seines gesamten theoretischen
Werks" (Albiac 1998: 81) gewesen ist. Im Gegensatz dazu schlägt
Albiac vor, Die Zukunft hat Zeit nicht als "wahr”, sondern
als ein autobiographisches Delirium anzusehen, dessen Logik verstanden
werden sollte; eine Logik, die in dem Versuch besteht, "das theoretische
Oeuvre, das seine gesamte Lebensaufgabe war, zu zerstören"
(Albiac 1998: 88, Übersetzung abgeändert).
2. Wie dem auch sei: Es gibt eine ganze Reihe von Schriften aus
den Jahren zwischen 1982 und 1985, in denen Althusser wieder als
ein Philosoph spricht, und diese Texte, geschrieben zwischen zwei
Krankenhausaufenthalten, verdienen Aufmerksamkeit. Ich habe mich
entschlossen, diese Texte als eine Gesamtheit zu behandeln, obwohl
die Singularität jedes einzelnen Textes sich einem derartigen Vorgehen
widersetzt. Tatsächlich existieren ziemlich beträchtliche Differenzen
zwischen den Texten, besonders im Hinblick auf die unterschiedlichen
Beurteilungen, die die Figur von Hegel erhält. Dies betont François
Matheron besonders nachdrücklich: "Es ist nicht möglich, [diese
Texte] weiter auf eine wahrhaft zusammenhängende Einheit zu reduzieren
als auf eine Spannung zwischen zwei oder mehr eindeutig identifizierbaren
Tendenzen." (Matheron 1998: 35). Trotz dieser Spannung scheint es
mir, daß Matheron in diesem Punkt nichtsdestotrotz die Verschiedenartigkeit
dieser Texte überbewertet, da es noch möglich ist, zumindest auf
der rein theoretischen Ebene, die Einheit des Projekts in ihrer
Vielfalt wahrzunehmen.
3. Diese Texte stellen nicht nur eine gewisse Einheit untereinander
dar, sondern entwickeln auch ein Spektrum an Themen, die bereits
in den Arbeiten der 60er Jahre vorhanden waren. Auch wenn wir jeden
Vergleich von Althussers Marx-Interpretation vor und nach 1980 beiseite
lassen – dies würde eine eigene detaillierte Analyse verdienen –
ist es zweifellos möglich, eine Gruppe von Themen herauszuarbeiten,
die eine starke Kontinuität mit den bekannteren, zwei Jahrzehnte
vorher verfaßten Arbeiten bezeugen:
- der Begriff eines Prozesses ohne Subjekt und demzufolge
die Negation von jeder Form von Teleologie, sei sie intern oder
extern;
- das Primat der Verhältnisse über die in Beziehung
stehenden Elemente;
- theoretischer Antihumanismus;
- die Behauptung, daß die Philosophie kein Objekt
hat;
- die Definition der Struktur der Metaphysik nach
dem Schema Ursprung-Subjekt-Objekt-Wahrheit-Zweck-Grund.
4. Es ist natürlich auch notwendig, Elemente der
Diskontinuität zu unterstreichen – besonders auf der stilistischen
Ebene. Die späteren Texte sind vorwiegend impressionistisch, manchmal
autobiographisch, manchmal anekdotisch (Engels kannte die Faktizität
der Arbeiterklasse von nächtlichen Streifzügen mit Mary Burns in
Manchester…). Zudem werden alle Texte, die in diesen Essays zitiert
werden, aus dem Gedächtnis wiedergegeben, was zu wiederholten Entstellungen
der ursprünglichen Quellen, wenn nicht gar zu ihrer vollständigen
Erfindung führt. Diese Texte zeigen keineswegs den systematischen
Charakter der beiden Meisterwerke Althussers aus den 60er Jahren,
Das Kapital lesen und Für Marx, wo eine völlig neue
Begrifflichkeit durch eine prägnante, enge Lektüre der Marxschen
Texte entwickelt wurde; hier transformiert Althusser seine Bezüge
häufig nach Belieben.
5. Zumindest einer der größten Verdienste dieser späten Schriften
ist der, daß sie gewisse Aspekte dieser Texte aus den 60er Jahren
zum Vorschein bringen, die bis heute an den Rändern verblieben sind
(am wichtigsten dabei das Thema von der Notwendigkeit der Kontingenz)
– oder die eher an den Rand gedrängt wurden, und zwar als Resultat
der Vorherrschaft der Debatten, die um die Themen des Verhältnisses
zwischen Wissenschaft und Ideologie und die chronologischen Einteilungen
des Marxschen Werks kreisten. Während Antonio Negri den aleatorischen
Materialismus als eine wirkliche Kehre in Althussers theoretischer
Produktion auffaßt und behauptet, daß, “wie in jeder philosophischen
Kehre, Elemente von Kontinuität und Innovation miteinander
verbunden sind, aber letztere die Hegemonie gewinnen” (Negri 1996:
58), behauptet Gregory Elliott im Gegenteil, daß der “späte Althusserianische
Aleatorismus (…) nur eine einseitige Beugung einer immer wiederkehrenden
Tendenz Althussers ist" und daß das Thema von der Notwendigkeit
der Kontingenz einen wahrhaft roten Faden durch die verschiedenen
Phasen von Althussers theoretischer Produktion hindurch darstellt
(Elliott 1998: 28). Stanislas Breton hat ebenfalls diese Elemente
der Kontinuität betont:
Entweder gelangt der Materialismus zu einem konsequenten
Denken des Aleatorischen, oder er versucht im Gegenteil, den Atomen
die Schwere der Realität oder eine Existenz vor ihrer zufälligen
Verbindung zu geben. In diesem Zusammenhang erinnere ich an Althussers
Kritik der ‚reformistischen’ These, die eine Existenz von Klassen
vor dem Kampf zwischen ihnen behauptet; für Revolutionäre sind 'der
Klassenkampf und die Existenz von Klassen ein und dieselbe Sache’
und der Kampf, anstatt ein Geschehen a posteriori zu sein, ‚konstituiert
die Klassenteilung selbst’. Die gleiche Logik erscheint im aleatorischen
Materialismus, wo die Atome ihrer Begegnung nicht vorangehen. (…)
Das Primat der Verhältnisse muß deshalb dem Substantialismus des
Stoffes, der unabsichtlichen Verdinglichung des Substantiellen,
entgegengesetzt werden. (Breton 1993: 421)
6. Diese Wiedergewinnung früherer marginaler Elemente in den Texten
Althussers wird in weiten Teilen durch die beharrliche Entwicklung
einer neuen Konstellation von Begriffen in den späten Texten möglich.
Mein Argument ist, daß diese Differenz in der Betonung dieser Elemente
noch stärker durch das Verlassen der linearen Bahn der Texte Althussers
unterstrichen werden kann und daß wir, anstatt seine Rekonstruktionen
des Denkens von Marx, Spinoza oder Machiavelli einfach zu wiederholen,
ein Lexikon erstellen sollten, dessen Funktion es ist, die Schwankung
gewisser Schlüsselbegriffe durch die verschiedenen Kontexte, in
denen sie auftauchen und intervenieren, nachzuzeichnen. Die Begriffe,
die ich betrachten werde, sind:
- die Leere/das Nichts;
- die Begegnung;
- Fakt/Faktum/faktisch/Faktizität;
- Konjunktur/Konjunktion;
- Notwendigkeit/Kontingenz.
7. Es wird nicht unbemerkt geblieben sein, daß
der Begriff “aleatorisch” in dieser Liste nicht auftaucht, eben
weil seine Bedeutung nur durch das Zusammenspiel dieser Begriffe
hervortritt. Wie Antonio Negri zu Recht aufzeigt, ist "alea“ der
neue Begriff, durch den die späte Philosophie Althussers auftaucht.
Aber wir sollten vermeiden, der Faszination nachzugeben, die das
Wort selbst über uns ausüben könnte. Statt dessen ist es notwendig,
die begriffliche Struktur zu erfassen und freizulegen, die ihm unterliegt.
Die Leere und das Nichts
8. Für Epikur ist die Leere ein Begriff,
der uns erlaubt, den Regen der Atome zu denken; das Nichts wiederum
nimmt die Figur des clinamen an. Das Letztere ist
eine infinitesimale Abweichung, "so klein als möglich",
die, "man weiß nicht wo, noch wann, noch wie" stattfindet und die
veranlaßt, daß ein Atom von seinem senkrechten Fall ins Leere abweicht,
und die, indem sie den Parallelismus an einem Punkt auf kaum merkliche
Weise unterbricht, eine Begegnung mit dem benachbarten Atom verursacht
und von einer Begegnung zur nächsten eine Karambolage, und die Entstehung
einer Welt, das heißt des Aggregats von Atomen, die von der ersten
Abweichung und der ersten Begegnung in einer Kettenreaktion hervorgerufen
wird. (Althusser 1994a: 555)
9. Nach Althusser sieht Epikur die Welt als den Effekt eines ursprünglichen
Nichts, einfach charakterisiert durch eine Leere, in der die Atome
parallel herunterregnen:
Epikur erklärt uns, daß vor der Entstehung der Welt
eine Unzahl an Atomen parallel ins Leere fiel. Sie fallen immer
noch. Das impliziert, daß vor der Welt nichts war, und gleichzeitig,
daß alle Elemente der Welt schon immer da waren, bevor noch irgendeine
Welt war. Das impliziert auch, daß vor der Entstehung der Welt kein
Sinn existierte, weder Grund noch Zweck, weder Vernunft noch Unvernunft.
Die Nicht-Vorgängigkeit des Sinns ist eine fundamentale These Epikurs,
mit der er sich Plato genauso wie Aristoteles entgegenstellt. (Althusser
1994a: 555)
10. Demzufolge existiert kein ursprünglicher “Sinn” in der Welt,
auch nicht in der Schöpfung der Welt; daher wäre es nach Althusser
ein Mißverständnis, die infinitesimale Abweichung des clinamen
in der Leere als eine ontologische Grundlage für die menschliche
Freiheit in einer Welt der Notwendigkeit zu begreifen.
11. Machiavellis Leere ist zuallererst eine philosophische
Leere, sowohl die Abwesenheit jeglicher Ursache auf der ontologischen
Ebene als auch die Abwesenheit jeglichen Prinzips auf der moralischen
oder teleologischen Ebene. Für Machiavelli findet (man) dort keine
Ursache, die ihren Effekten vorangeht, kein moralisches oder theologisches
Prinzip (wie in der gesamten Überlieferung der aristotelischen Politik:
die guten und die schlechten Regimes, der Verfall der guten in schlechte).
(…) Wie in der epikureischen Welt sind alle Elemente hier und jenseits,
bereit zum Regnen [là et au-delà, à pleuvoir] (…), aber sie existieren
nicht, sie sind nur abstrakt, solange die Einheit einer Welt sie
nicht vereint hat in der Begegnung, die ihre Existenz ausmachen
wird. (Althusser 1994a: 560)
12. Die Möglichkeit des Übergangs Italiens zu einem Nationalstaat
zu denken, verlangt von Machiavelli, "alle philosophischen Begriffe
Platons und Aristoteles zu entleeren" oder auszuräumen (Althusser
1994a: 561). Daher ist das Nichts dasjenige, was der Begegnung zwischen
virtù und fortuna vorangeht, eben weil nichts dieser Begegnung
erlaubt, antizipiert zu werden: "Die Begegnung kann genauso gut
nicht stattfinden, wie sie stattfinden kann. Nichts entscheidet,
kein Prinzip der Entscheidung entscheidet im Vorfeld dieser Alternative,
die der Ordnung des Würfelspiels angehört." (Althusser 1994a: 561).
Hier gibt es keinen Gott, der in irgendeiner Weise den Würfelwurf
programmiert oder berechnet; statt dessen können wir mit Nietzsche
von den "eiserne[n] Hände[n] der Nothwendigkeit, welche den Würfelbecher
des Zufalls schütteln“1, sprechen.
13. Aber in Machiavelli finden wir nicht nur die Leere im philosophischen
Sinn. Wir können auch von einer "konjunkturellen“ Leere sprechen,
nämlich der politischen Leere des Kirchenstaates, ein leerer Raum,
wo sich nichts Valentinos virtù entgegensetzt - eine virtù, die
aus dem Nichts kommt, die virtù eines homme de rien:
Der kirchliche Besitz wurde ganz und gar nicht regiert, war ohne
jegliche politische Struktur, sondern wurde einzig und allein und
immer noch, wie er sagt, durch Religion regiert, in jedem Fall nicht
durch den Papst, noch durch irgendeinen ernsthaften Politiker: Es
war die totale politische Leere, eine andere Nacktheit, kurz gesagt
ein leerer Raum ohne echte Struktur, die es ermöglichte, die Ausübung
der virtù des zukünftigen neuen Fürsten zu blockieren… Aus dieser
Begegnung eines Mannes des Nichts [homme de rien], der nackt
ist (das heißt, frei in seinen internen und externen Bewegungen),
und einem leeren Raum (das heißt, ohne Hindernis, das sich Caesars
virtù widersetzen kann), geht sein Schicksal und sein Erfolg
hervor. (Althusser 1997: 15)
14. Zuguterletzt existiert da noch eine andere Leere bei Machiavelli,
nämlich die Leere, auf die sich Althusser selbst in seiner berühmten
Darstellung der Philosophie als “die Leere einer eingenommenen Distanz”
bezieht. Diese Leere ist eine Metapher für die Stabilisierung eines
Machtgleichgewichts, einer Stabilisierung, in der der Fürst eine
Distanz zu seinen eigenen Leidenschaften und damit eine Distanz
zum Volk einnimmt. Althusser charakterisiert die Distanz des Fürsten
zu seinen eigenen Leidenschaften folgendermaßen:
Hier berühren wir etwas, was im politischen Denken
Machiavellis, das nicht einfach ein “politisches” Denken ist, ganz
außergewöhnlich ist. Denn es bedeutet, daß eine gewissen Leere,
ein gewisses Nichts, eine gewisse extreme Distanz innerhalb
des Fürsten und unter seinen Leidenschaften herrschen sollte (sei
es eine Frage der Moral oder Macht), so daß er sie meistern und
führen kann – und zwar gemäß dem “wenn…dann” jeder Konjunktur, die
sich am Horizont seiner politischen Handlung zeigt. Wir wissen,
daß Machiavelli nicht mehr darüber sagt. Er sagt jedoch, daß diese
fuchsähnliche Macht im Fürsten sein soziales Bild (image)
betrifft, das heißt sein öffentliches Bild, ein Bild, das
ich als ersten Ideologischen Staatsapparat bezeichnen würde. Dieser
“Apparat” ist tatsächlich genau das: eine systematische, organische
Struktur, deren Ziel es ist, öffentliche Effekte auf das Volk zu
haben. Natürlich besitzt er deshalb eine materielle Existenz: der
Glanz des Fürsten, sein Gefolge, die Pracht seines Lebens, seine
Paläste, die Truppen, die er selbst befehligt und all diejenigen
Zeremonien, die das Regime durchführt, um Angst und Respekt im Volk
einzuflößen, ohne dabei Liebe oder Haß hervorzurufen. All die Gebärden
und Ausdrucksweisen des Diskurses des Fürsten, dagegen heutzutage…
die erbärmlichen Medien. Und dies ist natürlich entscheidend.
Die Distanz des Fürsten als “Fuchs” zu dem, was er zu sein scheint,
zu seiner scheinbar leidenschaftslosen Rolle und zu seinen
wirklichen Leidenschaften ist untrennbar sowohl von diesen
Zeremonien als auch von dem ganzen Apparat des “Erscheinens”,
der eine Distanz (…) zwischen ihm und dem Volk legt; sie ist auch
untrennbar von der Leere, der Angst-Freundschaft, die er zu seinem
Volk aufrechterhalten muß, wenn er will, daß seine Herrschaft andauert.
(Althusser 1993a: 106-07)
15. Die Distanz, die der Fürst zu seinen Leidenschaften einnimmt,
erlaubt es ihm deshalb, noch eine andere Leere zu öffnen, und zwar
eine, die für das Regieren benötigt wird. Althusser entwickelt die
"Leere einer eingenommenen Distanz" als eine Metapher für den Gebrauch
eines jeu de bascule, eines Balanceaktes:
Was sollte der Fürst tun, um Fürst zu sein? Eine
leere Distanz zwischen sich und dem Volk zu gründen, zu errichten
und zu sichern und zwar durch einen subtilen Balanceakt, der den
"Pöbel" [magri] - die Armen - benutzt, um die "Großen" [grassi],
die großen Männer fernzuhalten: die Distanz, die Angst und Freundschaft
charakterisiert, und nicht die ansteckende Nähe von Haß oder Liebe.
Spinoza wird die Begriffe dieser Ambivalenz Wort für Wort wiederholen.
Denn Haß und Liebe locken das Volk mit seinen Leidenschaften an
(siehe Savonarola für das eine und die Sforzas für das andere) und
bringen im Fürsten selbst die ansteckenden Leidenschaften des Volkes
hervor, Leidenschaften, die, natürlich, fatal sind. (Althusser 1993a:
105-06)
16. Diese Leere hat ein Symbol: der abgetrennte Kopf von Valentinos
Leutnant, Ramiro da Lorqua. Ramiro da Lorquas Opferung ermöglichte
die Wiederherstellung der Distanz des Führers zum Volk, ein Volk,
das begonnen hatte, die von ihm seinem Leutnant verordnete Boshaftigkeit
zu hassen:
Seht, was die Einwohner von Cesena eines schönen
Morgens auf dem Marktplatz entdeckten…: der blutige Körper von Borgias
Leutnant Sinigallia ruhte auf einem großen Holzblock, sein Kopf
mit einem Beil abgetrennt (in diesem Fall identifiziert Althusser
fälschlicherweise Ramiro da Lorqua als Sinigallia, V.M.). Der Cäsar
öffnete auf grausame Art diese Leere, auf daß durch sie "fortuna"
wiedergeboren werden konnte: "wenn" man diesen Weg fortführt, "dann"
ist nichts mehr möglich, "dann" wird sich das Volk dem Haß zuwenden,
was wiederum jegliches Regieren der Menschen unmöglich machen wird.
Dieser abgetrennte Kopf ist das Ende jeder Ursache, jedes Wesens
oder Ursprungs - er ist, genauer formuliert, deren reale aktive
Negation. Es bezeichnet das Ende von dem, was immer schon
Vergangenheit war und dennoch das Regieren des Volkes behinderte,
denn es machte die Errichtung der fremdartigen Beziehung der Angst-Freundschaft
zwischen dem Fürst und dem Volk unmöglich, eine Beziehung, die allein
das Regieren ermöglicht. (Althusser 1993a: 104)
17. Wir kommen nun zu Spinoza. Spinozas Leere ist zuallererst
die Leere des “Ganzen”, das heißt, die Leere einer Existenz, die
nichts ist, insofern sie eine Existenz ist, die jeglicher Beziehungen
beraubt ist. Aber diese Leere ist ebenso sehr die Leere des wissenden
Subjekts, das für Spinoza nur in der Praxis des Wissens existiert.
Schließlich ist diese Leere die Entleerung der Moral oder der Religion.
Hier entdecken wir dieselbe Leere, die Althusser bei Machiavelli
ausgemacht hat, eine Leere, die sämtliche Ursachen und erste Prinzipien
“beseitigt”:
Was bleibt der Philosophie, wenn Gott und die Erkenntnistheorie,
die bestimmt sind, die "höchsten" Werte zu etablieren, an denen
alles gemessen wird, auf nichts reduziert sind? Keine Moral mehr,
und vor allem keine Religion mehr, besser noch, eine Theorie der
Moral und der Religion, die dies lange vor Nietzsche bis in ihre
imaginären Grundlagen der "Verkehrung" zerstört hat – die "fabrica
à l'envers" (vgl. Appendix des Buches I der Ethik); keine Finalität
mehr (sei sie historisch oder psychologisch): kurz, die Leere
ist die Philosophie selbst. ( Althusser 1994a: 565)
18. Althusser bringt es deshalb fertig, die paradoxe These aufrechtzuerhalten,
daß der Gegenstand von Spinozas Philosophie die Leere ist, aber
eine Leere in allen Farben der Welt, insofern sie es der Realität
in ihrer radikalen Faktizität ermöglicht, aus der Asche der großen
Hypostasierungen der Metaphysik zu entstehen.
19. Hobbes sah die Leere als eine Abwesenheit von Hindernissen
für eine Bewegung an; es handelt sich daher um dieselbe konjunkturelle
Leere, die Althusser isolierte, als er von der Abwesenheit von Hindernissen
in Valentinos Handlung sprach:
Als guter Theoretiker des Naturrechts (…) bietet
er (Hobbes) uns seinerseits eine Theorie des Naturzustands. Um diesen
in seine Elemente zu zerlegen, muß man bis zu jenen "Atomen der
Gesellschaft" gelangen, die die Individuen sind, die
mit einem Streben ausgestattet sind, das bedeutet mit einem
Willen und einem Können, "in ihrem Sein zu beharren" und eine Leere
zu schaffen, um darin den Raum für ihre Freiheit zu etablieren.
Atomisierte Individuen, die Leere als Bedingung für ihre Bewegung,
erinnert uns das nicht an etwas? Hobbes hält tatsächlich fest, daß
die Freiheit, die das ganze Individuum und seine Seinskraft ausmacht,
an der "Hindernisleere", an der "Abwesenheit des Hindernisses" vor
seiner erobernden Kraft hängt. Er liefert sich dem Krieg aller gegen
alle nur durch den Willen aus, allen Hindernissen zu entgehen, die
ihn daran hindern, gerade zu gehen (man denke an den freien und
parallelen Fall der Atome), und er wäre im Grunde genommen glücklich,
wenn er niemandem begegnen würde in einer Welt, die dann leer wäre.
(Althusser 1994a: 567-68)
20. Rousseaus Leere hat die ganzen Eigenschaften der Epikureischen
Leere: es ist die Leere des Waldes, wo es keiner Begegnung gelingt,
zu greifen oder anzudauern, weil dieser Wald grenzenlos ist:
Sicherlich können sich Mann und Frau treffen, sich
"betasten" und sich sogar paaren. Es handelt sich dann jedoch nur
um eine kurze Begegnung ohne Identität oder Wiedererkennung(/Anerkennung):
Kaum haben sie sich gepaart… trennen sie sich wieder und gehen eigene
Wege in der unendlichen Leere des Waldes. (Althusser 1994a: 571)
21. Der Wald unterscheidet sich jedoch von der Epikureischen Leere
in folgendem Sinne: Wo der Epikureische Regen der Atome jede Begegnung
überhaupt zu einer Unmöglichkeit macht, ist es hier unmöglich, daß
es eine Begegnung gibt, die andauert, denn jede Begegnung
im Wald kann immer nur eine kurze Unterbrechung entlang eines nomadischen
Weges sein. Die grenzenlose Leere des Waldes ist jedoch durch die
Intervention eines Nichts begrenzt, eines Nichts, das die Form eines
Ereignisses annimmt: das heißt, eines Ereignisses, das keine
Ursache hat und des Adels eines Ursprungs beraubt ist (und folglich
auch eines Telos, eines Ziels). Dieses Ereignis des Nichts, das
allein eine Grenze in den grenzenlosen Wald einführt, wird bei Rousseau
in dem Hereinbrechen natürlicher Katastrophen gefunden, die das
anti-theo-teleologische Ereignis schlechthin sind (man muß nur an
die großen philosophischen Debatten denken, die das Erdbeben in
Lissabon im Jahre 1755 nach sich zog). Für Rousseau wie auch für
Epikur ist demnach der Sinn oder die Bedeutung im allgemeinen der
Effekt der Leere und eines Nichts, in diesem Fall der Leere des
grenzenlosen Waldes und des Nichts der Naturkatastrophe, die diesen
begrenzt, eine Grenze, die allein den Begegnungen ermöglicht, anzudauern:
Der Wald ist das Äquivalent der Epikureischen Leere,
in der der parallele Regen der Atome fällt: es ist eine pseudo-Brownsche
Leere, in denen Individuen die Wege der anderen kreuzen, das heißt,
sie nicht treffen außer in kurzen Begegnungen, die nicht von Dauer
sind. Auf diese Art und Weise versucht Rousseau zu einem hohen Preis
(das Fehlen von Kindern) eine radikale Abwesenheit [néant] von
Gesellschaft vor jeder Gesellschaft abzubilden; und – Bedingung
der Möglichkeit jeder Gesellschaft – die radikale Abwesenheit von
Gesellschaft, die das Wesen jeder möglichen Gesellschaft konstituiert.
Daß die radikale Abwesenheit von Gesellschaft das Wesen jeder Gesellschaft
konstituiert, ist eine kühne These, vor deren Radikalität nicht
nur die Zeitgenossen Rousseaus, sondern genauso auch viele seiner
späten Kritiker fliehen. (Althusser 1994a: 571)
22. Rousseaus Theorie der Negation der Vorzeitigkeit der Gesellschaft
entspricht deshalb der Negation der Vorzeitigkeit des Sinns bei
Epikur.
23. Wir sollten uns jetzt wieder der ganzen Konstellation der Bedeutungen
zuwenden, die die Leere im Spektrum der Autoren, die zu dem gehören,
was Althusser “die untergründige Strömung” nennt, annimmt. Sie kann
auf die folgenden vier reduziert werden:
- Die Leere wird zuallererst als die Negation jedes
metaphysischen Prinzips verstanden, das das Denken zwingt, das
Ding sich eher vorzustellen als dasjenige zu denken,
was Machiavelli als seine “effektive Wahrheit” bestimmt hat. Diese
Leere ist kein Punkt der Abreise, sondern ein Punkt der Ankunft,
gebunden an eine spezifische Handlung: es bedeutet, daß man durch
Wissen eine Leere erzeugt, aber eine Leere, die nicht absolut
ist. Diese Leere ist die Entleerung der Metaphysik, der Metaphysik
der Erkenntnis genauso wie der Moral und der Religion, die das
Reale in den Fallstricken einer Vorstellung gefangenhalten, deren
Funktion es ist, dieses Reale zu mystifizieren. Es geht darum,
eine Leere zu erzeugen, die erkennbar eine Existenz annimmt, die
jenseits von Gut und Böse ist, ein Netzwerk oder Gewebe von Beziehungen,
in denen menschlichen Handlungen sich selbst nach der Logik des
“wenn…dann…” einfügen.
- Die Leere wird demzufolge als etwas aufgefaßt,
das einen Zugang zu dieser “effektiven Wahrheit” eines Dings ermöglicht.
Diese “effektive Wahrheit” des Dings ist nicht, was das Ding sein
sollte, sondern das Ding, vorgestellt als etwas, das seine Grundlage
in einem Ab-grund* hat. Die Leere ist die radikale Abwesenheit
Gottes und jeder Garantie, die eingeführt werden kann, um das
Sein zu stabilisieren: die Leere öffnet den Weg zur effektiven
Wahrheit des Dings, und zwar nicht als ein Teil nach –
die konstituierte Existenz des Dings – sondern als ein Teil
vor, zur Fluktuation und Unbeständigkeit der Elemente, die
die Existenz des Dings zur Folge haben, eine Existenz, die überhaupt
nicht stattfinden oder auftauchen muß.
- Die Leere wird aufgefaßt als die Möglichkeit von
Bewegung, als eine günstige Konjunktion, in der es kein Hindernis
gibt, das einer Aktion entgegengesetzt ist. Es ist diese Leere,
in der wir die alleinige materialistische Auffassung der Freiheit
finden: “die Abwesenheit von Hindernissen für eine Bewegung”,
nach der Definition von Hobbes.
- Schließlich die Leere als Distanz, die Leere als
derjenige Ort, an dem es möglich ist, eine Linie zu ziehen, die
die kurzzeitige Handhabung eines gegebenen Machtgleichgewichts
ermöglichen wird: die Machiavellische Metapher des Fuchses verkörpert
die Möglichkeit, eine leere Distanz hervorzubringen, die für die
Einrichtung einer fortdauernden Macht notwendig ist.
Die Begegnung
24. Der Begriff der “Begegnung” funktioniert in
strenger Korrelation mit dem begrifflichen Paar "die Leere/das
Nichts", so daß die isolierte Betrachtung des einen dazu führt,
die Natur beider zu verändern. Eine Anrufung der Reihe der Autoren,
die zu der untergründigen Strömung des Materialismus gehören, wird
uns ermöglichen zu sehen, wie dieser Begriff entwickelt wird.
25. Epikur. Nach Epikur gibt es eine Begegnung zwischen Atomen,
das heißt einen Effekt einer winzigen Abweichung in der Leere; diese
Begegnung wird als der Ursprung der Welt bestimmt. Es ist jedoch
viel komplizierter, denn nicht jede Begegnung zwischen Atomen erzeugt
tatsächlich eine Welt. Es gibt auch flüchtige Begegnungen, die keinen
Effekt hervorbringen und keine Folgen haben:
Damit die Abweichung Anlaß gibt zu einer Begegnung,
aus der eine Welt hervorgeht, ist es notwendig, daß sie andauert,
daß es keine "kurze Begegnung" ist, sondern eine dauerhafte Begegnung,
die dann die Basis aller Realität, aller Notwendigkeit, allen Sinns
und aller Vernunft wird. Aber die Begegnung kann auch nicht andauern
und dann gibt es keine Welt. (Althusser 1994a: 555)
26. Die Begegnung erschafft nicht die “Realität” der Welt, weil
behauptet werden kann, daß die Elemente, die in der Begegnung zueinander
kommen, dieser Begegnung vorangehen. Daher verleiht die Begegnung
allein den fallenden Atomen Realität, denn vor der Begegnung sind
sie lediglich aller Realität beraubte Abstraktionen: “Derart kann
man behaupten, daß die eigene Existenz den Atomen nur durch die
Abweichung und die Begegnung zukommt, vor der sie nur ein schemenhaftes
Dasein führten.” (Althusser 1994a: 556)
27. Machiavelli. Machiavelli sieht und begreift die Begegnung
in ihrer nichtreduzierbaren Mannigfaltigkeit. Eine Begegnung besteht
nicht einfach in dem Zusammenbringen oder der Anordnung von zwei
Elementen, denn jedes Element wird wiederum enthüllen, daß es schon
immer das Ergebnis vorangegangener Begegnungen ist. Wenn Machiavelli
über die Bedingungen der Möglichkeit der politischen Einheit Italiens
nachdenkt, dann behauptet er, daß eine derartige Einheit nur möglich
ist, wenn es bereits eine “Begegnung zwischen einem Mann und einer
Region” gibt, die stattfindet oder “greift”:
Aber damit diese Begegnung stattfinden kann, bedarf
es einer anderen Begegnung: jener der "fortuna" mit "virtù" im Fürsten.
Wenn der Fürst die "fortuna" trifft, muß er die Tugend besitzen,
sie wie eine Dame zu behandeln, sie zu empfangen, um sie zu verführen
oder ihr Gewalt anzutun, kurzum sie dazu benützen, seinem Schicksal
zum Durchbruch zu verhelfen. Aufgrund dieser Betrachtungsweise verdanken
wir Machiavelli eine gesamte philosophische Theorie der Begegnung
von "fortuna" und "virtù" . Diese Begegnung kann entweder stattfinden,
oder auch nicht. Man kann sich auch verfehlen. Die Begegnung kann
kurz oder von langer Dauer sein: er bedarf einer Begegnung, die
andauert. Daher muß der Fürst lernen, sein Schicksal zu lenken (fortuna),
indem er seine Männer lenkt. (Althusser 1994a: 559)
28. Die Begegnung zwischen einem Mann und einer Region hängt dann
von einer anderen vorhergehenden Begegnung ab – einer Begegnung
zwischen “virtù” und “fortuna”, ohne die die Tugend der großen Gründer
von Königreichen sich vergeblich entwickelt haben würde. Aber die
Begegnung zwischen “virtù” und “fortuna” hängt noch von einer anderen
Begegnung ab, dieses Mal zwischen dem Fuchs, dem Löwen und dem Mann
in der Figur des Fürsten, und zwar
[i]n der Weise, daß der Fürst in seinem Inneren
von den Variationen jener anderen aleatorischen Begegnung dirigiert
wird: jener des Fuchses auf der einen Seite mit dem Löwen und dem
Mann auf der anderen Seite. Diese Begegnung muß nicht stattfinden,
aber sie kann auch stattfinden. Sie muß auch von Dauer sein, damit
das Bild des Fürsten im Volk "greift", damit es Gestalt annehmen
kann, damit er sich institutionell die Ehrfurcht als Guter zuziehe,
und letztlich, wenn es möglich ist, dies auch ist. Aber unter der
absoluten Bedingung, daß er niemals vergißt, böse zu sein, wenn
es sein muß. (Althusser 1994a: 560)
29. Genauso wie im Falle Epikurs sind auch hier die ersten Elemente
der Begegnung nichts weiter als Abstraktionen: “alle Elemente sind
hier und jenseits, bereit zum Regnen [là et au-delà, à pleuvoir
] (siehe weiter oben: die italienische Situation), aber sie existieren
nicht, sie sind nur abstrakt, solange die Einheit einer Welt sie
nicht vereint hat in der Begegnung, die ihre Existenz ausmachen
wird. (Althusser 1994a: 560)
30. Spinoza. Spinoza sieht die Begegnung als ein Schwanken
an, die dem notwendigen Werden der Geschichte vorangeht. Althusser
behauptete bereits in Elemente der Selbstkritik, daß Spinoza
ein Beispiel der dritten Gattung des Wissens in seinen Theologisch-Politischen
Abhandlungen bereitstellte: die Geschichte des jüdischen Volkes
(Althusser 1976: 136). Diese Geschichte wird vom Imaginären durchdrungen,
ein Begriff, der Althussers Vorschlag zufolge mit Husserls Begriff
der Lebenswelt übersetzt werden kann: der Welt wie sie aktuell
gelebt, geplant und wahrgenommen wird. Es ist nämlich genau innerhalb
des Imaginären, in dem sich die “Notwendigkeit” des Schicksals bewegt
oder in Schwingung versetzt:
Aber die Theorie des Imaginären als Welt erlaubt
es Spinoza, diese "merkwürdige Essenz" der dritten Gattung zu denken,
die die Geschichte eines Individuums oder eines Volkes ist, wie
die des Moses oder des jüdischen Volkes. Daß sie notwendig ist,
heißt nur, daß sie sich vollzogen hat, aber alles daran hätte umkippen
können, je nach der Begegnung oder Nichtbegegnung von Moses und
Gott, oder der Begegnung der Intelligenz bzw. Nichtintelligenz der
Propheten. Der Beweis: man mußte ihnen den Sinn dessen, was sie
von ihrem Gespräch mit Gott, von dieser Grenzsituation, berichteten,
erklären – selbst Daniel: Man mußte ihm alles gut erklären, er hat
nie etwas verstanden. Beweis der Leere durch die Leere selbst als
Grenzsituation. (Althusser 1994a: 566)
31. Dieses prophetische Wissen wird daher nicht als ein Zeichen
der Vorsehung oder des Schicksals interpretiert. Statt dessen wird
es als Effekt einer Begegnung zwischen Vorstellungen begriffen,
die greifen, manchmal auch trotz des Propheten selbst; die also
auch dann greifen, wenn (wie im Fall von Daniel) ein völliges Unvermögen
des Propheten existiert, den Sinn oder die Bedeutung, die aus der
Begegnung hervorgeht, zu verstehen.
32. Rousseau. Bei Rousseau ist die Begegnung anfangs abwesend
oder nur flüchtig vorhanden - erst später wird sich die Begegnung
selbst aufdrängen. Durch die fiktionale Figur des Urwalds kann Rousseau
die Abwesenheit von Begegnungen zwischen isolierten Individuen darstellen,
die, wenn sie tatsächlich aufeinandertreffen, nur kurze Begegnungen
bewirken, Begegnungen ohne Konsequenzen oder Effekte. Rousseau legt
jedoch eine Grenze für diesen Raum, in dem keine Begegnung wirklich
stattfinden kann, fest. Die Naturkatastrophe (sein Äquivalent zum
clinamen Epikurs) erzeugt einen begrenzten Raum, in dem sich
Begegnungen ereignen können:
Was ist notwendig, damit eine Gesellschaft tatsächlich
entsteht? Es ist notwendig, daß den Menschen der Zustand der
Begegnung auferlegt wird, daß die Unendlichkeit des Waldes,
als Bedingung der Möglichkeit der Nichtbegegnung, durch äußere Ursachen
auf endliche Grenzen eingeschränkt wird, daß sie durch Naturkatastrophen
in begrenzte Einheiten wie zum Beispiel Inseln zerteilt wird, wo
die Menschen sich gezwungenermaßen begegnen und sich gezwungenermaßen
dauerhaft begegnen: gezwungen durch eine Kraft, die stärker ist
als sie. Ich lasse die Art dieser Naturkatastrophen, die den Lebensraum
verändern, hier beiseite. (…) Einmal gezwungen zur Begegnung und
zu dauerhaften faktischen Verbindungen, entwickeln die Menschen
unter sich künstliche Beziehungen, d. h. gesellschaftliche
Beziehungen: zu Beginn noch rudimentär, dann jedoch verstärkt durch
die Rückwirkungen eben dieser Begegnungen auf ihre Menschennatur.
(…) Die Gesellschaft ist geboren, der Naturzustand und auch der
Krieg sind geboren, und mit ihnen entwickelt sich ein Prozeß der
Akkumulation und der Veränderung, welcher buchstäblich die sozialisierte
Natur des Menschen hervorbringt. Es sei bemerkt, daß diese Begegnung
auch nicht andauern könnte, wenn die Beständigkeit der äußeren Zwänge
sie nicht gegen die verlockende Zerstreuung in einem konstanten
Zustand aufrechterhalten würde, d. h. wenn sie den Menschen nicht
das Gesetz der Annäherung auferlegen würde, ohne sie nach ihrer
Meinung zu fragen. Die Gesellschaft entsteht gleichsam hinter dem
Rücken der Menschen, und die Geschichte als unbewußte und rückwärtige
Konstituierung dieser Gesellschaft. (Althusser 1994a: 571-72)
33. Marx. Schließlich finden wir bei Marx – oder zumindest
bei dem Marx, den Althusser als zugehörig zur Strömung des aleatorischen
Materialismus ansieht und den er vom “teleologischen” Marx absetzt
-, eine Begegnung, die die aleatorische Grundlage der kapitalistischen
Produktionsweise konstituiert.
In unzähligen Passagen erklärt uns Marx (…), daß
die kapitalistische Produktionsweise geboren wird aus der "Begegnung"
zwischen dem "Mann mit den Talern" und dem Proletarier, der nichts
hat außer seiner Arbeitskraft. "Es trifft sich", daß diese Begegnung
stattgefunden hat und "gegriffen" hat, was heißen soll, daß sie
sich nicht sofort wieder aufgelöst hat, sondern angedauert
hat und zu einem fait accompli geworden ist, das fait accompli dieser
Begegnung, die stabile Beziehungen hervorruft und eine Notwendigkeit,
deren Erforschung uns die "Gesetze", die tendenziellen Gesetze natürlich,
liefert: die Gesetze der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise
(das Wertgesetz, das Gesetz des Tausches, das Gesetz der zyklischen
Krisen, das Gesetz von der Krise und der Auflösung der kapitalistischen
Produktionsweise, das Gesetz vom Übergang – der Transition – zur
sozialistischen Produktionsweise unter den Gesetzen des Klassenkampfes,
etc.). Was an dieser Konzeption relevant ist, ist nicht so sehr
die Entwicklung der Gesetze, also einer Essenz, als der aleatorische
Charakter des "Greifens" dieser Begegnung, die dem fait accompli
stattgegeben hat, dessen Gesetze sich angeben lassen.
Man kann dies auch anders sagen: Das Ganze, das aus dem "Greifen"
dieser "Begegnung" resultiert, ist dem "Greifen" der Elemente nicht
vorgängig, sondern nachträglich und aus diesem Grunde hätte es auch
nicht "greifen" können und "die Begegnung hätte nicht stattfinden
können". All das steckt, nur halb ausgesprochen sicherlich, in der
Marx'schen Formulierung, wenn er so oft von der "Begegnung" (das
Vorgefundene*) zwischen dem Mann mit den Talern
und der nackten Arbeitskraft spricht. Man kann sogar noch weiter
gehen und unterstellen, daß die Begegnung oftmals in der Geschichte
stattgefunden hat, bevor sie im Abendland gegriffen hat, aber
mangels eines Elements oder mangels der Disposition der Elemente
hat sie vorher nie "gegriffen". Zeugen dafür sind etwa diese italienischen
Staaten des 13. und 14. Jahrhunderts in der Poebene, wo es sehr
wohl den Mann mit den Talern gab, ebenso die Technologie und die
Energie (Maschinen, die durch die hydraulische Kraft der Flüsse
bewegt wurden) und die Arbeitskraft (arbeitslose Handwerker) und
wo das Phänomen dennoch nicht "gegriffen" hat. Zweifellos mangelte
es dort (vielleicht ist dies eine Hypothese) an dem, was Machiavelli
mit seinen Appellen an einen Nationalstaat verzweifelt gesucht hat,
das heißt an einem inneren Markt zur Absorption der möglichen
Produktion.
Wenn man auch nur ein bißchen über die Erfordernisse dieser Konzeption
nachdenkt, bemerkt man, daß sie zwischen der Struktur und den Elementen,
die sie verbinden soll, eine sehr eigenartige Beziehung setzt. Was
ist denn eine Produktionsweise? Mit Marx haben wir festgestellt:
eine besondere "Kombination" der Elemente. Diese Elemente
setzen sich zusammen aus der finanziellen Akkumulation (jene des
Mannes mit den Talern), aus der Akkumulation der technischen Produktionsmittel
(Werkzeuge, Maschinen, Produktionserfahrung bei den Arbeitern),
der Akkumulation der Rohstoffe (die Natur) und der Akkumulation
der Produzenten (die Proletarier ohne jegliches Produktionsmittel).
Diese Elemente existieren nicht in der Geschichte, damit
eine Produktionsweise existiert, sie existieren in ihr in einem
"flottierenden" Zustand vor ihrer "Akkumulation" und "Kombination",
jedes als das Produkt seiner eigenen Geschichte, keines als das
teleologische Produkt der anderen oder von deren Geschichte. Wenn
Marx und Engels sagen, daß das Proletariat "das Produkt der großen
Industrie" ist, dann sagen sie eine große Dummheit und situieren
sich innerhalb der Logik des fait accompli der erweiterten Reproduktion
des Proletariats und nicht innerhalb der aleatorischen Logik
der "Begegnung", welche diese Masse von nackten und besitzlosen
Menschen als Proletariat produziert (und nicht etwa reproduziert),
als eines der konstituierenden Elemente der Produktionsweise. Damit
gehen sie von der ersten Konzeption der Produktionsweise, der historisch-aleatorischen,
zu der zweiten, der philosophischen und essentialistischen, Konzeption
über. (Althusser 1994a: 584-86)
34. Die kapitalistische Produktionsweise ist daher das Ergebnis
einer Begegnung, die gehalten, die gegriffen hat. Und dennoch muß
diese Begegnung nicht ein für allemal stattfinden, sondern muß fortfahren,
sich immer und immer wieder zu ereignen: die kapitalistische Produktionsweise
kann nur durch die fortlaufende Wiederholung dieses “Greifens” bestehen
bleiben:
Es wäre im übrigen falsch zu glauben, daß dieser
Prozeß einer aleatorischen Begegnung sich auf England im 14. Jahrhundert
beschränkt. Er hat sich immer fortgesetzt und setzt sich auch
heute noch fort, nicht nur in den Ländern der Dritten Welt,
die das auffälligste Beispiel dafür sind, sondern auch bei uns,
in der Enteignung der Landwirte und ihrer Transformation in Facharbeiter
(siehe Sandouville: Bretonen an die Maschinen), als ein andauernder
Prozeß, der das Aleatorische ins Herz des Überlebens und der Verstärkung
der kapitalistischen Produktionsweise einschreibt, sowie übrigens
auch ins Herz der sogenannten sozialistischen Produktionsweise.
Und dort sieht man die marxistischen Forscher unablässig das Phantasma
von Marx wiederaufnehmen und die Reproduktion des Proletariats
denken, während sie glaubten, dessen Produktion zu denken, und im
fait accompli denken, während sie glaubten, dessen Werdensvollzug
zu denken. (Althusser 1994a: 587)
35. Der Begriff der Begegnung nimmt daher eine komplexe Artikulation
innerhalb der Betrachtungen Althussers über die Autoren des aleatorischen
Materialismus an. Ich glaube, daß die folgenden Punkte die grundlegendsten
sind:
- Begegnungen können kurz sein oder andauern. Die
dauerhafte Begegnung ist diejenige, in der die Beziehungen zwischen
den Elementen greifen; aber die Tatsache, daß die Begegnung Bestand
hat, garantiert nicht, daß sie für immer andauert. Jede Begegnung
ist tatsächlich vorübergehend (auch diejenigen, die andauern).
Und nicht nur das: jede Begegnung wird buchstäblich auf einem
Abgrund errichtet; das heißt, auf der Basis der Tatsache, daß
sie nicht stattfinden kann.
- Jede Begegnung ist das Ergebnis vorhergehender
Begegnungen, die alle wiederum nicht hätten stattfinden können:
“Es gibt nur eine Begegnung zwischen einer Reihe von Wesen, die
das Resultat von mehreren Reihen von Ursachen sind – mindestens
zwei, aber diese beiden vermehren sich sogleich durch den Effekt
des Parallelismus oder die sie umgebende Ansteckung (…).” (Althusser
1994a: 580). Die Referenz besteht hier in Cournots Exposition
de la théorie des chances et des probabilities, wo “Möglichkeit”
als eine Begegnung zwischen zwei unabhängigen Serien von Ursachen
definiert wird.
- Die Begegnung hängt von der Affinität zwischen
den Elementen, die einander begegnen, ab. Auch solche Elemente,
die nichts von dem enthalten, was sie nach der Begegnung sein
werden, sind trotzdem affinierbar: “(…) jede Begegnung
ist aleatorisch in ihren Effekten, insofern nichts in den Elementen
der Begegnung, vor der Begegnung selbst, die Konturen und Bestimmungen
des Wesens abzeichnet, das daraus hervorgehen wird. Julius II.
wußte nicht, daß er in seinem Umkreis seinen Todfeind nährte und
er wußte auch nicht, daß dieser hart am Tode vorbeigehen würde,
und daß er sich im entscheidenden Moment des Schicksals außerhalb
der Geschichte befinden würde, um im dunklen Spanien vor den Mauern
einer unbekannten Burg zu sterben. Das bedeutet, daß keine Bestimmung
des Wesens, das aus dem "Greifen" der Begegnung hervorgegangen
ist, im Wesen der sich begegnenden Elemente vorgezeichnet war
– nicht einmal angedeutet –, sondern daß im Gegensatz dazu jede
Bestimmung dieser Elemente nur in einer Rückkehr nach hinten,
in einer Rückläufigkeit, vom Resultat zu seinem Werden, zuordenbar
ist." ( Althusser 1994a: 566) Die Elemente können daher Affinitäten
haben, aber sie haben sie nicht vor der Begegnung. Sie besitzen
deshalb keine a-priori-Affinitäten der Art, die Goethe beschreibt;
sie können aber eine Affinität unter besonderen aleatorischen
Bedingungen entwickeln (weil jedes Element selbst wiederum das
Resultat einer Begegnung ist). Die Elemente haben dann Affinitäten,
aber nur a posteriori, das heißt, daß diese Affinitäten
nur im nachhinein (retrospektiv) entdeckt werden können, indem
man rückwärts auf eine Begegnung blickt, die bereits stattgefunden
hat.
- Nachdem die Begegnung schließlich greift, bekommt
die Struktur Vorrang vor den Elementen.
36. Nach Althusser führen die Begriffe der Begegnung
und der Leere, in ihrer strikten Wechselbeziehung zusammen gedacht,
notwendig zu einem Primat des Nichts vor jeder Form und zum Primat
des aleatorischen Materialismus vor jedem Formalismus – das heißt,
vor jeder Art strukturalistischer Kombinatorik der Elemente. Jede
Form entwickelt und gründet sich auf einem dreifachen Abgrund. Die
Begegnung
- kann nicht sein;
- kann kurz sein;
- kann nicht mehr sein.
37. Nach Althussers Spinoza ist das Wesen der
Philosophie die Leere. Sie ist nichts anderes als die Anerkennung
und die Feststellung der Begegnung: "Was wird unter diesen Umständen
aus der Philosophie? Sie ist nicht mehr Ausdruck der Vernunft und
des Ursprungs der Dinge, sondern Theorie ihrer Kontingenz und Anerkennung
der Tatsache, der Tatsache der Kontingenz, der Tatsache der
Unterwerfung der Notwendigkeit unter die Kontingenz und der Tatsache
der Formen, die den Effekten der Begegnung "Gestalt verleihen".
Sie ist nur mehr Feststellung: es hat ein Zusammentreffen
gegeben, und die einen Elemente haben die anderen "ergriffen"
(so wie man sagt, das Eis ergreife Besitz von einem).“ (Althusser
1994a: 556) 38. Feststellung der Begegnung oder der Tatsache
(fact) – ein anderer grundlegender Begriff des aleatorischen
Materialismus.
Fakt, Faktum, faktisch, Faktizität
39. Philosophie ist die reine Anerkennung, die
reine Bestätigung und Feststellung der Tatsache (fact), wie der
späte Engels es ausdrückt: Philosophie “sagt die Tatsache (fact),
ohne fremden Zusatz”, auch wenn dieser fremde Zusatz für Althusser
nichts anderes ist als Trübungen, die dem Imaginären eigen sind.
40. Althussers Begriff der Tatsache (fact) ist deshalb nicht eindeutig.
Er verleiht dem Begriff zwei unterschiedliche Nuancen, abhängig
vom theoretischen Kontext, in den er interveniert.
41. Die Tatsache wird zunächst gegen die juridisch-transzendentale
oder dialektische Thematik ausgespielt, das heißt, sie wird gegen
jede Form von expliziter oder impliziter Teleologie ausgespielt.
Beispielsweise wird Spinozas Philosophie der Faktizität sowohl gegen
die Metaphysik als auch gegen die Erkenntnistheorie in Stellung
gebracht. Auf die metaphysische Frage par excellence – “Warum ist
die Welt so und nicht anders?” – antwortet Spinoza, daß es einfach
eine Tatsache sei, daß lediglich zwei Attribute bekannt sind. Auf
die Frage nach dem quid juris der Erkenntnis antwortet Spinoza
mit der Faktizität des Denkens:
Es (gibt) auch nichts mehr zu sagen über das große
Problem, das die gesamte abendländische Philosophie seit Aristoteles,
vor allem aber seit Descartes, beherrscht: Das Problem der Erkenntnis
und ihres doppelten Korrelats, dem erkennenden Subjekt und dem erkannten
Objekt. Diese großen Fragen, die soviel an Fragen nach sich gezogen
haben, reduzieren sich auf nichts: "homo cogitat", der Mensch denkt,
so ist es. Dies ist die Feststellung einer Faktizität, des "so ist
es", des es gibt*, welche schon Heidegger ankündigt
und die die Faktizität des Fallens der Atome bei Epikur in Erinnerung
ruft. (Althusser 1994a: 564)
42. Daß Euklid existierte, ist beispielsweise nichts anderes als
eine Tatsache – seine Erfahrung ist nicht der Punkt, an dem plötzlich
ein ursprünglicher Sinn erscheint, eine Erscheinung, die wiederum
eine Teleologie der Geschichte initiieren wird: “Es ist eine Tatsache,
daß Euklid - Gott sei Dank und nur Gott weiß warum – als eine tatsächliche,
universale Singularität existierte”. Spinozas Philosophie ist eine
Philosophie der Notwendigkeit des Faktischen. Althusser stellt die
Existenzweise dieser Philosophie durch das Bild eines Philosophen
dar, der auf einen fahrenden Zug aufspringt, ohne zu wissen, woher
er kommt, noch wohin er fährt, und der dann in kürzester Zeit die
Einteilung des Zuges entschlüsselt, um herauszufinden, mit wem er
tatsächlich reist. Für Rousseau ist die Errichtung des sozialen
Bandes eine Tatsache, die der teleologischen Bindung einer Menschheit
entgegengesetzt wird, die als von Natur aus als gesellschaftsfähig
begriffen wird:
Einmal gezwungen zur Begegnung und zu dauerhaften
faktischen Verbindungen, entwickeln die Menschen unter sich künstliche
Beziehungen, d. h. gesellschaftliche Beziehungen: zu Beginn noch
rudimentär, dann jedoch verstärkt durch die Rückwirkungen eben dieser
Begegnungen auf ihre Menschennatur. (Althusser 1994a: 572)
43. Für den jungen Engels sind die Bedingungen der englischen Arbeiterklasse
in derselben Weise eine Tatsache:
Aus dieser Erfahrung einen großen Gewinn ziehend, beginnt Engels
eine Arbeit, die auf der Auswertung von Buchquellen und auf eigener
Feldforschung beruht. Das Buch, das daraus entsteht ist Die Bedingungen
der Arbeiterklasse in England aus dem Jahre 1849. Dieses Buch
endet mit der Niederlage des Chartismus, und in ihm ereignet sich
die universale Geschichte auf eine völlig andere Art und Weise,
als es in den Schemata des Manifests vorgesehen war. Jetzt
wird behauptet, daß alles in der Geschichte von den Lebensbedingungen*
und den Arbeitsbedingungen*, die den Unterdrückten
auferlegt sind, abhängt - Bedingungen, die aus der großen Enteignung
entstehen, die man ‘primitive Akkumulation’ nennt und die diese
Männer aus ihren brennenden Häusern in die Straßen und in die Arme
der lokalen Besitzer der Produktionsmittel schleudert. Kein Hinweis
auf ein Konzept, auf einen Widerspruch, Negation und Negativität,
den Vorrang des Klassenkampfes, den Vorrang des Negativen über das
Positive; statt dessen eine faktische Situation, die sich aus dem
gesamten geschichtlichen Prozeß ergibt, der, so notwendig wie er
war, unvorhergesehen passierte, ein Prozeß, der diese faktische
Situation hervorbrachte: die Unterdrückten in der Hand der Unterdrücker.
Genauso wie beim Kampf: auch dieser war das Ergebnis einer faktischen
Geschichte. (Althusser 1993b: 19
44. Derselbe Begriff der Faktizität findet sich in dem anekdotischen
und ‘imaginären’ Diskurs von Mary Burns, wie Althusser ihn beschreibt:
Es gibt Männer und Frauen, die auf die Straßen geworfen
wurden, deren Häuser niedergebrannt und deren Felder angeeignet
wurden (Faktum), Menschen, die deshalb auf ihre Füße angewiesen
waren und die sich mit leerem Magen durch die großen Straßen der
Stadt bewegten, um eine Anstellung zu finden, dabei gewillt, zu
jedem Lohn zu arbeiten, um dem Hungertod zu entkommen. Sie alle
kamen den Weg entlang zu diesem Ort, wo sie das Fabriktor offen
fanden und wo sie wie Bettler aufgenommen wurden, die nach einem
Bissen Brot fragten. Hinter den hohen Mauern waren die Türme des
lokalen Industrieadels, der alles in der Fabrik besaß und sein unerbittliches
Gesetz auferlegte. (Althusser 1993b: 17-18)
45. Die Tatsache muß deshalb der Idee, verstanden in ihrem idealistischen
Bedeutung, entgegengesetzt werden; nämlich der dialektischen Idee,
die dem Prozeß des Realen Form und Richtung verleiht. Sie funktioniert
deshalb bei Engels genauso wie bei Spinoza und Rousseau (bei Betrachtung
der unterschiedlichen Kontexte), wo die Tatsache gegen die Teleologie,
die dem dialektischen Denken immanent ist, ausgespielt wird.
46. Die zweite Nuance besteht darin, daß, obgleich Althusser den
Ausdruck der “Tatsache” in einem anti-metaphysischen Sinne gebraucht,
dieser wiederum immer eine Hypostase werden kann. Um dieses Risiko
zu vermeiden, muß Althusser die Tatsache der radikalsten Kontingenz
unterwerfen. In der Philosophie von Epikur ist die Welt zuallererst
ein fait accompli, das, sobald vollendet, die Errichtung
“der Herrschaft der Vernunft, der Bedeutung, der Notwendigkeit und
des Endes” ermöglicht. Und doch ist “diese Vollendung der Tatsache
nichts als der reine Effekt der Kontingenz, da sie ja von der aleatorischen
Begegnung der Atome abhängt, die auf die Abweichung des clinamen
zurückzuführen ist. Vor der Vollendung der Tatsache, vor der Welt,
gibt es nur die Nicht-Vollendung der Tatsache, die Nicht-Welt,
die nur die irreale Existenz der Atome ist." (Althusser 1994a:
556). Dieselbe Logik existiert bei Machiavelli, “nicht in Begriffen
der Notwendigkeit der sich vollendenden Tatsache, sondern in den
Begriffen der Kontingenz der Tatsache, vollendet zu werden”:
Anders gesagt: Nichts kann jemals garantieren, daß
die Realität des fait accompli zugleich die Garantie seiner Fortdauer
sei. Ganz im Gegenteil: Jedes fait accompli (…) und alles, was sich
daraus an Notwendigkeit und Vernunft ableiten läßt, ist nur eine
"provisorische" Begegnung, denn jede solche Begegnung bleibt provisorisch,
sogar wenn sie andauert, es gibt keine Ewigkeit in den "Gesetzen"
keiner Welt und keines Staates. Die Geschichte ist dort nur die
permanente Widerrufung des fait accompli durch eine andere, nicht
auszumachende Tat, die es zu vollenden gilt, ohne daß man im Vorhinein
wissen kann, weder ob, noch wo, noch wie das Ereignis durch seine
Widerrufung entstehen wird. Es wird einfach der Tag kommen, an dem
die Spielsteine neu verteilt werden und die Würfel aufs Neue auf
den leeren Tisch geworfen werden. (Althusser 1994a: 561)
47. Deshalb setzt Althusser eine Logik des fait accompli einer Tatsache
entgegen, die erfüllt wäre oder eine Erfüllung ist – kurz gesagt,
er setzt Vollendung Erfüllung entgegen. Die Tatsache ist kein Faktum
im transzendentalen Sinne – es ist keine Bedingung der Möglichkeit
a priori, sondern eine materielle Bedingung der Existenz. Die Tatsache
in ihrem Prozeß des Sich-Vollendens oder in ihrem Status als vollendete
zu isolieren, bedeutet, ihre kontingente Grundlage bloßzulegen und
auszustellen: die Kontingenz der Fluktuation oder der Variation
der Elemente, die der Ursprung jeder Begegnung war oder sein wird,
die in der Abwesenheit jeglicher “vorherbestimmten Harmonie” stattfindet.
Dies ist der einzige Weg die zweifach vorläufige Natur der Tatsache
darzustellen: (a) sie kann nicht vorkommen; (b) sie kann nicht mehr
sein. Althusser schreibt:
Es ist daher klar, daß sich jene, die sich daran
machen, diese Gestalten, Individuen, Konjunkturen oder Staaten der
Welt entweder als notwendiges Ergebnis gegebener Prämissen oder
als provisorische Vorwegnahme eines letzten Ziels zu betrachten,
irren würden. Denn sie würden das Faktum vernachlässigen, daß sie
provisorische Resultate in zweifacher Hinsicht darstellen: Nicht
nur werden die vorläufigen Resultate überschritten werden, sondern
sie hätten auch niemals geschehen können oder sie hätten sich nur
als Effekt einer "kurzen Begegnung" erweisen können, wären sie nicht
vor dem Hintergrund eines guten Schicksals aufgetaucht, das den
Elementen die "Chance" zur "Dauer" gegeben hat, den Elementen, deren
Verbindung (durch Zufall) durch jene Form beherrscht wird. (Althusser
1994a: 581-82)
48. Nur durch die Anerkennung des doppelten Abgrundes der Tatsache
– ihre Möglichkeit, nicht zu sein und ihre Möglichkeit, nicht mehr
zu sein – ist es möglich, eine andere metaphysische Figur zu vermeiden,
die jede Hypostasierung der Tatsache verfolgt, nämlich die Tatsache
einer gegebenen ‘Ordnung’:
Es ist eine Tatsache, daß wir es mit dieser Welt
zu tun haben und nicht mit einer anderen. (…) Eine Welt, die Regeln
unterworfen ist und Gesetze befolgt. Sobald eine Begegnung "gegriffen"
hat, resultiert daraus die große Versuchung – die selbst für jene
gegeben ist, die uns die Voraussetzungen des Materialismus der Begegnung
gewähren würden –, in der Prüfung jener Gesetze Zuflucht zu nehmen,
die aus diesem "Form-Nehmen" hervorgegangen sind, und diese Formen,
im Grunde, unendlich zu wiederholen. Denn es ist auch ein "Faktum",
daß es eine Ordnung in dieser Welt gibt, und daß die Erkenntnis
dieser Welt über die Erkenntnis ihrer "Gesetze" (Newton) und der
Bedingung der Möglichkeit nicht ihrer Existenz, sondern ihrer Erkenntnis
verläuft – nicht über die Möglichkeitsbedingungen der Existenz der
Gesetze: gewiß eine Art, die alte Frage vom Ursprung der Welt auf
irgendwann zu verschieben (so geht auch Kant vor), aber auch, um
den Ursprung dieser zweiten Begegnung, die die Erkenntnis der ersten
Begegnung – in dieser Welt – ermöglicht, besser zu verdunkeln (die
Begegnung zwischen den Dingen und den Begriffen). Wir nehmen uns
vor dieser Versuchung in acht und unterstützen eine These, die Rousseau
sehr wichtig war. Diese These besagt, daß der Vertrag auf einem
"Abgrund" ruht (…). (Althusser 1994a: 582-83)
49. Die Gesetze, die die Ordnung der Welt regulieren und beherrschen,
die ihre Faktizität regulieren, sind demzufolge so vorübergehend
wie die Begegnung, die ihnen zur Geburt verhalf, denn diese Ordnung
ist weder auf ihre eigene Universalität gegründet, die Unveränderlichkeit
eines transzendenten Ens (Seienden), noch auf der Transzendentalität
eines “Ich”. Deshalb führt Althusser in das historische Feld eine
materialistische Theorie der Gesetze ein, Gesetze, nicht nach dem
Verständnis der Physik, sondern statt dessen als repetitive oder
konstante Invariante: “Es ist nur in dem individuellen und sozialen
Leben der Singularitäten (Nominalismen) wirklich singular – aber
universal, denn diese Singularitäten sind derart, als wären sie
durch repetitive oder konstante Invarianten durchzogen, nicht durch
allgemein gültige Regeln, sondern durch repetitive Konstanten –,
so daß man unter ihren singulären Variationen andere Singularitäten
von derselben Spezies und desselben Genres wiederentdecken kann.”
(Althusser 1997: 9) Diese Gesetze wären dann das, was Marx “Tendenzen”
genannt hat, tendenzielle Gesetze. Eine Tendenz behauptet nicht
die Form oder Figur eines linearen Gesetzes, sondern gabelt sich
durch Begegnungen mit anderen Tendenzen: “Bei jeder Verzweigung
kann die Tendenz einen Weg einschlagen, der unvorhersehbar, weil
aleatorisch ist.” (Althusser 1994b: 45). Es ist diese materialistische
Konzeption der Gesetze, die die Machiavellische Methode begründet,
eine Methode, die nach dem hypothetischen Syllogismus “wenn…dann…”
verfährt; eine Methode, die “nichts anderes auf sich nimmt als die
Faktizität der gegebenen Konjunktur, die existierenden, tatsächlichen
Bedingungen ohne Berücksichtigung jeglicher ontologischer oder moralischer
Prinzipien.”
Konjunktion und Konjunktur
50. In den Schriften Althussers aus den 80er Jahren
wird “Konjunktur” ein anderer Name für Faktizität. Konjunktur benennt
die Reihe materieller Bedingungen, innerhalb derer man gezwungen
ist zu denken und zu handeln:
Stellt man die Frage nach dem "Ende der Geschichte", sieht man im
selben Lager Epikur und Spinoza, Montesquieu und Rousseau sich zusammenschließen,
auf der – expliziten oder impliziten – Grundlage desselben Materialismus
der Begegnung oder desselben Denkens der Konjunktur im eigentlichen
Sinne. Und natürlich auch Marx, der jedoch gezwungen ist, vor einem
zerrissenen Horizont zu denken, zerrissen zwischen dem Aleatorischen
der Begegnung und der Notwendigkeit der Revolution. (Althusser 1994a:
574)
51. Die wichtigsten Metaphern für den Begriff der Konjunktur, die
Althusser zitiert, sind Montesquieus “Klima” und Machiavellis “fortuna”.
Rousseau wird auch in diese Tradition eingeschrieben; aber Althussers
Rousseau ist ein Rousseau, der jenseits der langweiligen akademischen
Debatte gelesen wird, die “ständig den “Gesellschaftsvertrag” den
zweiten Diskurs gegenüberstellt”. Wir können daher
im selben Zuge den Status der Texte aufklären, in
denen sich Rousseau daran macht, für andere Völker Gesetze zu entwerfen
– für die Korsen, die Polen etc. –, und in denen er mit aller Entschiedenheit
einen wesentlichen Begriff von Machiavelli wiederaufnimmt – ohne
das Wort explizit zu nennen, was jedoch unwichtig ist, da der Begriff
der Sache nach da ist –, den Begriff der Konjunktur. Um den
Menschen Gesetze zu geben, muß man die Umstände im Auge behalten,
das "es gibt" – wie z. B. in allegorischer Weise das Klima und so
viele andere Bedingungen bei Montesquieu –, die Bedingungen und
ihre Geschichte, d. h. ihr "Geworden-Sein", kurz: die Begegnungen,
die auch nicht hätten stattfinden können.” (Althusser 1994a: 573-74)
52. Konjunkturen können politisch, ideologisch oder philosophisch
sein. Die Konjunktur ist die Faktizität der Welt, der die Praxis
entgegentritt, und Praxis ist wiederum nur innerhalb der Lücken
dieser Faktizität möglich, denn sie kann nur innerhalb der Beziehungen
intervenieren, die die Praxis überhaupt erst konstituieren. Aber
die Konjunktur kann niemals als eine transzendentale Struktur aufgefaßt
werden; die Konjunktur ist eine Kon-junktur, das Sich-Verbinden
von Elementen. Es ist eine Begegnung, die ihren “Grund” in dem doppelten
Abgrund des Nicht-Stattfindens und des Nicht-mehr-Seins hat. Es
ist außerhalb dieses Abgrunds, daß jede gegebene Form (durch Zufall)
entstehen kann: “Die Konjunktur ist selbst eine Verbindung, eine
Zusammen-Bindung, eine erstarrte Begegnung – wenngleich sie sich
bewegt –, die schon stattgefunden hat und die ihrerseits auf die
Unendlichkeit der vorangehenden Ursachen verweist, so wie übrigens
ihr Resultat, das ein bestimmtes Individuum ist, Borgia beispielsweise,
auf die Unendlichkeit der Folgen der vorangehenden Ursachen verweist."
(Althusser 1994a: 580)
Notwendigkeit und Kontingenz
53. Althussers Gebrauch des begriffliches Paars
Notwendigkeit/Kontingenz scheint auf den ersten Blick widersprüchlich.
In “Sur la pensée marxiste” scheint Althusser zuerst die Notwendigkeit
positiver Tatsachen der Dialektik gegenüberzustellen:
In der Geschichte ist tatsächlich eine Philosophie
am Werk, aber es ist eine Philosophie ohne Philosophie – das
heißt, eine Philosophie ohne Begriff und Widerspruch. Diese
Philosophie handelt auf der Ebene positiver Tatsachen, und nicht
auf der des Negativen oder der begrifflichen Prinzipien. Sie könnte
sich nicht weniger für die Revolution, das Negative oder jegliche
“große Aufhebung” interessieren. Es ist eine praktische Philosophie,
in der das Primat der Praxis und die Assoziation der Menschen Priorität
vor der Theorie und der Stirnerschen egoistischen Autonomie des
Individuums haben. Kurz gesagt gibt es eine Wahrheit im Manifest,
und doch ist alles falsch, weil auf dem Kopf stehend. Um der Wahrheit
stattzugeben, ist es notwendig, anders zu denken. (Althusser
1993a: 19)
54. In dieser Textstelle wird die Notwendigkeit gegen die Teleologie,
die der Dialektik immanent ist, ausgespielt. Aber in dem Essay über
den Materialismus der Begegnung wird die Notwendigkeit statt dessen
mit der Teleologie selbst identifiziert, der Althusser “Kontingenz”
entgegensetzen wird. Wenn Althusser die Natur der “unterirdischen
Strömung” des Materialismus charakterisiert, erklärt er:
Um die Sache zu vereinfachen, nennen wir ihn vorerst
einmal: Materialismus der Begegnung, also des Aleatorischen
und der Kontingenz, der sich als ein ganz anderes Denken den verschiedenen
erfaßten Materialismen entgegenstellt, darunter dem geläufigerweise
Marx, Engels und Lenin zugeschriebenen Materialismus, der – wie
jeder Materialismus aus der Tradition des Rationalismus – ein Materialismus
der Notwendigkeit und der Teleologie, das heißt soviel wie eine
umgewandelte und verdeckte Form des Idealismus ist. (Althusser 1994a:
554)
55. Dieselbe Verwendung des Begriffs der Kontingenz gegen den der
Notwendigkeit erscheint in der folgenden Textstelle, in der die
Erkenntnistheorie von Descartes der von Spinoza gegenübergestellt
wird:
Es gibt nicht, wie bei Descartes, eine immanente
Notwendigkeit, die einen vom wirren zum klaren und distinkten Denken
führt, kein cogito, kein notwendiges Moment der Reflexion, das diesen
Übergang garantiert. Er kann stattfinden, aber auch nicht. Und die
Erfahrung zeigt, daß es der Regel nach nicht stattfindet, außer
in der Ausnahme einer Philosophie, die sich bewußt ist, nichts zu
sein. (Althusser 1994a: 564)
56. Kontingenz und die Notwendigkeit positiver Tatsachen scheinen
einander entgegengesetzt zu sein; aber dennoch spielen sie hier
eine ähnliche Rolle, denn beide werden gegen jede Vorstellung von
Teleologie ausgespielt. Sie können dieselbe Rolle spielen, weil
die Notwendigkeit positiver Tatsachen nicht durch irgendeine allumfassende
Macht gefordert wird, sondern statt dessen nichts anderes als das
Spiel von Verweisen und Interaktionen zwischen den Tatsachen selbst
ist. Daher gründet sich diese Notwendigkeit auf einer Kontingenz,
nämlich auf der Kontingenz der Möglichkeit, nicht zu sein bzw. “kurzfristig”
zu sein, oder nicht mehr zu sein. In diesem Sinne wird aus der Philosophie
die Anerkennung der (notwendigen) Tatsache der Kontingenz:
Was wird unter diesen Umständen aus der Philosophie?
Sie ist nicht mehr Ausdruck der Vernunft und des Ursprungs der Dinge,
sondern Theorie ihrer Kontingenz und Anerkennung der Tatsache, der
Tatsache der Kontingenz, der Tatsache der Unterwerfung der Notwendigkeit
unter die Kontingenz und der Tatsache der Formen, die den Effekten
der Begegnung "Gestalt verleihen". Sie ist nur mehr Feststellung:
es hat ein Zusammentreffen gegeben, und die einen Elemente haben
die anderen "ergriffen" (so wie man sagt, das Eis ergreife Besitz
von einem). Jede Frage nach dem Ursprung wird verworfen, wie alle
großen Fragen der Philosophie: "Warum ist etwas eher als nichts?
Was ist der Ursprung der Welt? Was ist die Existenzberechtigung
der Welt? Was ist die Stellung des Menschen im Weltganzen? etc."
Ich wiederhole: Welche Philosophie in der Geschichte hatte die Kühnheit,
solche Thesen wieder aufzunehmen? (Althusser 1994a: 556)
57. Es gibt also Notwendigkeit, aber diese Notwendigkeit kann nicht
mit einem Sinn, einer Vernunft oder einem Telos identifiziert werden.
Die einzige Notwendigkeit ist die Notwendigkeit der absoluten Reinheit
der Kontingenz, eine Notwendigkeit eines cum tangere, die
immer schon eher eine Begegnung ist als die spontane Erzeugung einer
notwendigen Abfolge, deren Ursprung ein Subjekt (sei es nun Gott
oder ein menschlicher Wille) wäre. Das cum tangere ist notwendig,
und es kann die Form einer Begegnung annehmen, die nicht “greift”,
einer kurzen Begegnung, oder einer Begegnung, die andauert. In letztem
Fall öffnet sich eine andere Form der Notwendigkeit: die Notwendigkeit
des fait accompli, der vollendeten Tatsache. Aber diese Tatsache
darf nicht als eine ewige Tatsache mißverstanden werden, denn sie
beruht auf einer notwendigen Kontingenz, auf dem cum tangere,
aus dem sie hervorgeht; es ist einzig durch die Wiederholung des
cum tangere, daß sie andauert und Bestand hat – ohne die
Sicherheit einer transzendenten oder transzendentalen Garantie.
Wir können jetzt das Rätsel um Althussers Formel der “Notwendigkeit
der Kontingenz” verstehen und durchdringen – diesen Schlüssel zum
späten Althusser, aber genauso auch zum “frühen”. Die Notwendigkeit
der Kontingenz ist nicht eine Notwendigkeit, die die Kontingenz
durchzieht und regiert, eine Notwendigkeit, die die Kontingenz “haben”
würde; es ist im Gegenteil die Notwendigkeit, die die Kontingenz
“ist”, ihr esse in alio (und nicht ein abstraktes Vermögen,
dieses oder jenes zu sein, das heißt, eine abstrakte Möglichkeit,
die die regio idearum eines heiligen Intellekts voraussetzt,
die sie aufrechterhalten würde). Dieses esse in alio ist
eine notwendige Referenz auf das Andere, ein Verweis, der alleine
eine Begegnung verursacht, die nicht durch irgendeine Art von Teleologie
vorprogrammiert wird: “Statt den Zufall als Modalität oder Ausnahme
einer Notwendigkeit zu denken, muß man vielmehr die Notwendigkeit
als das Notwendig-Werden der Begegnung von Zufälligkeiten denken”
(Althusser 1994a: 581). Dies ist wiederum das große Erbe, das Montesquieu
und Rousseau hinterlassen haben:
Hier liegt ohne Zweifel die tiefste Einsicht Rousseaus
verborgen, in diesem Konzept jeder möglichen Geschichtstheorie,
welches die Zufälligkeit der Notwendigkeit als Produkt der Notwendigkeit
der Zufälligkeit denkt – ein verwirrendes Begriffspaar, das es jedoch
im Auge zu behalten gilt, ein Begriffspaar, das bereits bei Montesquieu
aufscheint, jedoch erst von Rousseau klar formuliert wird, als entspringe
es einer Intuition des 18. Jahrhunderts, die im voraus alle lockenden
Teleologien der Geschichte zurückweist, und dem er die Türen weit
öffnet unter dem unwiderstehlichen Eindruck der Französischen Revolution.
(Althusser 1994a: 574
Schlußbemerkungen
58. Die überschwengliche, unsystematische und manchmal
unentschiedene Art und Weise, in der Althusser seinen Materialismus
der Begegnung darstellt, kann, so scheint es mir, leicht zu Mißverständnissen
führen. Es wurde behauptet, daß diese Schriften einen philosophischen
Romantizismus, einen Irrationalismus oder sogar einen Materialismus
der Freiheit vorschlagen würden. Ein Lexikon von Begriffen zu erstellen,
anstatt Althusser bei seinem Gang durch die gesamte westliche Tradition
zu folgen, ermöglicht es uns, so scheint es, die systematische Struktur
dieser Texte zu betonen und ihre Rigorosität zu demonstrieren, auch
wenn sie eher die Form einer freien und lockeren Erzählung annehmen.
Dies ermöglicht es uns wiederum, die rhetorische Emphase abzuschwächen,
die einige Begriffe vermitteln, Begriffe, die, aus ihrem theoretischen
Kontext und Funktion gerissen, völlig irreführend werden (das begriffliche
Paar die Leere/das Nichts ist vom rhetorischen Standpunkt aus das
kraftvollste). Wir werden der Versuchung widerstehen, der Althusserschen
Philosophie der Begegnung, des Aleatorischen und seiner materialistischen
Philosophie des “Regens” irgendeine Art von Etikett zu verpassen,
sei es klassifikatorisch oder polemisch: Übungen dieser Art werden
zu einem Zeitpunkt überflüssig sein, an dem die Bedeutung und die
Funktion seiner Schlüsselbegriffe rigoros bestimmt worden sind.
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Anmerkungen
1 Nietzsche, Morgenröte, Aph. 130.
* Im Original deutsch.
Literatur
Albiac, G.
(1998): "Althusser, Reader of Althusser: Autobiography as a Fictional
Genre" [übersetzt v. G. Campbell]. In: Rethinking Marxism
, Vol. 10, No. 3, S. 80-89.
Alcandre, F. & Brochard, C. (1998): "L'ultima filosofia di
Althusser". In: aut aut 285-286.
Althusser, L. (1976): Essays in Self-Criticism [übersetzt
v. G. Lock]. London: New Left Books.
Althusser, L. (1993a): "L'unique tradition matérialiste".
In: Lignes 18.
Althusser, L. (1993b): "Sur la pensée marxiste". In: Sur
Althusser. Passages. Paris: L'Harmattan.
Althusser, L. (1993c): Die Zukunft hat Zeit. Die Tatsachen.
Frankfurt/Main: S. Fischer.
Althusser, L. (1994a): Écrits philosophiques et politiques
[hg. v. F. Matheron]. Paris: Stock/IMEC, Vol. 1.
Althusser, L. (1994b): Sur la philosophie. Paris:
Gallimard.
Althusser, L. (1997): "The Only Materialist Tradition, Part
I: Spinoza" [übersetzt v. T. Stolze]. In: W. Montag & T. Stolze,
The New Spinoza. Minneapolis: University of Minnesota Press,
S. 3-19.
Althusser, L. (2006): Philosophy of the Encounter: Later
Writings, 1978-87 [hg. v. F. Matheron & O. Corpet, übersetzt
v. G. M. Goshgarian]. London: Verso.
Breton, S. (1993): "Althusser aujourd'hui". In: Archives
de la philosophie 56 (3).
Elliott, G. (1998): "Ghostlier Demarcations: On the posthumous
edition of Althusser's writings". In: Radical Philosophy,
No. 90, S. 20-32.
Matheron, F. (1998): 'The Recurrence of the Void in Louis
Althusser' [übersetzt v. E. A. Post]. In: Rethinking Marxism,
Vol. 10, No. 3, S. 22-37.
Negri, A. (1996): 'Notes on the Evolution of the Thought
of Louis Althusser' [übersetzt v. O. Vasile]. In A. Callari & D.
F. Ruccio, Postmodern Materialism and the Future of Marxist Theory:
Essays in the Althusserian Tradition. Hanover: Wesleyan University
Press, S. 51-68.
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Aus dem Englischen von Michael Heister &
Richard Schwarz
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Der Originaltext ist erschienen in: Morfino, V./Pinzolo,
L. (2000): Sul materialismo aleatorio. Mailand: Unicopoli.
Dieser Übersetzung lag eine englische Übersetzung zugrunde,
die Jason Smith für das eJournal Borderlands angefertigt hat.
© by Vittorio Morfino, 2000.
Wir danken Vittorio Morfino, Jason Smith und Borderlands für
die Genehmigung des "Abdrucks".
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