Von der Gefährlichkeit zum Risiko: Auf dem Weg in eine
post-disziplinäre Ordnung?

von Robert Castel

In diesem Beitrag* möchte ich einige Gedanken über die präventiven Strategien der Sozialverwaltung vorlegen, die gegenwärtig, am ausgeprägtesten in den Vereinigten Staaten und in Frankreich, entwickelt werden und die in einer tiefgreifend erneuernden Weise von den Traditionen der Psychiatrie und der Sozialarbeit abzuweichen scheinen.
Um es am Anfang sehr schematisch auszudrücken, ist die Innovation folgende. Die neuen Strategien lösen den Begriff eines Subjekts oder eines konkreten Individuums auf und installieren an ihrer Stelle eine Kombinatorik von Faktoren, den Risikofaktoren. Wenn es wirklich das ist, was stattfindet, dann bringt eine derartige Umgestaltung wichtige praktische Auswirkungen mit sich. Der wesentliche Bestandteil der Intervention nimmt nicht mehr die Form der direkten Beziehung von Angesicht zu Angesicht zwischen dem Fürsorger und dem Befürsorgten, dem Helfer und dem zu Helfenden und dem Experten und dem Patienten an. Statt dessen liegt er in der Bildung von Bevölkerungssegmenten, die auf dem Vergleich einer Reihe von abstrakten Faktoren basieren, die geeignet scheinen, das Risiko im allgemeinen hervorzubringen. Diese Verschiebung wirft das existierende Gleichgewicht zwischen den jeweiligen Standpunkten des spezialisierten Experten und des Verwaltungsbeamten völlig um, die mit der Bestimmung und der Anwendung der neuen Gesundheitspolitik beauftragt werden. Die Spezialisten sehen sich nun in eine untergeordnete Rolle verwiesen, während es der Verwaltungspolitik gestattet wird, sich zu einer vollkommen autonomen Kraft zu entwickeln, völlig jenseits der Kontrolle durch den Tätigen vor Ort, der nun auf einen bloß Ausführenden reduziert wird.
Überdies können diese praktischen Auswirkungen auch in dem Maße eine politische Bedeutung besitzen, daß, wie ich es auf jeden Fall vorzuschlagen versuchen werde, diese neuen Modelle für das Verwalten von Bevölkerungen in den entstehenden Rahmen eines Programms der Regierbarkeit fallen, das den Bedürfnissen von "fortgeschrittenen industriellen" (oder, wenn man dies bevorzugt, "post-industriellen" oder "postmodernen") Gesellschaften angemessen ist.
Wie alle wichtigen Umgestaltungen setzt diese eine langsam vorangehende Entwicklung von Praktiken voraus, die in einem gewissen Moment eine Schwelle überschreitet und den Charakter eines Wandels annimmt. So wurde die ganze moderne Medizin in eine schrittweise Abdrift bis zu dem Punkt verwickelt, wo die Vervielfachung der Systeme der Gesundheitskontrolle das individualisierte Gespräch zwischen Arzt und Patient immer entbehrlicher macht. Die Untersuchung des Patienten tendiert dahin, die Untersuchung der Aufzeichnungen des Patienten zu werden, wie sie in den unterschiedlichsten Situationen durch verschiedene Experten und Spezialisten zusammengetragen worden sind, die allein durch die Zirkulation individueller Dossiers in Verbindung untereinander stehen. Dies hat Balint "das geheime Einverständnis der Anonymität" genannt. Der Ort der diagnostischen Synthese ist nicht länger der der konkreten Beziehung zu einer kranken Person, sondern eine Beziehung, die zwischen den verschiedenen Expertisen hergestellt wird, die das Dossier des Patienten zusammensetzen. Bereits hier existiert die Verschiebung von der Präsenz zur Datenspeicherung, von dem Blick zur objektiven Ansammlung von Fakten. Wenn man will, kann man die sich daraus ergebende Situation eine Krise der klinischen Medizin nennen, eine Krise, die das personalisierte Verhältnis zwischen dem Experten und dem Patienten berührt; oder es kann ein Übergang von einer Klinik des Subjekts zu einer "epidemiologischen" Klinik genannt werden, ein System von vielfältigen, aber genau lokalisierten Expertisen, das das alte Arzt-Patient-Verhältnis verdrängt. Dies bedeutet sicherlich nicht das Ende des Arztes, aber es bezeichnet zweifellos eine tiefgreifende Umgestaltung in der medizinischen Praxis.
Während der letzten zwanzig Jahre etwa hat diese Neubestimmung des medizinischen Auftrags die Diskussion um die Entwicklung der Medizin und die Suche nach Lösungen oder Linderungen ihrer negativen Begleiterscheinungen angefacht (Balint-Gruppen, Gruppenmedizin, Versuche, die Allgemeinmedizin aufzuwerten, etc.). Außerdem wurden die genauen objektiven Bedingungen selbst oft genug erforscht, auf denen diese ganze Entwicklung beruht: die zunehmend "wissenschaftliche" Richtung, in die sich die Technologien der Fürsorge entwickelt haben; die wachsende Bedeutung des Krankenhauses als des privilegierten Ortes der Entstehung und der Ausübung einer technisch fortgeschrittenen Medizin usw. Innerhalb der Psychiatrie ist die Diskussion jedoch nicht ganz so weit fortgeschritten: es wird immer noch angenommen, daß die entscheidenden praktischen Probleme diejenigen seien, die mit der therapeutischen Beziehung zusammenhängen, ob sie nun - wie viele Experten, die sie betreiben, geneigt sind, zu glauben - in bezug auf deren Verbesserung gesehen werden, indem sie durch die Anreicherung mit neuen Ressourcen komplexeren Situationen angepaßt wird, oder andernfalls in bezug auf die Infragestellung ihrer nicht-therapeutischen Funktionen, wie zum Beispiel die der Unterdrückung oder die der Kontrolle, die sie ihres eigentlichen Charakters berauben. Es kann jedoch sein, daß diese Problematik, obwohl nicht vollkommen überholt, nicht mehr in der Lage ist, mit den neuesten Innovationen Schritt zu halten, die gegenwärtig das Feld der Psychiatrie umgestalten. Dies ist zumindest das, was ich andeuten möchte, obgleich ich mich hier darauf beschränken werde, einen Abriß über den Weg zu geben, der während der letzten hundert Jahre zu der Ersetzung des Begriffs der Gefährlichkeit, der einst verwandt wurde, um das bevorzugte Ziel der präventiven medizinischen Strategien zu bezeichnen, durch den Begriff des Risikos geführt hat.1
Von der Gefährlichkeit zum Risiko: Was bezeichnet das historisch, theoretisch und praktisch?

Die Paradoxien der Gefährlichkeit

Für die klassische Psychiatrie bedeutete "Risiko" im wesentlichen die Gefahr, die in der geisteskranken Person aufgrund ihrer Fähigkeit zu gewalttätigem und unvorhersehbarem Verhalten verkörpert war. Gefährlichkeit stellt einen ziemlich mysteriösen und zutiefst paradoxen Begriff dar, da er gleichzeitig die Behauptung einer dem Subjekt immanenten Qualität (er oder sie ist gefährlich) und eine bloße Wahrscheinlichkeit impliziert, ein Quantum an Ungewißheit, das darin besteht, daß, sollte das angedrohte Verhalten tatsächlich geschehen, der Nachweis der Gefahr nur nach dem Tatbestand erbracht werden kann. Streng genommen gibt es nur Unterstellungen der Gefährlichkeit, die die Hypothese einer mehr oder weniger wahrscheinlichen Beziehung zwischen bestimmten gegenwärtigen Symptomen und einer bestimmten zukünftigen Handlung voraussetzen. Selbst wenn das, von dem die Rede ist, ein Rückfallrisiko wäre, existiert immer noch ein Unsicherheitsfaktor, der die Diagnose der Gefährlichkeit von der Wirklichkeit der Handlung trennt. Beispielsweise zu sagen, daß jemand ein "Monomane" oder ein "instinktiver Perverser" sei, involviert bereits die Behauptung eines Risikos, von dem auf eine paradoxe Weise angenommen wird, "in" dem Subjekt zu sitzen, auch wenn es sich selbst oft noch nicht in irgendeiner Handlung manifestiert haben wird. Deshalb die besondere Unvorhersehbarkeit, die der pathologischen Handlung eigen ist: alle geisteskranken Personen, selbst diejenigen, die ruhig erscheinen, befördern eine Bedrohung, aber eine, deren Verwirklichung noch im Bereich des Möglichen verbleibt. "Heute harmlos, können sie morgen gefährlich werden."2 Diesem bedrängenden Paradox der klassischen Psychiatrie ausgesetzt, entschieden sich die Psychiater gemeinhin für die allumfassende Vorsicht des präventiven Interventionismus. Im Zweifelsfall ist es besser zu handeln, da, auch wenn eine unbegründete Intervention einen Irrtum darstellt, es dann einer ist, der gewiß niemals als solcher erkannt werden wird; wohingegen der Fehler offensichtlich und der Psychiater dem Tadel ausgesetzt ist, wenn man sich der Intervention enthält und die drohende Handlung sich noch ereignen sollte. Deshalb der Kommentar eines Irrenarztes des 19. Jahrhunderts, der eine von diesen immer wiederkehrenden Meldungen, die selbstgefällig in den Schlagzeilen der Zeitungen ausgeschlachtet wurden, liest, die von dem Ausbruch einer derartigen unvorhersehbaren Gewalttat berichtet: "Wenn wir nicht abwarten würden, bis Verrückte einige schlimme Verbrechen begehen, bevor wir sie einweisen, dann würden wir derartige Unglücke nicht jeden Tag zu bedauern haben."3
Aber ist es möglich, auf dieser Grundlage eine vollständig ausgebildete Präventionspolitik zu entwickeln? Doch nur auf eine grobe Art und Weise, da man nur hoffen kann, gewalttätige Handlungen zu verhindern, die von denjenigen begangen werden, die man bereits als gefährlich eingestuft hat. Deshalb die doppelte Begrenzung, die auf der einen Seite von der Fehlbarkeit derartiger Diagnosen und auf der anderen Seite von der Tatsache herrühren, daß sie nur für jeden individuellen Patienten einzeln durchgeführt werden können. Aus diesem Grund war die klassische Psychiatrie nur in der Lage, von den entsprechend groben präventiven Technologien der Einweisung und der Sterilisation Gebrauch zu machen. Es einzusperren bedeutete, ein als gefährlich angesehenes Individuum, wenn möglich im voraus, zu neutralisieren. In diesem Sinne ist es keine Übertreibung, zu behaupten, daß die grundlegenden Gesetze über die Zwangseinweisung, wie das Gesetz von 1838 in Frankreich und das Gesetz von 1904 in Italien, präventive Gesetze sind, da bei dem Alarm, der durch die Wahrnehmung eines pathologischen Symptoms durch die Personen um ihn oder sie herum ausgelöst wird, die kranke Person einer gewaltsamen Verlegung in eine neue Umgebung, das Asyl, unterworfen wird, wo er oder sie systematisch abgehalten wird, die Bedrohung, die er oder sie in sich trägt, zu verwirklichen.
Selbst wenn man von den moralischen und politischen Vorbehalten absieht, die man gegenüber dieser Strategie haben könnte, muß jedoch angemerkt werden, daß sie technisch gesehen nicht sehr zufriedenstellend ist, da sie ein willkürliches Element besitzt, das ihre mögliche Anwendung beträchtlich einschränkt. Man kann nicht Massen von Menschen bloß wegen des einfachen Verdachts ihrer Gefährlichkeit einsperren, wenn auch nur aus dem Grund, daß die ökonomischen Kosten gewaltig und außerhalb jedes Verhältnisses zu den verhinderten Risiken wären. So hat sich die Anzahl der geisteskranken Personen, die in Institutionen eingesperrt sind, in einem Land wie Frankreich um die 100.000 eingependelt, was eine Menge zu sein scheint, aber gleichzeitig sehr wenig ist, wenn man die Anzahl der Gefahren in Betracht zieht, die "verhindert" werden müssen. Diese Grenzen der Einsperrung sind zunehmend offensichtlich geworden, als, durch eine Reihe von Entwicklungen hindurch, die mit der Monomanie und dem "Wahnsinn ohne Delirium" beginnt und die fortschreitend die Ausarbeitung einer ganzen wandelbaren Pathologie des Willens und des Instinkts begleitet, die Gefährlichkeit sich mehr und mehr in eine mehrwertige Entität verwandelt, behaftet mit unergründlichen Ursachen und unvorhersehbaren Weisen, sich selbst zu manifestieren. Diese ganzen abnormalen Individuen, "zu normal für das Asyl und unzurechnungsfähig genug zum Einsperren: sind sie nicht trotz allem zu gefährlich, um in Freiheit gelassen zu werden?"4 Wie müssen sie dann beseitigt werden?
Die Aufgewecktesten unter den Psychiatern erkannten sehr bald die Falle, in die sie aufgrund ihrer Neigung, Gefährlichkeit als eine innere Qualität des Subjekts zu behandeln, zu geraten drohten. So schlug schon Mitte des 19. Jahrhunderts der französische Psychiater Morel (besser bekannt als der Entdecker der Degeneration) einen "hygienischen und prophylaktischen Standpunkt" vor, der auf der Feststellung der Häufigkeit der Geisteskrankheiten und der anderen Abnormalitäten unter den am meisten benachteiligten Schichten der Bevölkerung basierte, und er setzte diese Häufigkeit mit den Lebensbedingungen des Subproletariats - Unterernährung, Alkoholismus, Wohnverhältnisse, Promiskuität usw. - in Beziehung. Indem er dies tat, argumentierte Morel bereits in Begriffen der objektiven Risiken: das heißt statistischen Korrelationen zwischen Serien von Phänomenen. Auf der Ebene der Praktiken schlug er auch vor, daß die öffentlichen Gewalten eine besondere Überwachung solcher Bevölkerungsgruppen durchführen sollten, die zu dieser Phase bereits "Bevölkerungen des Risikos" genannt worden sein dürften, solchen, die sich (natürlich) am Ende der sozialen Leiter befinden.5 Morel reaktivierte hier beiläufig die Tradition der medizinischen Hygiene, die sich im späten 18. Jahrhundert in Frankreich entwickelt hatte, von der sich aber die Irrenärzte selbst durch die Konzentration des Hauptteils ihrer Aktivitäten auf das Asyl abgegrenzt hatten.
Morel war jedoch nicht in der Lage, sehr weit in diese Richtung auf eine genuin präventive Perspektive hin voranzuschreiten, da er die besonderen Techniken, dieses zu erreichen, nicht zu seiner Verfügung hatte. Intervenieren bedeutet für ihn noch, in Kontakt mit bestimmten Individuen zu treten und für diese völlig die Verantwortung zu übernehmen. So spricht er von einer "verallgemeinerten moralischen Behandlung" als das Kennzeichnende der neuen präventiven Praktiken, die er voranzutreiben beabsichtigt, als ob es ausreichend wäre, dieselbe existierende Form der Handlungsweise, die moralische Behandlung, die zu dieser Zeit als die obligatorische Form der Einzeltherapie eingeführt wurde, auszubreiten und zu vermehren. Er zieht die wesentliche Unterscheidung zwischen "defensiver Prophylaxe" (Internierung) und "präventiver Prophylaxe", aber er ist gezwungen, die letztere zu begrenzen auf

"den Versuch, die geistigen, körperlichen und moralischen Bedingungen von denjenigen zu ändern, die aus verschiedenen Gründen vom Rest der Menschheit getrennt worden sind; bevor man sie ins soziale Milieu zurückkehren läßt, muß man sie sozusagen gegen sich selbst ausrüsten, um die Rückfallrate zu verringern."6

Mit anderen Worten wird diese "präventive Prophylaxe" noch ausschließlich auf Bevölkerungen angewandt, die der traditionellen Einsperrung unterworfen werden. Mangels einer angemessenen Technologie der Intervention ist Morel außerstande, von seinen ausgeprägt modernen Intuitionen zu profitieren.
Genaugenommen findet man im Zusammenhang mit Morel und der Entdeckung der Degeneration die Entstehung der Möglichkeit einer anderen Art von präventiver Strategie, die in der eugenischen Politik des frühen 20. Jahrhunderts kulminiert. Die Eugenik beginnt ebenfalls, eher in Begriffen des Risikos als in denen der Gefahr zu denken; das Ziel einer Intervention, die im Namen des Schutzes der Rasse veranlaßt wurde, ist viel weniger, ein bestimmtes Individuum zu behandeln, als zu verhindern, daß die Bedrohung, die er oder sie in sich trägt, auf die Nachkommenschaft übertragen wird. Dementsprechend kann die prophylaktische Maßnahme der Sterilisation auf eine viel weitverbreitetere und entschlossen präventivere Art und Weise angewandt werden als die Einsperrung, da sie - auf der Grundlage einer viel größeren Bandbreite von Indikatoren als denjenigen, die die Geisteskrankheit exakt bestimmen - zukünftige Risiken unterdrücken kann. So erklärt 1914 eine so maßgebende Stimme wie die des Präsidenten der American Psychiatric Association:

"Daß eine grundlegende Heilung von den Übeln, die mit den abhängigen, geistig defekten Klassen verbunden sind, bewirkt wird, wenn jede dümmliche Person, jeder Schwachsinnige, jeder Gewohnheitsverbrecher, jede offenkundig willensschwache Person und jeder chronische Trinker sterilisiert würde, ist eine selbstverständliche Behauptung. Durch diese Maßnahmen können wir praktisch, wenn nicht völlig, in ein oder zwei Jahrzehnten die Reproduktion von geistig defekten Personen aufhalten, so sicher, wie wir gänzlich die Pocken ausrotten könnten, wenn jede Person auf der Welt geimpft werden könnte."7

In der Tat mißlingt es uns häufig, uns daran zu erinnern, daß die eugenischen Praktiken während des ersten Drittels dieses Jahrhunderts weitverbreitet waren und daß in fast allen Staaten, selbst in einem angeblich so "liberalen" Land wie den Vereinigten Staaten, besondere Gesetze, die einem breiten Spektrum von unzulänglichen Personen die Sterilisation aufzwangen, erlassen wurden.8 Die Interventionen der Eugenik wurden jedoch durch die Krise gebremst, die die "wissenschaftliche" Grundlage berührte, die behauptet wurde, um sie zu legitimieren. Derartige Interventionen beruhen auf der Voraussetzung, daß der erbliche Charakter der zu verhindernden Risiken und ihrer Art der Übertragung wissenschaftlich bewiesen ist: etwas, das in der Mehrheit der Fälle weit davon entfernt ist, nachgewiesen worden zu sein. Und dann ermöglichte es die furchtbar groteske Version, die durch den Nazismus bereitgestellt wurde, die eugenischen Techniken sowohl moralisch als auch politisch in Mißkredit zu bringen, die zweifellos ohne diese tragische Episode eine prächtige Zukunft vor sich gehabt hätten. Im übrigen war es ein französischer Arzt, der schon 1918, soviel ich weiß, der Erste war, der die Errichtung eines "Instituts für Euthanasie, wo diejenigen Degenerierten, die des Lebens müde sind, mit Hilfe von Nitroxyd oder Lachgas schmerzlos umgebracht werden"9, vorschlug.
Wenn jedoch der von der Eugenik verfolgte präventive Weg sich selbst diskreditiert findet (definitiv oder vorläufig), wie wird dann Prävention, ohne die Notwendigkeit der Einsperrung, möglich sein? Es besteht hier die Gefahr eines Zurückfallens zu der Position von Morel: die Notwendigkeit anzuerkennen, unmittelbar auf die Bedingungen einzuwirken, die geeignet sind, ein Risiko hervorzurufen, aber der Techniken zu ermangeln, mit denen dieses Erfordernis umzusetzen ist. Ein Jahrhundert nach Morel charakterisiert diese Doppeldeutigkeit noch die ganze amerikanische Tradition der präventiven Psychiatrie, die auf den Arbeiten von Gerald Caplan basiert.10 Hier stellt sich erneut die Frage nach der Ausweitung der Intervention des Psychiaters, nötigenfalls, indem man ihm oder ihr neue Einsatzrollen gibt und den Psychiater zu einem Berater der regierenden Politiker oder zu einer Hilfskraft der administrativen "Entscheidungsträger" macht. Nehmen Sie zum Beispiel folgenden programmatischen Text:

"Der Spezialist für geistige Gesundheit bietet den Gesetzgebern und Verwaltungsbeamten Beratung an und arbeitet mit anderen Bürgern zusammen, um die Regierungsinstanzen zu veranlassen, die Gesetze und Vorschriften zu ändern. Die soziale Tätigkeit umfaßt Anstrengungen, die allgemeinen Einstellungen und das Verhalten der Gemeinschaftsmitglieder mittels Kommunikation durch das Erziehungssystem, die Massenmedien und durch Interaktion zwischen den Gemeinschaften von Experten und Laien zu modifizieren."11

Auf dieser Grundlage bestimmt Caplan eine erste Bedeutung der Prävention, die "primäre Prävention", die in Wahrheit ein ganzes politisches Interventionsprogramm darstellt.
Was qualifiziert aber vor allem den Psychiater, diese neuen Funktionen zu übernehmen? Welche Verbindung besteht hier zwischen der Kompetenz, die er oder sie beanspruchen kann, und derjenigen, die zum Beispiel benötigt wird, um die auf das soziale Milieu bezogene Politik oder das Schulsystem zu reformieren? Der Spezialist für Psychiatrie, der, in Caplans Worten, auf diesen Gebieten "Beratung anbietet", geht ein hohes Risiko ein, daß seine Kompetenz in Frage gestellt wird oder daß er zumindest auf starke Konkurrenz von zahlreichen anderen Experten stößt, von denen viele besser qualifiziert zu sein scheinen als er. Somit sind die Hoffnungen und Ängste, die sich um eine "expansionistische" Psychiatrie herum entwickelten und die gelegentlich Anlaß zur Verurteilung der Gefahren des "psychiatrischen Imperialismus" gaben, zumindest in diesem Stadium zweifellos ein wenig übertrieben. Sie schreiben den Psychiatern eine - im Hinblick auf die gegenwärtige Stellung, die diese in der Gesellschaft einnehmen, und im Hinblick auf den unsicheren Charakter ihres Wissens - übertriebene Machtfülle zu: sie stellen die Psychiater dar, als seien sie in der Lage, trotz der zufälligen sozialen Herkunft ihrer klassisch individuellen Klientel in ein breites Spektrum von spezifisch sozialen Problemen zu intervenieren. Zweifellos können sie versuchen, ihre traditionelle therapeutische Rolle ein wenig flexibler zu gestalten. Aber solange sie an den relationalen Charakter ihrer Praxis gebunden bleiben, können sie nicht unbegrenzt die Gestalt dieser Rolle ändern.

Der neue Raum des Risikos

Die Begrenzungen werden beseitigt, wenn man mit dieser unmittelbaren Beziehung mit dem zu helfenden Subjekt bricht, die die klassischen Behandlungsformen nicht nur in der Psychiatrie, sondern in der Sozialarbeit und in den Fürsorgeberufen insgesamt kennzeichnet. Auf diese Weise vollzieht man eine unverhohlene Trennung zwischen der fachlichen Rolle des Praktizierenden und der Führungsrolle des Verwaltungsbeamten.
Eine derartige Verschiebung wird möglich, sobald der Begriff des Risikos von dem der Gefahr unabhängig gemacht wird. Ein Risiko entsteht nicht durch das Vorhandensein einer bestimmten, genau festgelegten Gefahr, die von einem konkreten Individuum oder einer konkreten Gruppe verkörpert wird. Es ist das Ergebnis einer Kombination von abstrakten Faktoren, die das Auftreten von unerwünschten Verhaltensweisen mehr oder weniger wahrscheinlich wiedergeben.
Zum Beispiel wurde 1976 in Frankreich begonnen, ein allgemeines System der Früherkennung von Abnormalitäten in der Kindheit einzurichten, das den Titel GAMIN-System (gestion automatisée maternelle et infantile) trägt.12 Dies bedeutet, daß alle Kinder einer systematischen Untersuchung unterworfen werden (in Wahrheit drei Untersuchungen: nach ein paar Tagen, ein paar Wochen und im Alter von zwei Jahren). Diese Untersuchungen stellen alle möglichen Abnormalitäten von Kind und Mutter fest, ob in körperlicher, psychologischer oder sozialer Hinsicht. So werden folgende Arten von Daten gesammelt: bestimmte Krankheiten der Mutter; seelische Mängel; aber auch soziale Eigenschaften, wie die Tatsache, eine unverheiratete Mutter, eine Minderjährige oder von fremder Nationalität etc. zu sein. Diese Informationen können dann abgeglichen werden, um auf diese Weise Typen von Faktoren zusammenzufassen, die vollkommen verschiedenartig sind. So könnte es sein, daß man zum Beispiel von einer unverheirateten Mutter geboren wird, die jünger als siebzehn oder älter als vierzig Jahre ist, die eine bestimmte Art von Krankheit oder frühere komplizierte Schwangerschaften gehabt hat, die Bäuerin oder Studentin ist usw.
Das Vorhandensein einiger oder einer bestimmten Anzahl dieser Risikofaktoren löst einen automatischen Alarm aus. Mit anderen Worten wird ein Experte, zum Beispiel ein Sozialarbeiter, veranlaßt werden, die Familie aufzusuchen, um auf der Grundlage der wahrscheinlichen und abstrakten Existenz der Risiken das wirkliche Auftreten einer Gefahr zu bestätigen oder zu widerlegen. Man darf nicht ausgehend von einer, in der Erfahrung wahrnehmbaren, konfliktgeladenen Situation beginnen, vielmehr leitet man sie aus einer allgemeinen Bestimmung der Gefahren ab, die man zu verhindern wünscht.
So befördern diese präventiven Politiken eine neue Art der Überwachung: die der systematischen Vor-Ermittlung. Es handelt sich insofern um eine Form der Überwachung, als es das beabsichtigte Ziel darstellt, das Erscheinen von irgendeinem unerwünschten Ereignis wie Krankheit, Abnormalität, abweichendes Verhalten usw. zu antizipieren und zu verhindern. Diese Überwachung verzichtet aber auf die tatsächliche Anwesenheit, den Kontakt, das wechselseitige Verhältnis von Beobachter und Beobachtetem, Vormund und Mündel, Fürsorger und Befürsorgtem. Diese Form der gemeinsamen Anwesenheit, wenn auch nur in der sublimierten Gestalt des beobachtenden Blickes, war ein Erfordernis der ganzen klassischen disziplinarischen, fürsorglichen und therapeutischen Techniken (vgl. das Modell des Panoptikums, wie es von Michel Foucault untersucht worden ist13). Auch in ihren kollektivsten, unpersönlichsten und repressivsten Formen, in Kasernen, Fabriken, Gefängnissen, Internaten und psychiatrischen Kliniken, hielten die Verfahren, die entworfen wurden, um abweichendes Verhalten aufzudecken und zu korrigieren, an diesem Vertrauen in die "leibhaftige" Anwesenheit und, kurz gesagt, in eine bestimmte Form der Individualisierung fest.
Aber nun kann die Überwachung ohne jeden Kontakt mit dem oder auch ohne jede unmittelbare Repräsentation des zu untersuchenden Subjekts durchgeführt werden. Zweifellos hat die Polizei schon seit langem ihre Geheimakten geführt. Aber die Logik von derartigen verborgenen Dossiers erlangt nun den anspruchsvollen und stolz verkündeten Status der "wissenschaftlichen" Vor-Ermittlung.
Mir scheint, daß hier eine wirkliche Veränderung vorliegt, die geeignet ist, den neuen Überwachungstechnologien einen außerordentlichen Spielraum zur Verfügung zu stellen. Zu intervenieren bedeutet nicht mehr, auf ein gegebenes Individuum abzuzielen, oder wenigstens nicht, damit zu beginnen, um ihn oder sie zu bessern, zu bestrafen oder für ihn oder sie zu sorgen (wie auch immer man Lust hat, die letzteren Formen der Intervention zu bewerten - positiv, gemäß der Tradition der wohltätigen, obgleich hart zupackenden Philanthropie, oder negativ, in Einklang mit der anti-repressiven kritischen Schule). Tatsächlich gibt es keine Beziehung der Unmittelbarkeit mit einem Subjekt mehr, weil es kein Subjekt mehr gibt. Was die neuen präventiven Politiken hauptsächlich anvisieren, sind nicht mehr Individuen, sondern Faktoren, statistische Korrelationen verschiedenartiger Elemente. Sie dekonstruieren das konkrete Subjekt der Intervention und rekonstruieren eine Kombination von Faktoren, die geeignet sind, das Risiko zu produzieren. Ihr Hauptziel besteht nicht darin, einer konkreten gefährlichen Situation entgegenzutreten, sondern alle möglichen Formen von Gewaltausbrüchen zu antizipieren. In Wirklichkeit erhebt die "Prävention" den Verdacht in den würdevollen wissenschaftlichen Rang eines Kalküls von Wahrscheinlichkeiten. Um verdächtig zu sein, ist es nicht länger nötig, Symptome der Gefährlichkeit oder Abnormalität zu zeigen, es reicht aus, eine der Eigenschaften aufzuweisen, die die Experten, die für die Definition der präventiven Politik verantwortlich sind, als Risikofaktoren ausgemacht haben. Eine Vorstellung von Prävention, die sich selbst darauf beschränkt, das Auftauchen einer einzelnen Handlung vorherzusagen, erscheint im Vergleich mit einer solchen, die den Anspruch erhebt, die objektiven Bedingungen des Entstehens von Gefahren zu konstruieren, um dann aus ihnen die neue Interventionsweise abzuleiten, archaisch und handwerklich.
Kurz, dieser verallgemeinerte Raum der Risikofaktoren steht in dem gleichen Verhältnis zu dem konkreten Raum der Gefährlichkeit wie der verallgemeinerte Raum der nicht-euklidischen Geometrien zu dem dreidimensionalen Raum der euklidischen Geometrie; und diese abstrahierende Verallgemeinerung, die die Verschiebung von der Gefährlichkeit zum Risiko anzeigt, enthält eine potentiell unendliche Vervielfachung der Möglichkeiten für eine Intervention. Denn welche Situation gibt es, von der man sicher sein kann, daß sie kein Risiko, kein unkontrollierbares und unvorhersehbares zufälliges Merkmal beherbergt?
Die modernen Ideologien der Prävention sind von einem bombastischen, technokratisch-ratio-nalisierenden Traum der vollständigen Kontrolle des Zufälligen, verstanden als Einbruch des Unvorhersehbaren, überwölbt. Im Namen dieses Mythos der vollständigen Ausrottung des Risikos konstruieren sie eine Fülle von neuen Risiken, die so viele neue Zielscheiben für die präventive Intervention darstellen. Nicht nur solche Gefahren, die versteckt im Inneren des Subjekts schlummern und die die Folgen von ihrer oder seiner Willensschwäche, ihren oder seinen irrationalen Wünschen oder ihren oder seinen unvorhersehbaren Freiheiten sind, sondern auch exogene Gefahren, die äußeren Risiken und Versuchungen, vor denen das Subjekt nicht gelernt hat, sich zu schützen, nämlich Alkohol, Tabak, schlechte Ernährungsgewohnheiten, Straßenunfälle, unterschiedliche Arten der Unachtsamkeit und Verunreinigung, meteorologische Gefahren usw.14 So spielt eine gewaltige Utopie von Hygienikern abwechselnd auf den Registern von Angst und Sicherheit, die ein Delirium der Rationalität, eine absolute Herrschaft der kalkulierenden Vernunft und ein nicht weniger absolutes Vorrecht ihrer Agenten, Planer und Technokraten hervorruft: Verwalter des Glücks für ein Leben, dem nichts zustößt. Dieser Hyperrationalismus ist gleichzeitig ein vollkommener Pragmatismus, da er vorgibt, ein Risiko auszurotten, so, als ob man Unkraut herausreißen würde. In allen diesen vielfältigen, im Umlauf befindlichen Äußerungen dieses ruhigen, präventiven Gewissens (die zur Zeit in Frankreich so überaus geschätzt werden, wenn man sich all die gewaltigen nationalen präventiven Kampagnen anschaut), findet man jedoch nicht die Spur irgendeines Nachdenkens über die sozialen und humanen Kosten dieser neuen Hexenjagd. Da gibt es zum Beispiel die iatrogenen Aspekte der Prävention, die tatsächlich immer wirksam sind, selbst wenn es den Verbrauch solch "verdächtiger" Produkte wie Alkohol oder Tabak betrifft, der unter Beschuß steht.

Praktische und politische Auswirkungen

Auch wenn man die Frage dieser allgemeinen Auswirkungen beiseite läßt, ist es möglich, damit zu beginnen, eine gewisse Anzahl von praktischen und nüchternen Schlüssen zu ziehen. Ich werde mich hier auf zwei beschränken, die mir besonders wichtig zu sein scheinen.

Die Trennung von Diagnose und Behandlung und die Verwandlung der Fürsorge-Funktion in die Erstellung von Expertisen

Ob man dies für eine gute oder schlechte Sache hält, war bis heute die Tradition der Psychiatrie und im weiteren Sinne die der Sozialarbeit und der Unterstützung im allgemeinen durch ein Streben gekennzeichnet, so vollständig wie möglich einen Fürsorgedienst für die Bevölkerungen, für die sie die Verantwortung trug, bereitzustellen. In der Psychiatrie wurde dieses Streben anfangs in der fest umrissenen, einfachen Gestalt der Internierung verwirklicht: als geisteskrank diagnostiziert zu werden, lief darauf hinaus, in einer besonderen Institution oder einem Asyl untergebracht zu werden, wo die Art und Weise, in der für eine Person gesorgt wurde, so total war, daß sie oft das ganze Leben andauerte. In der modernen Psychiatrie jedoch, in ihrer gemeinschaftsbasierten Vorgehensweise, wird diese umfassende Tätigkeit durch den wesentlichen Begriff der Kontinuität der Fürsorge fortgesetzt: ein einzelnes medizinisch-soziales Team muß ungeachtet der Vielfalt der Orte, an denen es agiert, die vollständige Reichweite der Interventionen bestimmen, die ein gegebenes Individuum benötigt, von der Prävention bis zur Nachsorge. Dies ist wesentlich für die Doktrin des "Sektors", der in Frankreich die offizielle Politik für geistige Gesundheit darstellt, und für das Community Mental Health Centers Movement in den Vereinigten Staaten. Man sollte hinzufügen, daß auch der Psychoanalyse diese Tradition nicht völlig fremd ist, da sie, wie wir wissen, die Patienten über viele Jahre hinweg durch die unterschiedlichen Stadien der Heilung begleitet und sein oder ihr Leben durch den Rhythmus ihrer Sitzungen einteilt, um so auf ihre eigene Art und Weise eine Kontinuität der Fürsorge zu gewährleisten.
Dieses kontinuierliche Regime der Unterstützung ist heutzutage sicherlich nicht an ein Ende gekommen, aber es stellt nicht mehr ein quasi ausschließliches Modell der medizinisch-psychologischen Praxis dar. In einer steigenden Anzahl von Situationen funktioniert die medizinisch-psychologische Einschätzung als eine Erstellung von Expertisen, die dazu dient, ein Individuum zu klassifizieren, für ihn oder sie ein Profil anzulegen, das ihn oder sie auf einer Laufbahn einordnen wird. Aber die tatsächliche Aufnahme des Einzelnen in irgendeine Art der Fürsorge bildet nicht notwendigerweise einen Teil der Kontinuität dieser Einschätzung.
Dies ist zum Beispiel die Logik des wichtigen Gesetzes "zugunsten der behinderten Personen", das 1975 in Frankreich verabschiedet wurde und das an die zwei Millionen Personen betrifft.15 Die Diagnose einer Behinderung ermöglicht es, den Subjekten verschiedene besondere Laufbahnen zuzuweisen, die aber nicht notwendigerweise medizinische darstellen. Eine behinderte Person könnte zum Beispiel in einer beschützenden Werkstatt oder in einem Centre d'aide par le Travail untergebracht werden: das heißt, in einer Einrichtung, die nichts Medizinisches an sich hat, wo für die behinderte Person nicht so sehr "gesorgt" wird, als daß sie auf eine weniger wettbewerbsorientierte Art und Weise als in gewöhnlichen produktiven Unternehmen zur Arbeit ermuntert wird. Wenn man mag, kann man dies "Entmedikalisierung" oder "Entpsychiatrisierung" nennen, die sich aber in einer Weise vollzieht, in der die Behandlung durch eine Praxis der administrativen Zuweisung ersetzt wird, die häufig auf Grundlage einer medizinisch-psychologischen Diagnose interveniert. In Frankreich stößt dieses Gesetz auf einen zunehmend entschlosseneren Widerstand von einer Mehrheit der Praktizierenden, die erkennen, daß es eine verhängnisvolle Bedrohung ihrer Berufe mit sich bringt. Gleichwohl bleibt die Intervention der Praktizierenden ein wesentlicher Teil des Funktionierens dieses Prozesses, da es die sachkundige Einschätzung des Praktizierenden ist, die das Schicksal des Behinderten besiegelt. Aber diese Expertise dient nicht mehr demselben Zweck: während sie als Bewertung unentbehrlich bleibt, kann sie für den Prozeß der Überwachung überflüssig werden. Anders gesagt gibt es eine wachsende Zahl von Subjekten, die weiterhin von Spezialisten des medizinisch-psychologischen Wissens gemustert werden müssen, deren Intervention für die Einschätzung ihrer Fähigkeiten (oder Behinderungen) notwendig bleibt. Aber Individuen, die auf diese Weise gemustert werden, müssen nicht mehr durch dieselben Spezialisten behandelt werden. Wir sind über die Problematik der Behandlung (oder, in kritischer Terminologie, die der Repression oder Kontrolle) hinausgegangen. Wir befinden uns unter einer Perspektive der automatisierten Verwaltung von Bevölkerungen, durchgeführt auf der Grundlage von unterschiedlichen Profilen von denjenigen Bevölkerungsteilen, die durch medizinisch-psychologische Diagnosen, die als reine Expertisen fungieren, etabliert werden. Zweifellos müssen wir jetzt noch die ganze Tragweite dieser Veränderung begreifen.

Die totale Unterordnung der Experten unter die Verwaltungsbeamten

Der Konflikt zwischen Verwaltungsbeamten und Praktizierenden hat selbst eine lange zurückreichende Tradition innerhalb der Berufe für geistige Gesundheit und Sozialarbeit. Es ist in der Tat ein Leitmotiv in der ganzen Fachliteratur, die administrativen Erfordernisse als Haupthindernis für den Einsatz einer therapeutischen oder fürsorglichen Tätigkeit, die diesen Namen verdient, zu betrachten: der Verwaltungsbeamte verweigert dem Praktizierenden ständig die Mittel, die er oder sie für seine oder ihre Arbeit benötigt, blockiert Initiativen durch pingelige Vorschriften, erlegt ihm oder ihr Funktionen der Kontrolle und Repression auf usw.
Im klassischen System wurde jedoch dieser Konflikt der Standpunkte zwischen zwei nahezu gleichwertigen Partnern ausgetragen, oder zumindest ließ es Raum für Verhandlungen, Kompromisse und sogar Bündnisse auf der Grundlage einer Teilung von Verantwortlichkeiten. Man konnte versuchen, einen Verwaltungsbeamten zu etwas zu verleiten oder ihn zu neutralisieren, eine Vorschrift auszunutzen oder zu umgehen, einen Manager zu beeinflussen oder einzuschüchtern usw. Zudem war eine Politik für die geistige Gesundheit, von den Anfängen der Psychiatrie bis heute, das Ergebnis einer verworrenen Interaktion (oder, wenn man dies bevorzugt, eines dialektischen Verhältnisses) zwischen den jeweiligen Beiträgen von Praktizierenden und Verwaltungs- beamten. In der Ausarbeitung politischer Maßnahmen kann man trotz der Verschiedenartigkeit der unterschiedlichen historischen Epochen und der geographischen Regionen vier gemeinsame Phasen identifizieren, die mit einer derartigen Regelmäßigkeit aufeinanderfolgen, daß der Schluß berechtigt ist, daß dies auf eine genuin konstitutive Logik hinausläuft.16
Eine anfängliche Phase wird von den Tätigen vor Ort beherrscht. Die Praktizierenden, mit den tagtäglichen Problemen konfrontiert, denken sich durch schrittweises Ausprobieren ein neues Modell aus, um den Bereich zu organisieren, für den sie verantwortlich sind. So "erfindet" man das Asyl zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Frankreich vor dem Hintergrund des alten hôpital général und die geographische Sektorisierung der Fürsorge für problematische Bevölkerungsschichten nach dem Zweiten Weltkrieg: anfangs sind dies mehr oder weniger improvisierte Reaktionen auf konkrete Situationen, die später zunehmend systematisiert werden.
Während einer zweiten Phase, die in Wahrheit sehr früh beginnt, treten diese Experten an die administrativen und politischen Gewalten heran, um um die amtliche Beglaubigung ihres Modells zu ersuchen. Esquirol schreibt seinen berühmten Bericht von 1819 über den Zustand der Irrenanstalten und die Reformen, die sie benötigen, an den Innenminister. In den Vereinigten Staaten der Nachkriegszeit bilden die modernisierenden Experten des National Institute of Mental Health und in Frankreich der fortschrittliche Flügel des psychiatrischen Berufsstandes der 1950er Jahre ihre jeweiligen Bündnisse mit der Administration der Demokraten und den fortschrittlichen Verwaltungs- beamten des Gesundheitsministeriums.
Nach einer Reihe des Kommens und Gehens, einem hin- und herpendelnden Verlauf, der durch wechselseitige Angleichungen und Kompromisse voranschreitet und sich über Jahre oder sogar Jahrzehnte erstrecken kann, wird letztendlich eine offizielle Entscheidung gefällt, die definitiv die neue Politik der geistigen Gesundheit etabliert. Dies geschieht mit dem französischen Gesetz von 1838 und dem ministeriellen Rundschreiben über die Sektorisierung von 1960 sowie mit dem amerikanischen Community Mental Health Centers and Retardation Act, der mit der vollen Autorität von Präsident Kennedy selbst unterstützt wird. Auf diesen administrativen und medizinischen Grundsätzen wird ein neues Modell für die Verwaltung von problematischen Bevölkerungsschichten ausgearbeitet. Die Fürsorge für Geisteskranke und die für andere abweichende Personen stellt kein Problem prinzipieller Art mehr dar; sie ist in ein in sich zusammenhängendes Programm der Administration eingeschrieben, das dasjenige konstituiert, was eine politische Maßnahme genannt wird.17
Es beginnt dann eine vierte Phase, die im allgemeinen durch die Desillusion der Experten gekennzeichnet ist. Es gibt Klagen über Verrat, Vorwürfe, daß ihre humanistischen Intentionen um bürokratischer oder sogar repressiver Belange willen entstellt worden seien. Sie prangern die administrative Sabotage, den fehlenden Willen der Ministerien und die Ablehnung der benötigten Mittel an. Die Experten neigen jedoch dazu, zu vergessen, daß ein Gesetz tatsächlich nicht entsprechend den Buchstaben angewendet zu werden braucht, um seine wesentliche Funktion zu erfüllen: die Schaffung von Voraussetzungen für die in sich stimmige Verwaltung eines heiklen Problems auf den administrativen, juristischen, institutionellen und finanziellen Ebenen seiner Bewältigung. Sie vergessen darüber hinaus, daß, selbst wenn sie im Stich gelassen und ihre Absichten entstellt worden sind, ihre Praxis ein wesentliches Element in der Konstruktion des Systems abgegeben hat.
Schematisch skizziert und in seiner politischen Dimension betrachtet, ist dieses die Struktur des Verhältnisses zwischen Praktizierenden und Verwaltungsbeamten bis heute gewesen. Einige jüngste Kritiken der Psychiatrie haben zweifellos das Problem verzerrt, indem sie die Experten für geistige Gesundheit als bloße Agenten der Staatsmacht ansahen. Es steht völlig außer Frage, daß diese Experten mit einem offiziellen Auftrag ausgestattet werden, aber dieser Auftrag wird auf der Grundlage einer Praxis ausgeübt, die selbst keine einfache Instrumentalisierung der politisch-administrativen Entscheidungen ist. Der Beweis dafür liegt darin, daß einige dieser Agenten in der Lage gewesen sind, ihre Macht zu gebrauchen, um ihrem Auftrag eine andere Richtung zu geben und eine Subversion der vorhergehenden rechtlichen Funktion zu bewirken, die aufgrund der Fortschritte, die sie in ihrer eigenen Praxis erzielen, bewerkstelligt wird. Der Beitrag der italienischen Bewegung für eine demokratische Psychiatrie hat genau so ein Beispiel geliefert, nämlich mit ihrer Aktion, die 1978 in der Verabschiedung des berühmten Gesetzes 18018 durch das italienische Parlament gipfelte und in dessen Geschichte, wie ich denke, man nicht allzu viele Schwierigkeiten haben wird, die vier oben charakterisierten Phasen zu erkennen.
Es besteht kein Zweifel, daß dieses komplexe, konfliktgeladene Verhältnis sich mit dem Aufkommen der neuen präventiven Technologien im Prozeß der Auflösung befindet. Die Administration erreicht eine nahezu völlige Autonomie, weil sie eine praktisch absolute Kontrolle über die neue Technologie besitzt. Der Tätige vor Ort wird nun zu einer einfachen Hilfskraft eines Managers, den er oder sie mit Informationen versorgt, die aus der oben beschriebenen Erstellung von diagnostischen Expertisen gewonnen werden. Diese Informationen werden dann gesammelt, bearbeitet und über Kanäle verteilt, die von denjenigen der Expertenpraxis vollkommen abgekoppelt sind und die insbesondere das Medium der computergestützten Datenverarbeitung nutzen.
Hier befindet sich der Ursprung eines grundlegenden Ungleichgewichts. Das Verhältnis, das unmittelbar die Tatsache, Wissen von einem Subjekt zu besitzen, mit der Möglichkeit verband, auf sie oder ihn (zum Guten oder zum Schlechten) einzuwirken, ist zerbrochen. Die Praktizierenden werden den Zielsetzungen der Verwaltungspolitik völlig untergeordnet. Sie kontrollieren nicht mehr die Verwendung der Daten, die sie produzieren. Der Manager wird zum eigentlichen "Entscheidungsträger". Der Manager hält alle Karten in der Hand und kontrolliert das Spiel. Neben anderen Konsequenzen bedeutet dies ein Ende der Möglichkeit von solchen Strategien des Kampfes, wie sie etwa in den letzten zwanzig Jahren durch fortschrittliche Beschäftigte im Gesundheitsbereich in Italien und, in einem geringeren Maße, anderswo entwickelt wurden.

Auf dem Weg in eine post-disziplinäre Ordnung?

Schließlich kann man sich fragen, ob diese Entwicklungen nicht eine Reihe von neuen Verwaltungsstrategien von einer Art einleiten, die typisch für "neoliberale" Gesellschaften ist. In diesen Gesellschaften erscheinen neue Formen der Kontrolle, die weder über Repression funktionieren noch über den Wohlfahrtsinterventionismus, der sich besonders während der 1960er Jahre entwickelte (auf dem Feld der Psychiatrie mit der Politik der Sektorisierung in Frankreich und den Community Mental Health Centers in den Vereinigten Staaten: kurz gesagt, bestand hier das Problem, durch den Einsatz eines einheitlichen Apparates, der mit der Staatsmaschinerie verknüpft war, das Maximum an Grundfläche abzudecken und die maximale Anzahl von Menschen zu erreichen.). Anstelle dieser alten Praktiken, oder eher Seite an Seite mit ihnen, sind wir Zeuge der Entwicklung von andersartigen Behandlungsweisen der Bevölkerung, die darauf abzielen, die Gewinne zu maximieren, indem man forciert, was profitabel ist, und darauf, das Nicht-Profitable an den Rand zu drängen. Statt unerwünschte Elemente aus dem sozialen Körper abzusondern und zu beseitigen oder sie mehr oder weniger gewaltsam durch korrigierende oder therapeutische Interventionen zu reintegrieren, besteht die in Erscheinung tretende Tendenz darin, den Individuen in Einklang mit ihren unterschiedlichen Fähigkeiten, entsprechend den Erfordernissen der Wettbewerbsfähigkeit und der Profitabilität zu leben, verschiedene soziale Schicksale zuzuweisen. Bis an ihr Ende getrieben, bringt sie das Modell einer "dualen" oder einer Gesellschaft der "zwei Geschwindigkeiten" hervor, die kürzlich von einigen französischen Ideologen angeregt wurde: die Koexistenz von hyper-konkurrenzfähigen Bereichen, die den härtesten Erfordernissen der ökonomischen Rationalität genügen, mit marginalen Aktivitäten, die eine Zuflucht (oder eine Deponie) für diejenigen bereitstellen, die nicht in der Lage sind, an den Kreisläufen des intensiven Austausches teilzunehmen. In gewisser Hinsicht existiert diese "duale" Gesellschaft bereits in Gestalt von Arbeitslosigkeit, marginalisierter Jugend und der nicht-offiziellen Ökonomie. Aber bis heute sind diese Prozesse der Disqualifizierung und Reklassifizierung in einer planlosen Art und Weise vorangeschritten. Sie sind unkontrollierte Auswirkungen der ökonomischen Konkurrenzmechanismen, der Unterbeschäftigung, der Anpassung oder Nicht-Anpassung an neue Jobs, des Nicht-Funktionierens des Erziehungssystems usw. gewesen. Die Versuche, die unternommen wurden, um diese Prozesse neu zu programmieren, gelten eher der Infrastruktur als den Menschen: industrielle Konzentration, neue Bereiche der Investition, Schließung von nicht-konkurrenzfähigen Unternehmen usw. - und überlassen es den Belegschaften, sich so gut wie möglich, was oft nicht besonders gut bedeutet, diesen "objektiven" Notwendigkeiten anzupassen.
Man muß jedoch fragen, ob es in Zukunft nicht technisch durchführbar sein könnte, Bevölkerungen selbst aufgrund einer Einschätzung ihrer Leistungen und vor allem ihrer möglichen Mängel zu programmieren. Dies wurde bereits an den Behinderten durchgeführt, die auf bestimmte Laufbahnen in der sogenannten beschützten Beschäftigung gelenkt wurden. Aber genau dasselbe könnte zum Beispiel mit den außergewöhnlich Begabten vollzogen werden, die eben nur Leidende an einem Handicap des Überschusses sind und die geführt oder "behandelt" werden könnten, um sie auf Karrieren in sozialen Funktionen vorzubereiten, die stark entwickelte oder besondere Fähigkeiten verlangen. In einem allgemeineren Sinne würde es so möglich sein, jeden Typ von Differenz absolut zu objektivieren, wobei auf der Grundlage einer derartigen, auf Faktoren basierten Bestimmung ein differentielles Bevölkerungsprofil festgelegt werden kann. Das ist dank des Computers technisch möglich. Der Rest - das heißt, der Akt der Zuweisung eines bestimmten Schicksals zu gewissen, auf diese Weise bestimmten Kategorien - ist eine Frage des politischen Willens.
Die Tatsache, daß es bisher noch keinen politisch skandalösen, aus diesen Möglichkeiten resultierenden Gebrauch gab, reicht nicht aus, um einen völligen Seelenfrieden zuzulassen. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen bewirkt für die Mehrheit der Industrieländer, unter denen die Vereinigten Staaten unter Reagan einen extremen Fall darstellen, die Krise des keynesianischen Staates nicht nur einen Stillstand, sondern einen Abbau der Wohlfahrtspolitik, deren Wachstum bis vor ein paar Jahren in den Lauf der Geschichte eingeschrieben zu sein schien. In den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern ist es folglich ungemein schwierig geworden, als Antwort auf die Nachteile der ökonomischen Entwicklung und der politischen Organisation der Gesellschaft eine verallgemeinerte Wohlfahrt zu fördern; aber dies bedeutet nicht, daß man zum laissez-faire zurückkehrt.
Unter diesen Umständen könnten die interventionistischen Technologien, die es möglich machen, die Individuen zu führen und zuzuweisen, ohne ihre Verwahrung voraussetzen zu müssen, durchaus unter Beweis stellen, daß sie ein entscheidendes Mittel darstellen. Die traditionelle Sozialpolitik hat stets dasjenige, was als eine gewisse Natürlichkeit des Sozialen bezeichnet werden könnte, respektiert, auch wenn sie es mit Argwohn betrachtet hat: Individuen sind innerhalb von Gebieten verankert, sie gehören zu bestimmten Gruppen, sie haben affektive Bindungen, ererbte Traditionen und Wurzeln. Die Sozialpolitik hat bis heute, in ihrer Natur gelegentlich repressiv, aber zunehmend immer stärker an der Wohlfahrt ausgerichtet, dieses primäre soziale Material bearbeitet, die ungezähmten Energien kanalisiert, den Wildwuchs beschnitten, hier und da gejätet und gelegentlich verpflanzt. Aber all diese Maßnahmen, in ihrer Funktion eher korrigierend und wiederherstellend als präventiv, teilten eine Vorstellung von den Individuen als solchen, denen irgendein Platz innerhalb der Geographie des Sozialen im vornhinein zugewiesen ist.
Die Erstellung von Bevölkerungsprofilen aus einer Kombination von Eigenschaften, deren Erhebung von einer epidemiologischen Methode abhängig ist, legt im Gegenteil ein völlig anderes Bild des Sozialen nahe: das eines homogenisierten Raumes, der sich aus im voraus geplanten Verschaltungen zusammensetzt, denen zu folgen die Individuen, gemäß ihrer Fähigkeiten, aufgefordert oder ermutigt werden. (Anstatt ein unerforschtes oder rebellisches Territorium zu bleiben, kann auf diese Weise die Marginalität selbst ein organisierter Bereich innerhalb des Sozialen werden, in den derartige Personen gelenkt werden, die nicht in der Lage sind, wettbewerbsorientierteren Wegen zu folgen.)
Eher die Projektion einer Ordnung als ein Aufzwingen von Ordnung, ist diese Art des Denkens nicht mehr von der Disziplin besessen, sie ist besessen von der Effizienz. Ihre Hauptfigur ist nicht mehr der Praktizierende vor Ort, der interveniert, um eine Lücke zu schließen oder eine am Erscheinen zu hindern, sondern der Verwaltungsbeamte, der Laufbahnen ausarbeitet und zusieht, daß die menschlichen Profile zu ihnen passen. Das äußerste Bild wäre hier eines von einem System der Prävention, das dank seiner Fähigkeit zur Vorausplanung sozialer Laufbahnen aufgrund einer "wissenschaftlichen" Bewertung der individuellen Vermögen exakt genug ist, sowohl auf Repression als auch auf Fürsorge zu verzichten. Dies ist natürlich nur eine äußerste Möglichkeit, eine, die man einen Mythos nennen könnte, aber es ist ein Mythos, dessen Logik bereits bei den neuesten Entscheidungen, die im Namen der Prävention von Risiken getroffen werden, im Gang ist.

 
 
Anmerkungen

*Dieser Beitrag wurde entnommen aus: Burchell, Graham, Colin Gordon und Peter Miller (1991): The Foucault Effect. Studies in Governmentality, Chicago UP, S.281-298.
1Eine systematischere Erklärung dieser neuen Problematik habe ich versucht in: Castel, Robert (1981): La Gestion des risques, Paris; besonders Kapitel 3: La gestion prévisionnelle.
2Constant, Lunier und Dumesnil (1878): Rapport général à Monsieur le Ministre de l'Intérieur sur le service des alienes en 1874, Paris, S.67.
3Lunier, L. (1848): Revue medicale des journaux judiciaires, in: Annales medico-psychologiques, Band VIII, S.259. Die Annales hatten eine regelmäßige Rubrik für diese Themen, begleitet von "Überlegungen", die auf einmal das Unbehagen des Psychiaters, der dieser Situation ausgesetzt ist, und das Bedürfnis nach präventiver Wachsamkeit unterstreichen.
4Seriex, P. & L. Libert (1912): Les lettres de cachet 'prisonniers de famille' et 'placements volontaires', Ghent, S.12.
5Vgl. Morels Brief an den Präfekten des Départements Seine-Inférieur, um seine Hilfe zu erbitten, um "in das Innere der Familien einzudringen, einen genauen Blick auf die Lebensweisen der Bewohner einer Örtlichkeit zu werfen und sich mit ihrer körperlichen und moralischen Hygiene vertraut zu machen." "Dies ist", sagt er (und man kann diesen Punkt verstehen), "eine heikle Mission, die nur angemessen mit der Unterstützung der Amtsgewalt durchgeführt werden kann. Ich glaube nicht, daß man sonst bei der Errichtung der Statistik dieses dichtbevölkerten Départements und folglich bei der Versorgung der öffentlichen Gewalten mit nützlichen Dokumenten über die Ursachen des Anwachsens des Wahnsinns und über die geeignetsten prophylaktischen und hygienischen Mittel, um ein so schwerwiegendes Gebrechen zu verhindern, Erfolg haben kann." (Brief, erneut abgedruckt in: Le neo-restraint, Paris, 1857, S.103).
6Morel, B. (1857): Traité des dégénérescences physiques, intellectuelles et morales de l'espèce humaine, Paris, S.691.
7Macdonald, Carlos F. (1914): Presidential Address, in : American Journal of Insanity, July, S.9.
8Zum Beispiel das 1923 in Missouri erlassene Gesetz.
9Dr. Binet-Sangle (1918): Le Haras humain, Paris, S.142.
10Caplan, Gerald (1960) : Principles of Preventive Psychiatry, Boston.
11ebd., S.59.
12 Schon 1969 ersuchte in den Vereinigten Staaten Präsident Nixon eine Stellungnahme vom Minister für Gesundheit, Erziehung und Wohlfahrt zu einem Bericht, den er bestellt hatte und der vorschlug, daß "die Regierung an allen sechs bis acht Jahre alten Kindern eine Massenuntersuchung durchführen sollte ..., um (solche) zu ermitteln, die gewalttätige oder gemeingefährliche Tendenzen aufweisen." Subjekte mit "straffälligen Tendenzen" hätten sich einer "korrigierenden Behandlung" zu unterziehen, die von einer psychologischen Beratung und dem Besuch eines Tageszentrums der Fürsorge bis hin zu einer zwingenden Einweisung in besondere Lager reichten. Der Minister ließ durch den Direktor des Nationalen Instituts für geistige Gesundheit antworten, daß die benötigten Ermittlungstechnologien nicht ausreichend genug entwickelt seien, um zuverlässige Ergebnisse hervorzubringen (zitiert in: Schrag, Peter & Diane Divosky (1981): The Myth of the Hyperactive Child, Harmondsworth). Wenn heutzutage in den Vereinigten Staaten systematische Untersuchungen durchgeführt werden, werden sie auf begrenzte Gruppen angewendet, die als solche wahrgenommen werden, die bestimmte Risiken in sich tragen. Es scheint, daß sich die "fortschrittliche" Position Frankreichs in diesen Dingen aus der zentralisierten Struktur der Macht ergibt, die die geplante nationale Durchführung von administrativen Entscheidungen sofort ermöglicht. Ich sollte hinzufügen, daß im Juni 1981 (das Datum ist nicht zufällig; es fällt in die Zeit des Monats nach dem Wechsel der Präsidenten-Mehrheit in Frankreich) eine Regierungskommission über "Computerisierung und Freiheiten" ein feindseliges Urteil über das GAMIN-System abgab. Aber ihre Verurteilung bezog sich lediglich auf die Bedrohung der individuellen Freiheiten, die durch den Bruch der Vertraulichkeit innerhalb der Abläufe des Systems hervorgerufen wird, und nicht auf den technologischen Apparat selbst.
13 Vgl. Foucault, Michel (1976): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/Main; insbesondere Kap. III,3.
14 Über die Vermeidung von Erdbebenfolgen an der Cote d'Azur wurde kürzlich eine Konferenz abgehalten, auf der eine ernsthafte Entrüstung darüber zum Ausdruck gebracht wurde, daß diesem Problem noch nicht die Aufmerksamkeit zuteil geworden ist, die es verdient. Man kann hier sehen, wie die Inszenierung (mise en scène) eines "Risikos", das letzten Endes vielleicht vollkommen real, aber in seinen Wirkungen völlig zufällig, in seinem Auftreten unvorhersehbar und im Ursprung unkontrollierbar ist, eine Maschinerie in Gang setzen kann, die ihrerseits eine vollkommen reale Existenz haben kann, die die Bildung einer Expertentruppe hervorruft, die Normen und Kosten des Bauwesens verändert, die Touristenströme beeinflußt usw. Nicht zu sprechen von der Kultur der Angst, oder zumindest der Besorgnis, die dieser Zustand des endlosen Aufwühlens von Risikoarten im Namen einer mythologischen Repräsentation der absoluten Sicherheit bewirkt. Aber es ist wahr, daß eine Kultur der Besorgnis einen sich erweiternden Markt für Heilmittel gegen die Besorgnis absondert, so wie die Kultivierung der Unsicherheit eine starke Sicherheitspolitik rechtfertigt.
15 Das Gesetz "zugunsten der behinderten Personen" vom 30. Juni 1975 richtet neue Ausschüsse auf Départementebene ein, einen für Kinder und einen für Erwachsene, die alle Fälle behandeln, in denen jemand eine finanzielle Unterstützung und/oder eine Unterbringung in einer spezialisierten Einrichtung sucht oder dies für jemanden gesucht wird. Diese Ausschüsse arbeiten an Dossiers, die durch untergeordnete Fachausschüsse erstellt werden. Vertreter der verschiedenen administrativen Instanzen haben die Mehrheit in den Départementausschüssen, während die Experten die Mehrheit in den Fachausschüssen besitzen. Die Départementausschüsse haben die Entscheidungsgewalt in Fragen, die die Behinderung betreffen. Wie die damalige Gesundheitsministerin, Simone Veil, es während der Debatte über das Gesetz im Senat ausdrückte: "In Zukunft werden diejenigen Personen als behindert betrachtet, die als solche durch die Départementausschüsse anerkannt werden, wie es Artikel 4 der Gesetzesvorlage für Minderjährige und Artikel 11 für Erwachsene vorschlägt." (zitiert in: Journal Officiel, 4. April 1975).
16 In "Die psychiatrische Ordnung. Das goldene Zeitalter des Irrenwesens" (dt.: 1979) habe ich dies für das Gesetz von 1838 und für die Politik der Sektorisierung in Frankreich und in "Psychiatrisierung des Alltags. Produktion und Vermarktung der Psychowaren in den USA" (dt.: 1982), das ich zusammen mit Françoise Castel und Ann Lovell geschrieben habe, für den American Community Mental Health and Retardation Act von 1963 zu zeigen versucht.
17 Das Gesetz von 1838 beseitigte zum Beispiel den Widerspruch zwischen der Unmöglichkeit der gerichtlichen Einweisung der als gefährlich angesehenen geisteskranken Personen, da sie strafrechtlich nicht verantwortlich waren, und der Notwendigkeit, genau dieses zu tun, um die öffentliche Ordnung zu schützen. Die neue medizinische Legitimität, die unter dem Titel der "therapeutischen Isolation" bereitgestellt wurde, ließ eine Einsperrung zu, die ebenso rigoros wie die Inhaftierung war, aber nunmehr durch einen therapeutischen Zweck gerechtfertigt war. Die geisteskranke Person wird mit einem zivilen und legalen Status ausgestattet, ihm oder ihr wird ein Platz in einer "speziellen Einrichtung" zugewiesen und auch die finanziellen Details seiner oder ihrer Verwahrung werden im Rahmen des Gesetzes festgelegt. Jedoch wurde dieser vollständige Apparat, der nun eine rationale Verwaltung des Wahnsinns ermöglicht, durch Umgestaltungen der klinischen Praxis möglich gemacht, die sich über mehr als dreißig Jahre hinweg erstrecken, beginnend mit Pinel in Bicêtre, später an der Salpêtrière, und danach lawinenartig anwachsend.
18 Das Gesetz 180 sieht neben anderen Dingen die Schließung der existierenden psychiatrischen Kliniken vor, verbietet den Bau von neuen und macht zur Auflage, daß die akuten psychiatrischen Fälle in kleinen Fürsorge-Einheiten, die in die allgemeinmedizinischen Kliniken integriert sind, behandelt werden müssen.
 
 
Aus dem Englischen von Michael Heister & Richard Schwarz

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Der Übersetzung lag folgender Text zugrunde:
Robert Castel (1991): "From Dangerousness to Risk", in: Burchell, Graham, Colin Gordon und Peter Miller (1991): The Foucault Effect. Studies in Governmentality, Chicago UP, S.281-298.
© by Robert Castel, 1991.
Wir danken dem Autor für die Genehmigung der Übersetzung.