Der unterirdische Strom des Materialismus der Begegnung

von Louis Althusser

Es regnet.

Daher soll dieses Buch zunächst ein Buch über den einfachen Regen sein.

Malebranche fragte sich, "warum regnet es auf das Meer, die großen Wege und auf Sand", da doch dieses Wasser des Himmels, das anderswo Kulturland bewässert (was sehr gut ist), dem Wasser des Meeres nichts hinzufügt und sich auf den Wegen und im Sand verläuft.

Es wird nicht um diesen – schicksalhaften oder nichtschicksalhaften – Regen gehen.1

Dieses Buch bezieht sich ganz im Gegenteil auf einen anderen Regen, auf ein tiefgründiges Thema, das sich quer durch die ganze Philosophiegeschichte zieht und das bekämpft und verdrängt wurde, sobald es ausgesprochen war: Epikurs "Regen" (Lukrez) der Atome, die parallel ins Leere fallen, der "Regen" des Parallelismus der unendlichen Attribute bei Spinoza und noch viele andere, Machiavelli, Hobbes, Rousseau, Marx, sowie Heidegger und Derrida.

Dies ist der erste Punkt, den ich, um gleich zu Beginn meine Hauptthese offenzulegen, klar herausstellen möchte: Die Existenz einer beinahe völlig verkannten materialistischen Tradition in der Philosophiegeschichte: Der "Materialismus" (er muß mit einem Wort in seiner Ausprägung bestimmt werden) des Regens, der Abweichung2, der Begegnung und des Greifens. Ich werde alle diese Begriffe näher erläutern. Um die Sache zu vereinfachen, nennen wir ihn vorerst einmal: Materialismus der Begegnung, also des Aleatorischen und der Kontingenz, der sich als ein ganz anderes Denken den verschiedenen erfaßten Materialismen entgegenstellt, darunter dem geläufigerweise Marx, Engels und Lenin zugeschriebenen Materialismus, der – wie jeder Materialismus aus der Tradition des Rationalismus – ein Materialismus der Notwendigkeit und der Teleologie, das heißt soviel wie eine umgewandelte und verdeckte Form des Idealismus ist.

Daß dieser Materialismus der Begegnung von der philosophischen Tradition verdrängt wurde, heißt nicht, daß sie ihn nicht beachtet hätte: Er war zu gefährlich. Daher wurde er auch sehr bald interpretiert, verdrängt und umgedreht in einen Idealismus der Freiheit. Wenn Epikurs Atome, die in einem parallelen Regen ins Leere fallen, sich begegnen, dann um in der Abweichung, die vom clinamen3 herbeigeführt wird, die Existenz der menschlichen Freiheit selbst in der Welt der Notwendigkeit wiedererkennen zu lassen. Es genügt offensichtlich, diese eigennützige Fehldeutung zu erbringen, um jede ganz andere Interpretation dieser verdrängten Tradition, die ich den Materialismus der Begegnung nenne, abzuwürgen. Von dieser Fehldeutung ausgehend setzen sich die idealistischen Interpretationen durch, denen es nicht mehr um das bloße clinamen geht, sondern um den ganzen Lukrez, den ganzen Machiavelli, Spinoza, Hobbes, um den Rousseau des zweiten Discours, um Marx und um Heidegger selbst, soweit er dieses Thema berührt hat. In diesen Interpretationen setzt sich ein bestimmter Begriff von Philosophie und Philosophiegeschichte durch, den man mit Heidegger als abendländisch charakterisieren kann, denn er bestimmt seit den Griechen unser Geschick, und als logozentrisch, denn er setzt die Philosophie mit einer Funktion des Logos gleich, die damit beauftragt ist, die Vorgängigkeit des Sinns vor aller Realität zu denken.

Diesen Materialismus der Begegnung aus seiner Verdrängung zu befreien, wenn möglich herauszufinden, was er sowohl über die Philosophie als auch über den Materialismus mit einschließt, die versteckten Wirkungen da wiederzuerkennen, wo sie stumm wirken, das ist die Aufgabe, der ich mich stellen möchte.

Epikur und Heidegger

Man kann von einem Vergleich ausgehen, der überraschen wird: dem von Epikur und Heidegger.

Epikur erklärt uns, daß vor der Entstehung der Welt eine Unzahl an Atomen parallel ins Leere fiel. Sie fallen immer noch. Das impliziert, daß vor der Welt nichts war, und gleichzeitig, daß alle Elemente der Welt schon immer da waren, bevor noch irgendeine Welt war. Das impliziert auch, daß vor der Entstehung der Welt kein Sinn existierte, weder Grund noch Zweck, weder Vernunft noch Unvernunft. Die Nicht-Vorgängigkeit des Sinns ist eine fundamentale These Epikurs, mit der er sich Plato genauso wie Aristoteles entgegenstellt. Das clinamen taucht auf. Ich überlasse Spezialisten die Wissensfrage, wer den Begriff eingeführt hat, den man bei Lukrez findet, der aber in den Fragmenten des Epikur fehlt. Die Tatsache, daß man ihn "eingeführt" hat, läßt vermuten, daß sein Begriff unentbehrlich war für die "Logik" von Epikurs Thesen. Das clinamen ist eine infinitesimale4 Abweichung, "so klein als möglich", die, "man weiß nicht wo, noch wann, noch wie" stattfindet, und die veranlaßt, daß ein Atom von seinem senkrechten Fall ins Leere abweicht, und die, indem sie den Parallelismus an einem Punkt auf kaum merkliche Weise unterbricht, eine Begegnung mit dem benachbarten Atom verursacht und von einer Begegnung zur nächsten eine Karambolage, und die Entstehung einer Welt, das heißt des Aggregats von Atomen, die von der ersten Abweichung und der ersten Begegnung in einer Kettenreaktion hervorgerufen wird.

Daß der Ursprung jeder Welt, also aller Realität und allen Sinns auf eine Abweichung zurückzuführen sei, daß die Abweichung und nicht die Vernunft oder die Ursache der Ursprung der Welt ist, gibt eine Vorstellung von der Kühnheit der These Epikurs. Welche Philosophie hat folglich, in der Geschichte der Philosophie, die These wieder aufgenommen, daß die Abweichung ursprünglich sei und nicht abgeleitet? Man muß noch weiter gehen. Damit die Abweichung Anlaß gibt zu einer Begegnung, aus der eine Welt hervorgeht, ist es notwendig, daß sie andauert, daß es keine "kurze Begegnung" ist, sondern eine dauerhafte Begegnung, die dann die Basis aller Realität, aller Notwendigkeit, allen Sinns und aller Vernunft wird. Aber die Begegnung kann auch nicht andauern und dann gibt es keine Welt. Hinzu kommt, daß man sieht, daß die Begegnung nicht die Realität der Welt begründet, die nichts ist als agglomerierte Atome, sondern daß sie den Atomen selbst ihre Realität gibt, die sonst nichts als abstrakte Elemente wären, ohne Beschaffenheit, ohne Existenz. Derart kann man behaupten, daß die eigene Existenz den Atomen nur durch die Abweichung und die Begegnung zukommt, vor der sie nur ein schemenhaftes Dasein führten.

Man kann dies alles mit anderen Worten sagen. Die Welt kann die vollendete Tatsache, fait accompli, genannt werden, in der sich, sobald die Tatsache einmal vollendet ist, die Herrschaft der Vernunft, des Sinns, der Notwendigkeit und des Zwecks errichtet. Aber diese Vollendung der Tatsache ist nichts als der reine Effekt der Kontingenz, da sie ja von der aleatorischen Begegnung der Atome abhängt, die auf die Abweichung des clinamen zurückzuführen ist. Vor der Vollendung der Tatsache, vor der Welt, gibt es nur die Nicht-Vollendung der Tatsache, die Nicht-Welt, die nur die irreale Existenz der Atome ist.

Was wird unter diesen Umständen aus der Philosophie? Sie ist nicht mehr Ausdruck der Vernunft und des Ursprungs der Dinge, sondern Theorie ihrer Kontingenz und Anerkennung der Tatsache, der Tatsache der Kontingenz, der Tatsache der Unterwerfung der Notwendigkeit unter die Kontingenz und der Tatsache der Formen, die den Effekten der Begegnung "Gestalt verleihen". Sie ist nur mehr Feststellung: es hat ein Zusammentreffen gegeben, und die einen Elemente haben die anderen "ergriffen" (so wie man sagt, das Eis ergreife Besitz von einem)5. Jede Frage nach dem Ursprung wird verworfen, wie alle großen Fragen der Philosophie: "Warum ist etwas eher als nichts? Was ist der Ursprung der Welt? Was ist die Existenzberechtigung der Welt? Was ist die Stellung des Menschen im Weltganzen? etc." Ich wiederhole: Welche Philosophie in der Geschichte hatte die Kühnheit, solche Thesen wieder aufzunehmen?

Ich sprach von Heidegger. Ausgerechnet bei ihm, der ganz offensichtlich weder Epikureer noch Atomist ist, findet man einen analogen Gedankengang. Daß er jede Frage nach dem Ursprung, jede Frage nach Grund und Zweck der Welt zurückweist, weiß man. Aber es gibt bei ihm eine ganze Reihe von Ausführungen rund um den Ausdruck "es gibt"*, "da ist", "das ist so gegeben", die mit Epikurs Idee übereinstimmen. "Es gibt die Welt, die Materie, die Menschen...". Eine Philosophie des "es gibt"*, des "das ist so gegeben", rechnet mit all den klassischen Fragen nach dem Ursprung, etc. ab. Und sie "eröffnet" eine Sichtweise, die eine Art transzendentaler Kontingenz der Welt, in die wir "geworfen" sind, wiederherstellt, eine Kontingenz des Sinns der Welt, der auf die Entfaltung des Seins verweist, auf den ursprünglichen Trieb des Seins, auf seine "Sendung", über die hinaus es nichts zu suchen noch zu denken gibt. Die Welt ist uns also eine "Gabe", eine "wahrhaftige Tatsache", die wir uns nicht ausgesucht haben und die sich vor uns in der Faktizität ihrer Kontingenz "öffnet", und sogar über diese Faktizität hinaus in dem, was nicht bloß eine Feststellung ist, sondern ein "In-der-Welt-Sein", das jeden möglichen Sinn beherrscht. "Das Dasein ist der Hüter des Seins." Hier hängt alles vom "da" ab. Was bleibt der Philosophie? Noch einmal, aber in der transzendentalen Weise: es bleibt die Feststellung "es gibt"* und ihre Voraussetzungen oder vielmehr ihre Effekte in ihrer unüberwindlichen "Gegebenheit".

Ist das noch Materialismus? Die Frage hat nicht viel Sinn bei Heidegger, der bewußt eine Position außerhalb der großen Einteilungen und Bezeichnungen der abendländischen Philosophie einnimmt. Aber sind Epikurs Thesen noch materialistisch? Vielleicht ja, ohne Zweifel, aber unter der Bedingung, mit einer Auffassung von Materialismus abzuschließen, die ihn auf der Grundlage gemeinsamer Fragen und Begriffe zur Antwort auf den Idealismus macht. Wenn wir nun weiterhin über den Materialismus der Begegnung sprechen werden, geschieht das aus praktischen Gründen: man muß eben wissen, daß Heidegger hier hinein gehört und daß sich dieser Materialismus der Begegnung allen klassischen Kriterien des Materialismus entzieht und daß man eben ein Wort braucht, um die Sache zu bezeichnen.

Machiavelli

Machiavelli wird unser zweite Zeuge in der Geschichte dieser unterirdischen Tradition des Materialismus der Begegnung sein. Man kennt sein Projekt: unter den unmöglichen Umständen des Italien des 16. Jahrhunderts die Voraussetzungen der Gründung eines italienischen Nationalstaates zu denken. Alle Umstände wären günstig, um Frankreich oder Spanien nachzuahmen, aber sie sind ohne Zusammenhang untereinander: ein uneiniges Volk, aber leidenschaftlich, die Zerstückelung Italiens in kleine, veraltete und von der Geschichte verdammte Staaten, die sich ausbreitende, aber unorganisierte Empörung einer ganzen Welt gegen die Okkupation und die Plünderung durch die Fremden und eine latente tiefe Sehnsucht des Volkes nach Einheit, von der alle großen Werke dieser Zeit zeugen, eingeschlossen jenes von Dante, der nichts davon verstand, aber darauf wartete, daß der "große Windhund" kommt. Alles in allem ein zersplittertes Land, in dem jedes Atom in freiem Fall fällt, ohne seinem Nachbarn zu begegnen. Man muß die Bedingungen für eine Abweichung schaffen und folglich für eine Begegnung, damit die italienische Einheit "greift". Wie macht man das? Machiavelli glaubt nicht, daß irgendein existierender Staat, vor allem nicht die Kirchenstaaten, die schlimmsten überhaupt, die Rolle der Vereinigung spielen könnten. In Der Fürst führt er einen nach dem anderen an, aber nur, um sie abzulehnen, wie so viele dekadente Stücke der vorangegangenen feudalen Produktionsweise, einschließlich der Republiken, die deren Alibi und Gefangene sind. Und er stellt die Probleme in ihrer ganzen Härte und Blöße dar. Da nun einmal alle Staaten und Fürsten, folglich alle Orte und Menschen verworfen sind, kommt er, unterstützt durch das Beispiel Cesare Borgias, zu der Auffassung, daß die Einheit zustande gebracht werden wird, wenn sich ein namenloser Mann findet, der Glück und Fähigkeit genug hat, um sich in irgendeinem Teil, in einem namenlosen Winkel Italiens niederzulassen, und der von diesem atomaren Punkt aus die Italiener nach und nach um sich herum im großen Projekt eines Nationalstaates vereint. Das ist eine völlig aleatorische Überlegung, die den Namen des Einheitsstifters, sowie den Namen der Region, von der aus sich dieses Bündnis bildet, politisch unbefleckt läßt. Die Würfel sind also schon auf das Spielbrett gefallen, das selbst leer ist (aber bevölkert von bedeutenden Menschen).

Damit diese Begegnung eines Menschen und einer Region "greift", muß sie stattfinden. Im politischen Bewußtsein der Machtlosigkeit existierender Staaten und Fürsten äußert sich Machiavelli nicht über diesen Fürsten und diesen Ort. Täuschen wir uns nicht. Diese Stille ist eine politische Bedingung der Begegnung. Machiavelli wünscht nur, daß im atomisierten Italien die Begegnung stattfindet, und dieser Cesare, der von nichts ausgehend aus der Romagne ein Königreich machte und der, nachdem er Florenz erobert hatte, den ganzen Norden vereinigt hätte, wenn er nicht im entscheidenden Moment in den Sümpfen von Ravenna krank geworden wäre, als er wider Julius II. nach Rom ging, um ihn abzusetzen, ließ ihm offensichtlich keine Ruhe. Ein Mann, der nichts ist, der aus dem Nichts kommt, ausgehend von einem nicht zuordenbaren Ort, das sind für ihn die Bedingungen der Erneuerung.

Aber damit diese Begegnung stattfinden kann, bedarf es einer anderen Begegnung: jener der "fortuna" mit "virtù" im Principe. Wenn der Fürst die "fortuna" trifft, muß er die Tugend besitzen, sie wie eine Dame zu behandeln, sie zu empfangen, um sie zu verführen oder ihr Gewalt anzutun, kurzum sie dazu benützen, seinem Schicksal zum Durchbruch zu verhelfen. Aufgrund dieser Betrachtungsweise verdanken wir Machiavelli eine gesamte philosophische Theorie der Begegnung von "fortuna" und "virtù" . Diese Begegnung kann entweder stattfinden, oder auch nicht. Man kann sich auch verfehlen. Die Begegnung kann kurz oder von langer Dauer sein: er bedarf einer Begegnung, die andauert. Daher muß der Fürst lernen, sein Schicksal zu lenken (fortuna), indem er seine Männer lenkt. Er muß seinen Staat strukturieren, indem er aus seinen Männern Gefolgsleute macht und vor allem, indem er ihnen bindende Gesetze vorschreibt. Er muß sie für sich gewinnen, indem er ihnen entgegenkommt, ihnen gegenüber aber eine gewisse Distanz einzuhalten weiß. Diese doppelte Vorgangsweise gibt sowohl der Theorie der Verführung als auch jener der Furcht recht, ebenso auch der Theorie des Täuschens. Ich übergehe die Zurückweisung der Demagogie der Liebe, die Furcht, die der Liebe vorzuziehen sein soll, und die furchterregenden Methoden, die Angst einflößen sollen, um direkt zur Theorie des Täuschens zu kommen.

Muß der Fürst gut oder böse sein? Er muß lernen, böse zu sein, aber unter allen Umständen muß er verstehen, gut zu erscheinen, er muß jene moralischen Tugenden zu besitzen scheinen, mit denen er das Volk für sich gewinnen kann, auch wenn sie ihm den Haß der Stände (des Adels) einbringen, die er verachtet, denn von ihnen kann man nichts anderes erwarten. Man kennt die Theorie Machiavellis: daß der Fürst sei "wie der Zentaur in der Antike, Mensch und Bestie". Aber man hat nicht genug betont, daß sich in ihm (dem Fürsten) die Bestie verdoppelt, aus ihr wird sowohl Löwe als auch Fuchs. Im Endeffekt ist es der Fuchs, der alles regiert. Denn es ist der Fuchs (in ihm), der ihm aufzwingt, einmal böse und einmal gut zu erscheinen, sich ein populäres (ideologisches) Bild zu verschaffen, das seinen Interessen entspricht und den Interessen der "Kleinen" (des kleinen Mannes), oder auch nicht. In der Weise, daß der Fürst in seinem Inneren von den Variationen jener anderen aleatorischen Begegnung dirigiert wird: jener des Fuchses auf der einen Seite mit dem Löwen und dem Mann auf der anderen Seite. Diese Begegnung muß nicht stattfinden, aber sie kann auch stattfinden. Sie muß auch von Dauer sein, damit das Bild (die Figur) des Fürsten im Volk "greift", damit es Gestalt annehmen kann, damit er sich institutionell die Ehrfurcht als Guter zuziehe, und letztlich, wenn es möglich ist, dies auch ist. Aber unter der absoluten Bedingung, daß er niemals vergißt, böse zu sein, wenn es sein muß.

Man wird sagen, daß es sich hierbei nur um eine politische Philosophie handelt, ohne zu sehen, daß eine Philosophie hier gleichzeitig am Werk ist. Eine eigentümliche Philosophie, die ein "Materialismus der Begegnung" ist, durch die Politik hindurch gedacht, und die als solche nichts vorgängig Festgelegtes annimmt. Es ist genau in diesem politischen Vakuum, wo diese Begegnung stattfinden muß, und wo die nationale Einheit greifen muß. Aber dieses politische Vakuum ist zuerst ein philosophisches. Man findet dort keine Ursache, die ihren Effekten vorangeht, kein moralisches oder theologisches Prinzip (wie in der gesamten Überlieferung der aristotelischen Politik: die guten und die schlechten Regimes, der Verfall der guten in schlechte). Man denkt dort nicht in der Notwendigkeit des "fait accompli", sondern in der Kontingenz der zu vollziehenden Handlung. Wie in der epikureischen Welt sind alle Elemente hier und jenseits, bereit zum Regnen (siehe weiter oben: die italienische Situation), aber sie existieren nicht, sie sind nur abstrakt, solange die Einheit einer Welt sie nicht vereint hat in der Begegnung, die ihre Existenz ausmachen wird.

Man mag bemerkt haben, daß in dieser Philosophie die Alternative regiert: Die Begegnung kann genauso gut nicht stattfinden, wie sie stattfinden kann. Nichts entscheidet, kein Prinzip der Entscheidung entscheidet im Vorfeld dieser Alternative, die der Ordnung des Würfelspiels angehört. "Niemals kann ein Würfelwurf den Zufall abschaffen." Ach ja! Niemals kann eine gelungene Begegnung, die nicht von kurzer Dauer ist, sondern andauert, garantieren, daß sie auch morgen noch Bestand haben wird, anstatt sich wieder aufzulösen. Genauso wie die Begegnung auch nicht hätte stattfinden können, kann sie auch nicht mehr stattfinden: "fortuna passiert und variiert", bezeugt Cesare Borgia, dem alles gelingt bis zu den berühmten Tagen des Fiebers. Anders gesagt: Nichts kann jemals garantieren, daß die Realität des fait accompli zugleich die Garantie seiner Fortdauer sei. Ganz im Gegenteil: Jedes fait accompli, selbst ein gewähltes, und alles, was sich daraus an Notwendigkeit und Vernunft ableiten läßt, ist nur eine "provisorische" Begegnung, denn jede solche Begegnung bleibt provisorisch, sogar wenn sie andauert, es gibt keine Ewigkeit in den "Gesetzen" keiner Welt und keines Staates. Die Geschichte ist dort nur die permanente Widerrufung des fait accompli durch eine andere, nicht auszumachende Tat, die es zu vollenden gilt, ohne daß man im Vorhinein wissen kann, weder ob, noch wo, noch wie das Ereignis durch seine Widerrufung entstehen wird. Es wird einfach der Tag kommen, an dem die Spielsteine neu verteilt werden und die Würfel aufs Neue auf den leeren Tisch geworfen werden.

Man wird also bemerkt haben, daß diese Philosophie insgesamt eine Philosophie der Leere darstellt: nicht nur eine Philosophie, die behauptet, daß die Leere präexistent ist gegenüber den Atomen, die in ihr fallen, sondern auch eine Philosophie, die eine philosophische Leere herstellt, um sich Existenz zu verschaffen: eine Philosophie, die, anstatt von den berühmten "philosophischen Problemen" auszugehen ("warum gibt es Etwas eher als Nichts?"), damit beginnt, jedes philosophische Problem zu "entleeren", indem sie es ablehnt, sich ein "Objekt" zuzuordnen, welches dieses auch sein mag ("Die Philosophie hat kein Objekt"), um nur von "nichts" auszugehen und von dieser infinitesimalen und aleatorischen Variation des Nichts, die die Abweichung vom Fall ist. Gibt es eine radikalere Kritik der gesamten Philosophie in ihrem Anspruch, die Wahrheit über die Dinge zu sagen? Gibt es eine verblüffendere Weise, zu sagen, daß das "Objekt" schlechthin der Philosophie das Nichts oder die Leere ist? Im 17. Jahrhundert hat man gesehen, daß sich Pascal um diese Idee gedreht hat, indem er die Leere als Gegenstand der Philosophie eingeführt hat. Aber es geschah auf der bedauernswerten Basis einer Apologetik. Dafür mußte man auf Heidegger warten, nach dem falschen Wort eines Hegel ("die Arbeit des Negativen") oder eines Stirner ("Ich hab' Mein Sach' auf Nichts gestellt"), um der Idee der Leere ihre entscheidende Bedeutung in der Philosophie wiederzugeben. Aber man findet all dies bereits bei Epikur und Machiavelli, bei Machiavelli, der alle philosophischen Begriffe Platons und Aristoteles entleerte, um die Möglichkeit zu denken, aus Italien einen Nationalstaat zu machen. Daran kann man den Einfluß der Philosophie ermessen: reaktionär oder revolutionär, unter oftmals verwirrenden Umständen ihres Auftretens, die es aufzulösen gilt mit Geduld und Sorgfalt. Wenn man Machiavelli dieserart liest (das sind nur kurze Notizen, die es auszuarbeiten gilt, von denen ich denke, daß ich sie eines Tages ausarbeiten werde), wer könnte glauben, daß es sich unter dem Gewand der Politik nicht um ein echtes philosophisches Denken handle? Und wer konnte glauben, daß die Faszination, die Machiavelli ausübte, lediglich politisch war, überdies konzentriert auf das absurde Problem, ob er Monarchist oder Republikaner war (das Beste der Philosophie der Aufklärung wurde mit dieser Dummheit vergeudet), während seine philosophischen Resonanzen ohne sein Wissen das Tiefgründigste ist, was uns aus dieser schmerzhaften Vergangenheit erreicht hat? Ich möchte das Problem verschieben, also nicht nur die Alternative Monarchist/Republikaner zurückweisen, die keinen Sinn hat, sondern auch die landläufige These, daß Machiavelli als Begründer der einzigen Politikwissenschaft gesehen wird, verwerfen. Ich möchte suggerieren, daß Machiavelli seinen Einfluß nicht so sehr der Politik verdankt, sondern vielmehr seinem "Materialismus der Begegnung". Von daher kommt das Wesentliche seines Einflusses auf die Menschen, die sich um Politik so kümmern wie um ihren letzten abgetragenen Schuh – niemand ist gezwungen, "Politik zu machen" – und die sich teilweise in ihm getäuscht haben, umsonst fragend, wie es noch ein Croce gemacht hat, von wo diese für immer unverständliche Faszination kommen könnte.

Spinoza

Diese Faszination hatte ein Mann verstanden, weniger als 100 Jahre nach dem Tod Machiavellis. Er hieß Spinoza. Man findet in seinem Politischem Traktat eine explizite Lobrede auf Machiavelli, in einem Traktat, wo es allem Anschein nach neuerlich um Politik geht, während es sich in Wahrheit auch dort um Philosophie handelt. Aber um diese Philosophie zu erfassen, muß man weiter zurückgehen, denn Spinozas philosophische Strategie war radikal und von einer extremen Komplexität. Denn er mußte in einer Welt kämpfen, die voll von lauernden Feinden war, die jedes seiner Worte auf die Waagschale legten und die das gesamte Terrain einnahmen oder einzunehmen glaubten, was ihn dazu zwang, eine verwirrende Problematik zu entwickeln: Von jenem Oben, das alle Konsequenzen beherrscht.

Ich vertrete die These, daß der Gegenstand der Philosophie für Spinoza die Leere ist. Eine paradoxe These, wenn man die Menge der Begriffe betrachtet, die in der Ethik "ausgearbeitet" sind. Es genügt indessen zu bemerken, wie er beginnt. Er bekennt in einem Brief: "Die einen beginnen mit der Welt, die anderen mit dem menschlichen Geist, ich beginne mit Gott". Die anderen: das sind auf der einen Seite die Scholastiker, die mit der Welt beginnen und von der geschaffenen Welt zu Gott aufsteigen. Die anderen, das ist auf der anderen Seite Descartes, der mit dem denkenden Subjekt beginnt, und durch das cogito zum dubito aufsteigt und zu Gott. Alle kommen (irgendwie) zu Gott. Spinoza spart sich diesen Umweg und installiert sich direkt in Gott. Von daher kann man sagen, daß er von vornherein den Platz, der gemeinhin als Platz der Stärke gilt, besetzt, der die letzte Garantie und die ultimative Zuflucht all seiner Feinde ist, indem er mit diesem "jenseits dessen es nichts gibt" beginnt, welches, da es ohne jede Beziehung im Absoluten existiert, selbst nichts ist. Zu sagen "ich beginne mit Gott", oder mit dem Ganzen oder mit der einen Substanz, und zu verstehen zu geben "ich beginne mit nichts", ist im Grunde dasselbe: Was ist der Unterschied zwischen dem Ganzen und nichts? wo doch nichts außerhalb des Ganzen existiert... In der Tat, was hat er über Gott zu sagen? An diesem Punkt beginnt das Fremde.

Gott ist nur Natur, was auf nichts anderes hinausläuft als: er ist nur Natur. Epikur ging auch von der Natur als demjenigen aus, außerhalb dessen nichts existiert. Was ist nun dieser spinozistische Gott? Eine absolute Substanz, einzig und unbegrenzt, ausgestattet mit einer unendlichen Zahl an unendlichen Attributen. Natürlich ist damit gesagt, daß alles, was existieren kann, immer nur in Gott existieren kann, egal, ob dieses "was es auch sein mag" nun bekannt oder unbekannt ist. Denn wir kennen nur zwei Attribute: die Ausdehnung und das Denken; vom Körper kennen wir nicht alle Vermögen, so wie wir vom Denken nicht das ungedachte Vermögen der Begierde kennen. Die anderen Attribute, der Zahl nach unendlich, und selbst auch unendlich, sind da, um alles Mögliche und Unmögliche abzudecken. Daß sie zahlenmäßig unendlich und uns unbekannt sind, läßt die Tür für ihre aleatorische Existenz und Formen weit offen. Daß sie parallel zueinander verlaufen, daß dabei alles ein Effekt des Parallelismus ist, läßt an den epikureischen Regen denken. Die Attribute fallen in den leeren Raum ihrer Determination, wie die Regentropfen, die nur in diesem Ausnahmeparallelismus anzutreffen sind, diesem Parallelismus ohne Begegnung, ohne Vereinigung (von Seele und Körper...), der der Mensch ist, in diesem zuordenbaren, aber minimalen Parallelismus des Denkens und des Körpers, der zuerst nur Parallelismus ist, da in ihm, wie in allen Dingen, "die Ordnung und die Verbindung der Dinge dasselbe ist wie die Ordnung und die Verbindung der Ideen". Letztendlich ein Parallelismus ohne Begegnung, der aber schon in sich Begegnung ist wegen der Struktur der Beziehung zwischen den verschiedenen Elementen jedes Attributs.

Um darüber zu urteilen, muß man die philosophischen Auswirkungen dieser Strategie und dieses Parallelismus sehen. Daß Gott nichts als Natur ist, und daß diese Natur die unendliche Summe einer unendlichen Anzahl von parallelen Attributen ist, hat nicht nur zur Folge, daß nichts über Gott zu sagen bleibt, sondern daß es auch nichts mehr zu sagen gibt über das große Problem, das die gesamte abendländische Philosophie seit Aristoteles, vor allem aber seit Descartes, beherrscht: Das Problem der Erkenntnis und ihres doppelten Korrelats, dem erkennenden Subjekt und dem erkannten Objekt. Diese großen Fragen, die soviel an Fragen nach sich gezogen haben, reduzieren sich auf nichts: "homo cogitat", der Mensch denkt, so ist es. Dies ist die Feststellung einer Faktizität, des "so ist es", des "es gibt"*, welche schon Heidegger ankündigt und die Faktizität des Fallens der Atome bei Epikur in Erinnerung ruft. Das Denken ist nur die Folge der Modi des gedachten Attributes, und verweist nicht auf ein Subjekt, sondern – im Sinne des Parallelismus – auf die Folge der Modi des ausgedehnten Attributs.

Interessant ist weiter die Art, wie sich das Denken im Menschen konstituiert. Daß er mit wirren Gedanken und Hören-Sagen zu denken beginnt, bis diese Elemente schließlich eine Form "ergreifen", um in "Gemeinbegriffen" zu denken (von der ersten zur zweiten Gattung, sodann zur dritten: durch einfache Substanzen); all dies ist wichtig, denn der Mensch könnte auf der Ebene des Hören-Sagens verbleiben und das "Greifen" zwischen dem Denken der ersten Gattung und jenem der zweiten könnte sich nicht vollziehen. Dies ist das Schicksal der Mehrzahl der Leute, die im Denken der ersten Gattung und im Imaginären verbleiben, d. h. in der Illusion zu denken, während sie nicht denken. So ist es. Man kann entweder auf der ersten Stufe bleiben oder auch nicht. Es gibt nicht, wie bei Descartes, eine immanente Notwendigkeit, die einen vom wirren zum klaren und distinkten Denken führt, kein cogito, kein notwendiges Moment der Reflexion, das diesen Übergang garantiert. Er kann stattfinden, aber auch nicht. Und die Erfahrung zeigt, daß es der Regel nach nicht stattfindet, außer in der Ausnahme einer Philosophie, die sich bewußt ist, nichts zu sein.

Was bleibt der Philosophie, wenn Gott und die Erkenntnistheorie, die bestimmt sind, die "höchsten" Werte zu etablieren, an denen alles gemessen wird, auf nichts reduziert sind? Keine Moral mehr, und vor allem keine Religion mehr, besser noch, eine Theorie der Moral und der Religion, die dies lange vor Nietzsche bis in ihre imaginären Grundlagen der "Verkehrung" zerstört hat – die "fabrica à l'envers" (vgl. Appendix des Buches I der Ethik); keine Finalität mehr (sei sie historisch oder psychologisch): kurz, die Leere ist die Philosophie selbst. Und da dieses Ergebnis ein Ergebnis ist, wird es nur am Ende einer gigantischen Arbeit an den Begriffen erreicht, die das Hauptanliegen der Ethik ausmachen, eine "kritische" Arbeit, wie man üblicherweise sagen würde, eine Arbeit der "Dekonstruktion", wie Derrida nach Heidegger sagen wird, denn das, was zerstört wird, wird gleichzeitig auch rekonstruiert, aber auf einer anderen Basis, nach einem anderen Plan. Zeuge dafür ist etwa diese unerschöpfliche Theorie der Geschichte usw., aber in ihren effektiven, politischen Funktionen.

Eine merkwürdige Theorie – man tendiert dazu, diese als eine Erkenntnistheorie zu präsentieren (die erste der drei Gattungen), während die Imagination in keiner Weise eine Fähigkeit ist, sondern im Grunde nur die eine Welt in ihrer "Gegebenheit". Durch dieses Gleiten entgeht Spinoza nicht nur jeder Theorie des Erkennens, sondern öffnet einem Wiedererkennen der "Welt" den Weg, als jenes Jenseits, von dem es gar nichts gibt, nicht einmal eine Theorie der Natur, er öffnet den Weg einem Wiedererkennen der "Welt" als einer einzigen Totalität, die nicht totalisiert ist, sondern in ihrer Zerstreutheit gelebt wird, gelebt als "Gegebenes", in welches wir geworfen sind, und von dem aus wir alle unsere Illusionen schmieden ("fabricae"). Im Grunde antwortet die Theorie der ersten Gattung als "Welt" – aus der Ferne, aber sehr genau – der These von Gott als "Natur", wo die Natur nur die Welt ist, gedacht in den Gemeinbegriffen, aber diesen vorausgehend als dasjenige, in dem nichts ist. Im Imaginären der Welt und seinen notwendigen Mythen schreibt sich dann die Politik des Spinoza ein, die sich in ihren tiefsten Schlußfolgerungen und in dem Ausschluß all dessen, was die traditionelle Philosophie vorausgesetzt hat, mit Machiavelli trifft. Die Autonomie der Politik ist nur die Form, die der Ausschluß jeder Finalität, jeder Religion und jeder Transzendenz annimmt. Aber die Theorie des Imaginären als Welt erlaubt es Spinoza, diese "merkwürdige Essenz" der dritten Gattung zu denken, die die Geschichte eines Individuums oder eines Volkes ist, wie die des Moses oder des jüdischen Volkes. Daß sie notwendig ist, heißt nur, daß sie sich vollzogen hat, aber alles daran hätte umkippen können, je nach der Begegnung oder Nicht-Begegnung von Moses und Gott, oder der Begegnung der Intelligenz bzw. Nichtintelligenz der Propheten. Der Beweis: man mußte ihnen den Sinn dessen, was sie von ihrem Gespräch mit Gott, von dieser Grenzsituation, berichteten, erklären – selbst Daniel: Man mußte ihm alles gut erklären, er hat nie etwas verstanden. Beweis der Leere durch die Leere selbst als Grenzsituation.

Hobbes

Es ist Hobbes, dieser "Teufel", dieser "Dämon", der uns auf seine Art als Übergang zwischen Spinoza und Rousseau dienen wird. In dieser Sache ist die Chronologie von geringerer Bedeutung, da sich diese Gedanken, jeder für sich, trotz der dazwischenliegenden Entsprechung eines Mersenne, entwickelten und es sich vor allem um Resonanzen einer verschütteten und wiederaufgenommenen Tradition handelt, die man vermitteln muß.

Die ganze Gesellschaft beruht auf Angst, sagt Hobbes, und beweist das empirisch durch die Tatsache, daß wir alle Schlüssel besitzen, und warum wohl? Um das eigene Haus vor einer Aggression von wer weiß wem zu bewahren. Es könnte Ihr Nachbar sein oder Ihr bester Freund, der sich durch Ihre Abwesenheit, durch die Gelegenheit und durch die Begierde, sich zu bereichern, in einen "Wolf des Menschen" verwandelt. Aus dieser einfachen Bemerkung, die ebenso wertvoll wie unsere beste "Analyse der Essenz" ist, zieht Hobbes eine ganze Philosophie: Das Wissen, daß unter den Menschen ein "Krieg aller gegen alle" herrscht, ein "unendlicher Lauf", wo jeder gewinnen möchte, aber fast alle verlieren in Anbetracht der Position der Konkurrenten (von daher die "Leidenschaften", vor denen er warnt, wie es damals Mode war, um darin die Politik zu verkleiden, ein Traktat [sic]) hinter, vor und auf gleicher Höhe mit dem Wettlauf – von daher ergibt sich der verallgemeinerte Kriegszustand: nicht daß der Krieg hier, zwischen den Staaten, ausbricht (wie es Rousseau wollte), sondern so, wie man davon spricht, daß "schlechtes Wetter droht" (es kann zu jeder Tages- und Nachtzeit regnen, ohne Vorankündigung) – kurz, daß er eine permanente Bedrohung der Menschen und ihrer Güter ist, eine Todesdrohung, die immerzu, in jedem Augenblick auf allen Menschen lastet aufgrund der simplen Tatsache, in Gesellschaft zu leben. Ich weiß ganz genau, daß Hobbes etwas ganz anderes im Kopf hatte als die Konkurrenz, die simple ökonomische Konkurrenz, wie man geglaubt hatte, die großen Aufstände nämlich, deren Zeuge er war (man ist nicht ungestraft der Zeitgenosse von Cromwell und der Exekution von Charles I.), wo er sah, wie das Gleichgewicht der kleinen Angst der "Schlüssel" kippt angesichts der großen Angst vor den Volkserhebungen und den politischen Morden. Von dieser Angst spricht er insbesondere und ohne Zweideutigkeit, wenn er an diese Unglückszeiten erinnert, wo ein Teil der Gesellschaft den anderen massakrieren konnte, um die Macht zu übernehmen.

Als guter Theoretiker des Naturrechts hält sich Hobbes natürlich nicht an diese, selbst grauenhaften, Erscheinungen. Um die Effekte klar zu sehen, geht er zu den Ursachen zurück, und dazu bietet er uns seinerseits eine Theorie des Naturzustands. Um diesen in seine Elemente zu zerlegen, muß man bis zu jenen "Atomen der Gesellschaft" gelangen, die die Individuen sind, die mit einem Streben ausgestattet sind, das bedeutet mit einem Willen und einem Können, "in ihrem Sein zu beharren" und eine Leere zu schaffen, um darin den Raum für ihre Freiheit zu etablieren. Atomisierte Individuen, die Leere als Bedingung für ihre Bewegung, erinnert uns das nicht an etwas? Hobbes hält tatsächlich fest, daß die Freiheit, die das ganze Individuum und seine Seinskraft ausmacht, an der "Hindernisleere", an der "Abwesenheit des Hindernisses" vor seiner erobernden Kraft hängt.

Er liefert sich dem Krieg aller gegen alle nur durch den Willen aus, allen Hindernissen zu entgehen, die ihn daran hindern, gerade zu gehen (man denke an den freien und parallelen Fall der Atome), und er wäre im Grunde genommen glücklich, wenn er niemandem begegnen würde in einer Welt, die dann leer wäre. Das Unglück ist, daß diese Welt voll ist, voll mit Menschen, die das gleiche Ziel verfolgen, die sich entgegentreten, um Platz für das eigene Streben zu schaffen, und die kein anderes Mittel finden, um ihr Ziel zu realisieren, als jenen, die ihnen im Wege stehen, "den Tod zu geben". Daher rührt auch die wesentliche Rolle des Todes in dem Gedanken des ewigen Lebens, nicht eines zufälligen Todes, sondern eines notwendigen Todes, der durch die menschliche Hand gegeben und empfangen wird, die Rolle des ökonomischen und politischen Mordes, der einzig dazu fähig ist, diese Gesellschaft des Kriegszustands in einem instabilen, aber notwendigen Gleichgewicht zu halten. Dennoch sind diese furchtbaren Menschen auch Menschen, sie denken, oder besser gesagt sie kalkulieren, indem sie die jeweiligen Vorteile berechnen, die ein Verbleib im Kriegszustand oder der Eintritt in einen Vertragszustand bietet, welcher aber auf der unentfremdbaren Grundlage jeder menschlichen Gesellschaft beruht: auf der Angst und auf dem Terror. Sie überlegen also und gelangen dazu, daß es vorteilhafter sein könnte, einen eigentümlichen, ungleichgewichtigen Vertrag zwischen ihnen zu schließen, durch den sie sich (als atomisierte Individuen) wechselseitig verpflichten, der allmächtigen Macht desjenigen nicht zu widerstehen, dem sie einseitig und ohne jeglichen Ausgleich alle ihre Rechte (ihre natürlichen Rechte) delegieren werden, dem Leviathan – sei dieser ein Individuum wie in der absolutistischen Monarchie, oder die allmächtige Versammlung des Volkes oder seiner Repräsentanten. Sie verpflichten sich darin und untereinander, diese Machtdelegierung zu respektieren, ohne sie jemals zu verraten, widrigenfalls sie die schrecklichen Sanktionen des Leviathans treffen, der, halten wir das fest, seinerseits durch keinen Vertrag an das Volk gebunden ist, sondern dieses in seiner Einheit hält durch das Ausüben seiner einstimmig konsentierten Allmacht, durch die Angst und den Terror, die er an den Grenzen der Gesetze regieren läßt, und durch den Sinn, den er (was für ein Wunder!) für seine "Aufgabe" besitzt, ein Volk zusammenzuhalten, das unterworfen ist in seiner Unterwerfung, um ihm die Schrecken des Kriegszustandes zu ersparen, die unendlich viel schlimmer sind als seine Angst.

Ein Fürst, den nichts an sein Volk bindet, außer die Aufgabe, es vor dem Kriegszustand zu beschützen, ein Volk, das nichts an seinen Fürsten bindet außer das Halten eines Versprechens (oder wehe!), ihm in allem gehorsam zu sein, einschließlich in Sachen des ideologischen Konformismus (Hobbes ist der erste, der die ideologische Herrschaft und deren Effekte denkt). Das macht die ganze Originalität und den Schrecken dieses subversiven Denkers aus (dessen Schlußfolgerungen gut, dessen Denken aber schlecht war – seine Gründe waren falsch, wird Descartes sagen), dieses außergewöhnlichen Theoretikers, den keiner verstand, aber alle fürchteten. Er dachte (dieses Privileg des Denkens, sich über das zu mokieren, was "man" dazu sagen wird, über die Welt, den Tratsch und sogar über die eigene Reputation, zu denken in der absoluten Einsamkeit oder in der Illusion derselben), und was bedeuteten schon die Anschuldigungen, die er mit Spinoza teilte, er sei ein Abgesandter der Hölle und des Teufels. Hobbes dachte, daß jeder Krieg präventiv sei, daß jeder gegen einen möglichen Anderen nur das Mittel hat, "ihm vorauszukommen". Hobbes dachte (welcher Wagemut!), daß jede Macht absolut ist, daß Absolut-Sein die Essenz der Macht ist, und daß alles, was auch nur minimal von dieser Regel abweicht, sei es nach links, sei es nach rechts, mit äußerster Härte bekämpft werden muß. Und er dachte all dies nicht als Apologet dessen, was man heute mit einem Wort, das alle Differenzen verwischt, also alles Denken und allen Sinn, den "Totalitarismus" oder den "Etatismus" nennt: Er dachte all dies im Dienste einer freien ökonomischen Konkurrenz und einer freien Entwicklung des Marktes und der Kultur der Völker! Denn, genau betrachtet, trifft es sich, daß sein totalitärer Staat fast schon dem Marx'schen Staat gleicht, der absterben sollte. Wenn jeder Krieg, also jeder Terror präventiv sind, dann würde es tatsächlich genügen, daß dieser furchtbare Staat existiert hat, um von seiner eigenen Existenz absorbiert zu werden, bis er nicht mehr zu existieren braucht. Man sprach über die Angst des Polizisten, "seine Macht zu zeigen, um sie nicht gebrauchen zu müssen" (Lyautey), heute redet man darüber, seine (atomare) Macht nicht zu zeigen, um sie nicht nutzen zu müssen. Das meint, daß die Macht ein Mythos ist, und daß sie als solcher auf die Imagination der Menschen und der Völker wirkt, präventiv, ohne jeglichen Grund, sie auch zu gebrauchen.

Ich weiß, daß ich hier ein Denken weiterführe, das niemals so weit gegangen ist, aber ich bleibe in seiner Logik, und ich zeige seine Paradoxien auf in einer Logik, die die seine bleibt. Wie es auch sei, es ist klar, daß Hobbes nicht jenes Monster war, wie man uns erzählt hat, und daß seine einzige Ambition war, den Bedingungen der Lebensfähigkeit zu dienen, sowie der Entwicklung einer Welt, die so war, wie sie war, die seine, die der Renaissance, die sich der außergewöhnlichen Entdeckung einer Welt öffnete, dem Neuen. Sicher, das "Greifen" der atomisierten Individuen hatte nicht die gleiche Essenz und die gleiche Stärke wie bei Epikur und Machiavelli, und Hobbes, der so viel Geschichte erlebt hat, war leider kein Historiker (das sind die Berufungen, die sich nicht kommandieren lassen), aber auf seine Weise kam er zu denselben Ergebnissen wie seine Lehrer in der Tradition des Materialismus der Begegnung: zu der aleatorischen Konstitution einer Welt. Und wenn dieser Denker eine so große Rolle für Rousseau gespielt hat (darüber werde ich eines Tages sprechen), und selbst für Marx, dann verdankt er dies der Wiederaufnahme dieser geheimen Tradition, selbst wenn er sich dessen nicht bewußt war (was nicht unmöglich ist). Wir wissen, daß das Bewußtsein in diesen Angelegenheiten nichts ist als die Fliege des Kutschers, das Wesentliche ist, daß das Gespann den Zug der Welt im schnellen Galopp durch die Ebenen oder in der langen Langsamkeit der Steigungen zieht.

Rousseau

Es ist Rousseau, dem wir in seinem zweitem Diskurs und seinem Discours sur l'origine des langues, ohne dabei auf Epikur und Machiavelli Bezug zu nehmen, die Wiederaufnahme des Materialismus der Begegnung verdanken.

Es wurde nicht genug beachtet, daß der zweite Diskurs mit einer Beschreibung des Naturzustandes beginnt, die mit den anderen Beschreibungen dieser Art insofern bricht, als sie zweigeteilt ist: ein reiner Naturzustand ["état de pure nature"], welcher der radikale Anfang von allem ist, und ein Naturzustand ["état de nature"], welcher aus Veränderungen des reinen Naturzustandes hervorgeht. Bei allen Beschreibungen des Naturzustandes, welche uns die Theoretiker des Naturrechts anbieten, läßt sich beobachten, daß dieser Naturzustand ein gesellschaftlicher Zustand ist, sei es ein Zustand des Krieges aller gegen alle, sei es ein Zustand des Friedens. Die Theoretiker des Naturrechts haben, wie Rousseau ihnen vorwirft, den Zustand der Gesellschaft auf den Naturzustand projiziert. Rousseau ist der einzige, der den reinen Naturzustand zu denken versucht, indem er ihn als einen Zustand ohne jede soziale Beziehung, sei sie nun positiv oder negativ, denkt. Er beschreibt diesen Zustand mit dem Bild des primitiven Waldes – welches an einen anderen Rousseau, den Zöllner, denken läßt –, durch den isolierte Individuen ohne Beziehung zueinander irren, d. h. Individuen, die sich nicht begegnen. Sicherlich können sich Mann und Frau treffen, sich "betasten" und sich sogar paaren. Es handelt sich dann jedoch nur um eine kurze Begegnung ohne Identität oder Wiedererkennung(/Anerkennung): Kaum haben sie sich gepaart (ja nicht einmal das: denn von Kindern ist nicht die Rede, als würde die menschliche Welt vor dem Emile Kinder nicht kennen oder ohne sie auskommen – es gibt weder Kinder noch Eltern, also kurz gesagt: keine Familien), trennen sie sich wieder und gehen eigene Wege in der unendlichen Leere des Waldes. Zwei Menschen, wenn sie sich begegnen, laufen die längste Zeit nur aneinander vorbei, ohne einander wahrzunehmen. Eine Begegnung im eigentlichen Sinne findet also nicht statt. Der Wald ist das Äquivalent der epikureischen Leere, in die der parallele Regen der Atome fällt: es ist eine pseudo-Brownsche Leere, in der die Individuen sich zwar über den Weg laufen, sich aber nicht begegnen, es sei denn in kurzen Zusammentreffen, die nicht andauern. Rousseau entwirft hier – zu einem sehr hohen Preis, nämlich der Abwesenheit des Kindes – das Nichts an Gesellschaft [néant de société], welches jeder Gesellschaft vorangeht und Bedingung der Möglichkeit jeder möglichen Gesellschaft ist, das Nichts an Gesellschaft, welches die Essenz jeder möglichen Gesellschaft ausmacht. Daß das Nichts an Gesellschaft die Essenz jeder Gesellschaft sei, ist eine wagemutige These, deren Radikalität nicht nur seinen Zeitgenossen, sondern auch vielen seiner späteren Kommentatoren entgangen ist.

Was ist notwendig, damit eine Gesellschaft tatsächlich entsteht? Es ist notwendig, daß den Menschen der Zustand der Begegnung auferlegt wird, daß die Unendlichkeit des Waldes, als Bedingung der Möglichkeit der Nichtbegegnung, durch äußere Ursachen auf endliche Grenzen eingeschränkt wird, daß sie durch Naturkatastrophen in begrenzte Einheiten wie zum Beispiel Inseln zerteilt wird, wo die Menschen sich gezwungenermaßen begegnen und sich gezwungenermaßen dauerhaft begegnen: gezwungen durch eine Kraft, die stärker ist als sie. Ich lasse die Art dieser Naturkatastrophen, die den Lebensraum verändern, hier beiseite. Deren einfachste ist die winzige, infinitesimale Neigung des Äquators zur Eklipse: ein Unfall, dessen Ursache nicht mit jener des clinamen vergleichbar ist, der aber trotzdem dieselben Effekte hat. Einmal gezwungen zur Begegnung und zu dauerhaften faktischen Verbindungen, entwickeln die Menschen unter sich künstliche Beziehungen, d. h. gesellschaftliche Beziehungen: zu Beginn noch rudimentär, dann jedoch verstärkt durch die Rückwirkungen eben dieser Begegnungen auf ihre Menschennatur.

Eine lange und langsame Dialektik setzt hier ein, die im Lauf der Zeit dazu führt, daß aus den erzwungenen Begegnungen die Sprache, die Leidenschaften, die Liebe und der Kampf zwischen den Menschen bis hin zum Kriegszustand hervorgehen. Die Gesellschaft ist geboren, der Naturzustand und auch der Krieg sind geboren, und mit ihnen entwickelt sich ein Prozeß der Akkumulation und der Veränderung, welcher buchstäblich die sozialisierte Natur des Menschen hervorbringt. Es sei bemerkt, daß diese Begegnung auch nicht andauern könnte, wenn die Beständigkeit der äußeren Zwänge sie nicht gegen die verlockende Zerstreuung in einem konstanten Zustand aufrechterhalten würde, d. h. wenn sie den Menschen nicht das Gesetz der Annäherung auferlegen würde, ohne sie nach ihrer Meinung zu fragen. Die Gesellschaft entsteht gleichsam hinter dem Rücken der Menschen, und die Geschichte als unbewußte und rückwärtige Konstituierung dieser Gesellschaft.

Ohne Zweifel trägt der Mensch im reinen Naturzustand, der sozusagen zwar einen Körper, aber keine Seele hat, nicht nur eine Fähigkeit in sich, die alles, was er ist und was ihm zustoßen wird, transzendiert, nämlich die Vervollkommnungsfähigkeit, die Perfektibilität [la perfectibilité], die gleichzusetzen ist mit der Abstraktion und der transzendentalen Bedingung der Möglichkeit jeder Entwicklung, sondern auch – was vielleicht noch wichtiger ist – das Mitleid, als negative Fähigkeit, [nicht] das Leiden der Mitmenschen zu leiden: Der reine Naturzustand ist eine Gesellschaft aus Mangel, also eine leere Gesellschaft, eine negative und leere Gesellschaft von isolierten Menschen, die in ihrer Einsamkeit begierig sind nach dem Anderen. All dies ist vom reinen Naturzustand an zwar gegeben, ist dort jedoch nicht wirksam, existiert nicht und hat dort keinerlei Effekt, besteht also lediglich in Erwartung der Zukunft, die es erwartet. So wie sich Gesellschaft und Geschichte hinter dem Rücken des Menschen entwickeln, ohne seinen bewußten und aktiven Beitrag, so sind auch die Perfektibilität und das Mitleid nichts als die Vorwegnahme der Zukunft, an der der Mensch keinen Anteil hat.

Wenn auch die Genealogie dieser Begriffe oft genug beschrieben wurde (in dieser Hinsicht hat Goldschmidt das Standardwerk geschrieben), so wurden die Implikationen dieses Dispositivs noch nicht ausreichend untersucht. Dieses Dispositiv, das im zweiten Diskurs durch die Theorie des illegitimen Vertrags geschlossen wird, jenes gewaltsamen Vertrags, der auf dem Gehorsam der Schwachen gründet und durch die Arroganz der Starken, die auch die "Gerisseneren" sind, durchgesetzt wird. Seinen wahren Sinn findet dieser illegitime Vertrag jedoch im Gesellschaftsvertrag, der nur besteht, weil er von dem Abgrund (das Wort stammt von Rousseau selbst in seinen Bekenntnissen) des Rückfalls in den reinen Naturzustand heimgesucht wird, wie ein Organismus, der den drohenden Tod von innen abwehren muß: die Begegnung, die Form angenommen hat und notwendig geworden ist, jedoch auf der Grundlage des Aleatorischen der Nichtbegegnung und ihrer Formen, in die der Vertrag jederzeit zurückfallen kann. Wenn diese Bemerkung, die es noch auszuführen gilt, richtig ist, würde sie die klassische Aporie der vermeintlichen Widersprüchlichkeit von Gesellschaftsvertrag und zweitem Diskurs lösen, ein akademisches Problem, welches in der Geschichte der abendländischen Kultur seinesgleichen nur in der albernen Frage hat, ob Machiavelli nun Monarchist oder Republikaner war... Zudem würde sie im selben Zuge den Status der Texte aufklären, in denen sich Rousseau daran macht, für andere Völker Gesetze zu entwerfen – für die Korsen, die Polen etc. –, und in denen er mit aller Entschiedenheit einen wesentlichen Begriff von Machiavelli wiederaufnimmt – ohne das Wort explizit zu nennen, was jedoch unwichtig ist, da der Begriff der Sache nach da ist –, den Begriff der Konjunktur. Um den Menschen Gesetze zu geben, muß man die Umstände im Auge behalten, das "es gibt" – wie z. B. in allegorischer Weise das Klima und so viele andere Bedingungen bei Montesquieu –, die Bedingungen und ihre Geschichte, d. h. ihr "Geworden-Sein", kurz: die Begegnungen, die auch nicht hätten stattfinden können (vgl. den Naturzustand: "dieser Zustand, der auch nie hätte sein können") und die stattgefunden haben und die das "Gegebene" des Problems und seinen Zustand geprägt haben. Was bedeutet dies anderes, als nicht nur die Zufälligkeit der Notwendigkeit zu denken, sondern auch die Notwendigkeit der Zufälligkeit, die an ihrer Wurzel liegt? So erscheint der Gesellschaftsvertrag nicht mehr als Utopie, sondern als das immanente Gesetz jeder Gesellschaft, sei sie nun in seiner legitimen oder in seiner illegitimen Form. Das wahre Problem ist folgendes: Wie kann man von der illegitimen Form (der gängigen) zur legitimen Form übergehen? Auch wenn es diese letztendlich nicht gibt, so muß man sie doch postulieren, um die konkret existierenden Formen denken zu können, diese "einfachen Substanzen" ["essences singulières"] (Spinoza), seien es nun die Individuen, die Umstände, die realen Staaten oder ihre Völker. Man muß die legitime Staatsform also als transzendentale Bedingung jeder Bedingung, d. h. jeder Geschichte, annehmen. Hier liegt ohne Zweifel die tiefste Einsicht Rousseaus verborgen, in diesem Konzept jeder möglichen Geschichtstheorie, welches die Zufälligkeit der Notwendigkeit als Produkt der Notwendigkeit der Zufälligkeit denkt – ein verwirrendes Begriffspaar, das es jedoch im Auge zu behalten gilt, ein Begriffspaar, das bereits bei Montesquieu aufscheint, jedoch erst von Rousseau klar formuliert wird, als entspringe es einer Intuition des 18. Jahrhunderts, die im voraus alle lockenden Teleologien der Geschichte zurückweist, und dem er die Türen weit öffnet unter dem unwiderstehlichen Eindruck der Französischen Revolution. Um es polemisch zu sagen: Stellt man die Frage nach dem "Ende der Geschichte", sieht man im selben Lager Epikur und Spinoza, Montesquieu und Rousseau sich zusammenschließen, auf der – expliziten oder impliziten – Grundlage desselben Materialismus der Begegnung oder desselben Denkens der Konjunktur im eigentlichen Sinne. Und natürlich auch Marx, der jedoch gezwungen ist, vor einem zerrissenen Horizont zu denken, zerrissen zwischen dem Aleatorischen der Begegnung und der Notwendigkeit der Revolution.

Darf ich eine letzte Bemerkung wagen? Es gilt festzuhalten, daß es vielleicht kein Zufall ist, daß dieses Begriffspaar vor allem jene Männer interessiert hat, die mit den Begriffen von Begegnung und Konjunktur nicht nur die Realität der Geschichte, sondern vor allem jene der Politik denken wollten, nicht nur das Wesen der Realität, sondern vor allem das Wesen der Praxis, und die Verbindung dieser beiden bei ihrer Begegnung: im Kampf – ich sage bewußt Kampf –, im Grenzfall im Krieg (Hobbes, Rousseau), im Kampf um die Anerkennung (Hegel), aber auch und in erster Linie im Kampf aller gegen alle, d. h. in der Konkurrenz, oder, wenn er diese Form annimmt, im Klassenkampf (und seinem "Widerspruch"). Muß man daran erinnern, wieso und für wen Spinoza schreibt, wenn er sich auf Machiavelli bezieht? Er will nur sein Denken denken, und da es ein Denken der Praxis ist, die Praxis mit diesem Denken denken.

Materialismus der Begegnung

Diese historischen Ausführungen sind eigentlich nur Vorbemerkungen zu dem, was ich über Marx darlegen möchte. Sie sind deshalb jedoch nicht zufällig, sondern bezeugen, daß von Epikur bis Marx eine tiefe, aber verborgene – durch ihre Entdeckung selbst verdeckte, durch das Vergessen, vor allem aber durch die Verneinungen und Verdrängungen, wenn nicht gar durch die den Tod von Menschen nach sich ziehenden Verdammungen verborgene – Tradition bestanden hat, die ihr materialistisches Fundament in einer Philosophie der Begegnung fand und die deshalb mehr oder weniger atomistisch ist, da das Atom das einfachste Bild der Individualität in ihrem "Fall" ist – eine Tradition also, die jede Philosophie des Wesens (Ousia, Essentia), d. h. der Vernunft (Logos, Ratio), d. h. des Ursprungs und des Zwecks (da der Ursprung nichts anderes ist als die Vorwegnahme des Zwecks in der ursprünglichen vernünftigen Ordnung), d. h. der Ordnung (sei sie nun rational, moralisch, religiös oder ästhetisch) zurückweist zugunsten einer Philosophie, die sich dem Ganzen und jeder Ordnung verweigert zugunsten der Zerstreuung ("dissémination" würde Derrida sagen) und der Unordnung. Zu sagen, am Anfang sei das Nichts oder die Unordnung, bedeutet, sich diesseits von jeder Zusammenfügung und jeder Anordnung zu positionieren und den Ursprung nicht mehr als Vernunft oder Zweck, sondern als Nichts zu denken. Auf die alte Frage: "Was ist der Ursprung der Welt?" antwortet diese materialistische Philosophie: "das Nichts?" – "nichts" – "ich beginne mit nichts" – "es gibt keinen Anfang, weil nichts jemals existiert hat, bevor es auch nur irgend etwas gab"; daher "gibt es keinen unbedingten Anfang der Philosophie" – "die Philosophie beginnt nicht mit einem Anfang, der ihr Ursprung ist", im Gegenteil "springt sie auf den fahrenden Zug" und "besteigt – auf eigene Faust – den Konvoi", der, wie Heraklits Wasser, in alle Ewigkeit vor ihr vorbeizieht. Daher gibt es kein Ende, weder der Welt noch der Geschichte, weder der Philosophie noch der Moral, weder der Kunst noch der Politik etc. Diese Themen, die uns seit Nietzsche, Deleuze und Derrida, seit dem englischen Empirismus (Deleuze) oder Heidegger (mit der Hilfe von Derrida) vertraut sind und fruchtbar sind für jedes Verständnis nicht nur der Philosophie, sondern aller ihrer vorgeblichen "Gegenstände" (sei es der Wissenschaft, der Kultur, der Kunst, der Literatur oder jeder anderen Äußerung der Existenz), sind ein wesentlicher Bestandteil dieses Materialismus der Begegnung, wie verkleidet sie auch sein mögen in anderen Begriffen. Heute können wir sie in eine klarere Sprache übersetzen.

Ich nenne den Materialismus der Begegnung nur provisorisch Materialismus6, um seine radikale Opposition zu jedem Idealismus des Bewußtseins, der Vernunft, oder welcher Spielart auch immer herauszustreichen. Ich meine weiter, daß der Materialismus der Begegnung in einer bestimmten Interpretation eines einzigen Satzes besteht: nämlich des "es gibt"* (Heidegger) und seinen Weiterentwicklungen oder Implikationen, die da sind: "es gibt" = "es gibt nichts"; "es gibt" = "es hat immer-schon nichts gegeben", d. h. "etwas". Das "immer-schon" – das ich bisher in meinen Schriften häufig verwendet habe, was jedoch nicht immer bemerkt worden ist – ist der Begriff (auch im Sinn von "greifen"*) dieser Vorgängigkeit jeder Sache vor sich selbst, also auch vor jedem Ursprung. Ich meine also, daß der Materialismus der Begegnung im Primat der Positivität über die Negativität (Deleuze) besteht, im Primat der Abweichung über die gerade Linie – deren Ursprung die Abweichung und nicht die Vernunft ist –, im Primat der Unordnung über die Ordnung (man denke an die Theorie des "Geräusches"), im Primat der "Dissémination" über das Setzen des Sinns in jedem Signifikanten (Derrida), und im Hervorquellen der Ordnung aus der Unordnung, die eine Welt erschafft. Ich meine, daß der Materialismus der Begegnung genauso in der Negation jeden Zwecks und jeder Teleologie besteht, sei sie nun rational, weltlich, moralisch, politisch oder ästhetisch. Schließlich meine ich, daß der Materialismus der Begegnung nicht der eines Subjektes ist (sei es nun Gott oder das Proletariat), sondern der eines Prozesses ohne Subjekt, der jedoch den Subjekten (den Individuen) seine Entwicklung, die kein festgelegtes Ende hat, aufzwingt.

Wenn wir diese Thesen wörtlich nehmen wollten, wären wir dazu veranlaßt, eine gewisse Anzahl von Begriffen zu entwickeln, die natürlich Begriffe ohne Gegenstände sind, da sie die Begriffe von nichts sind, und, da die Philosophie kein Objekt hat, formt sie dieses Nichts zu einem oder mehreren Wesen, um es dort verkennbar und wiedererkennbar zu machen (das ist auch der Grund, warum es dort letztlich verkannt und erahnt wurde). Um sie [die Begriffe] uns vorzustellen, würden wir uns auf die einfachste und zugleich reinste Form beziehen, die sie in der Philosophiegeschichte angenommen haben, nämlich bei Demokrit und vor allem bei Epikur. Es sei an dieser Stelle bemerkt, daß es kein Zufall war, daß das Werk dieser Philosophen die Beute von Flammen wurde. Diese Aufwiegler der gesamten philosophischen Tradition haben mit dem bezahlt, mit dem sie gesündigt haben – mit dem Feuer, das man sich auf den obersten Wipfeln der großen Bäume entzünden sieht, aufgrund der Großen (Lukrez) oder der großen Philosophien. Unter ihrer Gestalt hätten wir (die in jedem Abschnitt der Philosophiegeschichte erneuert werden muß) folgende einfache Formen:

"Die Welt ist alles, was der Fall ist"* (Wittgenstein): die Welt ist alles, was "fällt"; alles, was "geschieht"; "alles, was der Fall ist" – unter Fall verstehen wir casus: Fall und Zufall gleichzeitig, das, was sich im Modus des Unvorhersehbaren ereignet und dennoch zum Sein gehört.

Das bedeutet also folgendes: "es gibt" = "es hat immer gegeben" = "es ist schon immer gewesen"; das "schon" [déja] ist die wesentliche Markierung dafür, daß der Fall* allen verschiedenen Formen des Seins vorausgeht. Es handelt sich um das "es gibt"* von Heidegger, das einfache "Geben" (eher als um das Gegebene, gemäß dem aktiv-passiven Aspekt, den man unterstreichen will), das seiner Präsenz immer vorausgeht. In anderen Worten: es ist das Primat der Abwesenheit über die Anwesenheit (Derrida), nicht als Rückkehr-zu, sondern als ein Horizont, der unaufhörlich zurückweicht wie vor dem Wanderer, der seinen Weg in einer Ebene sucht und immer nur eine andere Ebene vor sich findet (unter der Bedingung, daß es sich nicht um einen cartesianischen Wanderer handelt, der sich damit zufrieden gibt, in einem Wald einfach geradeaus zu gehen, um aus ihm hinauszufinden, weil er annimmt, daß die Welt aus dichten Wäldern besteht, aber auch aus gerodeten, offenen Feldern: ohne "Holzwege"*).

Was geschieht in dieser "Welt" ohne Sein und ohne Geschichte (wie in dem "Wald" von Rousseau)? Es geschieht dort: "es" ist ein unpersönliches Aktiv und Passiv. Begegnungen. Es geschieht dort, das, was auch im universellen Regen von Epikur geschieht – aller Welt vorausgehend, allem Sein, aller Vernunft und allen Ursachen. Es geschieht dort, daß "es sich begegnet", bei Heidegger heißt es, daß "es geworfen ist", in einer ursprünglichen "Schickung". Dies geschieht durch das Wunder des clinamen, von dem es genügt zu wissen, erstens, daß es sich ereignet, wenngleich man nicht weiß, wo und wann, und zweitens, daß es die kleinstmögliche Abweichung ist – das bedeutet, daß man der Leere jede Abweichung zuweisen kann. Der Text von Lukrez ist klar genug, um das zu bezeichnen, was nichts auf der Welt bezeichnen kann und das dennoch Ursprung der Welt ist. Im "Nichts" der Abweichung findet die Begegnung von Atomen statt, und dieses Ereignis wird zum Beginn, unter der Bedingung des Parallelismus der Atome, der – wird er nur ein einziges Mal verletzt – einen gewaltigen Zusammenstoß von unendlich vielen Atomen verursacht, wodurch eine Welt entsteht (eine oder eine andere: woraus eine Pluralität an möglichen Welten resultiert, weshalb der Begriff der Möglichkeit im Begriff einer ursprünglichen Unordnung wurzelt). Daraus resultiert also die Form der Ordnung und die Form der Wesen, die durch diesen Zusammenstoß geboren wurden, da sie von der Struktur der Begegnung bestimmt sind; von daher kommt – ist die Begegnung erst einmal gegeben (nicht aber zuvor) – das Primat der Struktur über ihre Elemente; von daher kommt auch das, was man eine Affinität und Vollkommenheit der Elemente im Spiel der Begegnung nennen mag, ihre "Anhänglichkeit", damit diese Begegnung "greifen" kann, das heißt, damit sie Gestalt annehmen kann, damit sie – auch neue – Formen hervorbringt – so wie auch das Wasser "greift", wenn das Eis es bedroht oder die Milch, wenn sie gerinnt, oder die Mayonnaise, wenn sie hart wird. Von daher erklärt sich auch das Primat des "Nichts" über alle "Formen", das Primat des aleatorischen Materialismus über jeden Formalismus. In anderen Worten, irgend etwas kann nicht irgend etwas hervorbringen, sondern nur die Elemente, die ihrer Begegnung und, durch ihre Affinität, ihrem wechselseitigen "Ergreifen" gewidmet sind. Das ist auch der Grund, warum bei Demokrit und vielleicht sogar bei Epikur die Atome "hakig" sind, das heißt, geeignet, sich ineinander zu verhaken, für alle Zeiten, in alle Ewigkeit.

Sind die Atome also einmal "ergriffen" oder "verhakt", betreten sie das Königreich des Seins, das sie errichten: Sie stellen also Wesen dar, die bestimmbar, unterschiedlich, lokalisierbar, mit dieser oder jener Eigenschaft (gemäß dem Ort und der Zeit) ausgestattet sind. Kurz gesagt, an den Atomen zeichnet sich eine Struktur des Seins oder der Welt ab, die jedem seiner Elemente einen Ort, eine Bedeutung, eine Rolle zuschreibt, die die Elemente als "Elemente von ..." festlegt (die Atome als Elemente der Körper, der Wesen, der Welt). Daraus resultiert, daß die Atome – die weit davon entfernt sind, der Ursprung der Welt zu sein – nur der sekundäre Niederschlag ihrer Zuordnung und ihres Beginns sind. Und um dieserart von der Welt und von den Atomen zu sprechen, ist es notwendig, daß die Welt sei und die Atome schon sind, was den Diskurs über die Welt für immer sekundär macht sowie auch die Seinsphilosophie zweite Philosophie ist (und nicht erste, wie Aristoteles meinte), und das jeden Diskurs über eine erste Philosophie für immer unmöglich (und von daher erklärbar, siehe dazu den Appendix des Ersten Buches der Ethik, das nahezu wörtlich die Kritik von Epikur und Lukrez an sämtlichen Religionen übernimmt) macht – sei sie auch materialistisch (das erklärt, daß Epikur – der das wußte – nicht vom "mechanischen" Materialismus des Demokrit angezogen war, denn dieser Materialismus war nur ein Wiederauftauchen – im Kreis einer möglichen Philosophie der Begegnung – eines dominanten Idealismus der Ordnung, die der Unordnung immanent ist).

Sind diese Prinzipien einmal festgelegt, dann fließt der Rest sozusagen von selbst.

1. Damit ein Wesen sei (ein Körper, ein Tier, ein Mensch, ein Staat, oder ein Fürst), ist es notwendig, daß die Begegnung in der Vorvergangenheit stattgefunden hat. Um uns an Machiavelli zu halten: die Begegnung hat unter Verwandten stattgefunden, so wie zwischen diesem Individuum und dieser Konjunktur oder Schicksal. Die Konjunktur ist selbst eine Verbindung, eine Zusammen-Bindung, eine erstarrte Begegnung – wenngleich sie sich bewegt –, die schon stattgefunden hat und die ihrerseits auf die Unendlichkeit der vorangehenden Ursachen verweist, so wie übrigens ihr Resultat, das ein bestimmtes Individuum ist, Borgia beispielsweise, auf die Unendlichkeit der Folgen der vorangehenden Ursachen verweist.

2. Es gibt nur eine Begegnung zwischen einer Reihe von Wesen, die das Resultat von mehreren Reihen von Ursachen sind – mindestens zwei, aber diese beiden vermehren sich sogleich durch den Effekt des Parallelismus oder die sie umgebende Ansteckung (wie es Breton treffend ausdrückte: "Die Elefanten sind ansteckend"7). Man denkt dabei auch an Cournot, den großen Verkannten.

3. Jede Begegnung ist aleatorisch; nicht nur in ihren Ursprüngen (nichts garantiert jemals eine Begegnung), sondern auch in ihren Effekten. Anders ausgedrückt, jede Begegnung hätte auch nicht stattfinden können, auch wenn sie stattgefunden hat. Ihr mögliches Nichts erhellt die Bedeutung ihres aleatorischen Wesens. Und jede Begegnung ist aleatorisch in ihren Effekten, insofern nichts in den Elementen der Begegnung, vor der Begegnung selbst, die Konturen und Bestimmungen des Wesens abzeichnet, das daraus hervorgehen wird. Julius II. wußte nicht, daß er in seinem Umkreis seinen Todfeind nährte und er wußte auch nicht, daß dieser hart am Tode vorbeigehen würde, und daß er sich im entscheidenden Moment des Schicksals außerhalb der Geschichte befinden würde, um im dunklen Spanien zu sterben. Das bedeutet, daß keine Bestimmung des Wesens, das aus dem "Greifen" der Begegnung hervorgegangen ist, im Wesen der sich begegnenden Elemente vorgezeichnet war – nicht einmal angedeutet –, sondern daß im Gegensatz dazu jede Bestimmung dieser Elemente nur in einer Rückkehr nach hinten, in einer Rückläufigkeit, vom Resultat zu seinem Werden, zuordenbar ist. Wenn man also festhalten muß, daß es kein Ergebnis ohne sein Werden (Hegel) gibt, dann muß man auch behaupten, daß es ein Gewordenes nur gibt als determiniert durch das Resultat dieses Werdens: diese Rückläufigkeit selbst (Canguilhem). Statt den Zufall als Modalität oder Ausnahme einer Notwendigkeit zu denken, muß man vielmehr die Notwendigkeit als das Notwendig-Werden der Begegnung von Zufälligkeiten denken. So sieht man nicht nur die Lebenswelt (Biologen sind in letzter Zeit daraufgekommen, obwohl gerade sie Darwin kennen sollten), sondern auch die historische Welt erstarren in gewissen, glücklichen Momenten des Greifens der Elemente, die eine Begegnung verbindet, die solche Gestalten zu zeichnen vermag: diese Gattung, dieses Individuum, dieses Volk. So kommt es, daß es aleatorische Menschen und "Leben" gibt, die dem Zufall des gegebenen oder empfangenen Todes unterworfen sind. Das gilt auch für "Werke" und für die großen Figuren der Welt, denen das ursprüngliche "Würfelspiel" des Aleatorischen ihre Form gegeben hat – die großen Figuren, in denen die historische Welt ihre "Form angenommen hat" (die Antike, das Mittelalter, die Renaissance, die Aufklärung*, etc.). Es ist daher klar, daß sich jene, die sich daran machen, diese Gestalten, Individuen, Konjunkturen oder Staaten der Welt entweder als notwendiges Ergebnis gegebener Prämissen oder als provisorische Vorwegnahme eines letzten Ziels zu betrachten, irren würden. Denn sie würden das Faktum* vernachlässigen, daß sie provisorische Resultate in zweifacher Hinsicht darstellen: Nicht nur werden die vorläufigen Resultate überschritten werden, sondern sie hätten auch niemals geschehen können oder sie hätten sich nur als Effekt einer "kurzen Begegnung" erweisen können, wären sie nicht vor dem Hintergrund eines guten Schicksals aufgetaucht, das den Elementen die "Chance" zur "Dauer" gegeben hat, den Elementen, deren Verbindung (durch Zufall) durch jene Form beherrscht wird. Hier sehen wir, daß wir nicht Nichts sind, daß wir nicht im Nichts leben. Aber wenn es keinen Sinn der Geschichte gibt (ein Ziel, das sie, von ihren Ursprüngen bis zu ihrem Ende, transzendiert), kann es doch einen Sinn in der Geschichte geben, denn dieser Sinn entspringt einer wirklichen Begegnung, einer wirklich glücklichen oder katastrophalen Begegnung – die auch Sinn ist.

Daraus ergeben sich wesentliche Konsequenzen für die Bedeutung des Wortes "Gesetz". Man wird zugestehen, daß es kein Gesetz gibt, das die Begegnung des Greifens bestimmen würde. Aber man wird sagen, sobald die Begegnung "gegriffen" hat, das heißt, sobald sich eine stabile Form der Welt, der einzigen, die existiert (denn das Auftauchen einer Welt schließt alle möglichen anderen aus), konstituiert hat, haben wir es mit einer stabilen Welt zu tun, deren Ereignisse in ihrer Abfolge den "Gesetzen" gehorchen. Es ist also unwichtig, ob die Welt, unsere Welt (denn wir kennen keine andere; unter der Unendlichkeit möglicher Attribute kennen wir nur das Erkennen und den Raum – "Faktum"* hätte Spinoza dazu sagen können), entweder aus der Begegnung der Atome, die im epikureischen Regen der Leere fielen, hervorgegangen ist oder aus dem "Urknall", von dem die Astronomen reden. Es ist eine Tatsache, daß wir es mit dieser Welt zu tun haben und nicht mit einer anderen, es ist eine Tatsache, daß diese Welt eine "geordnete" ist (wie man das auch über einen ehrlichen Spieler sagt: denn diese Welt spielt und sie spielt sich regelrecht mit uns), eine Welt, die Regeln unterworfen ist und Gesetze befolgt. Sobald eine Begegnung "gegriffen" hat, resultiert daraus die große Versuchung – die selbst für jene gegeben ist, die uns die Voraussetzungen des Materialismus der Begegnung gewähren würden –, in der Prüfung jener Gesetze Zuflucht zu nehmen, die aus diesem "Form-Nehmen" hervorgegangen sind, und diese Formen, im Grunde, unendlich zu wiederholen. Denn es ist auch ein "Faktum"*, daß es eine Ordnung in dieser Welt gibt, und daß die Erkenntnis dieser Welt über die Erkenntnis ihrer "Gesetze" (Newton) und der Bedingung der Möglichkeit nicht ihrer Existenz, sondern ihrer Erkenntnis verläuft – nicht über die Möglichkeitsbedingungen der Existenz der Gesetze: gewiß eine Art, die alte Frage vom Ursprung der Welt auf irgendwann zu verschieben (so geht auch Kant vor), aber auch, um den Ursprung dieser zweiten Begegnung, die die Erkenntnis der ersten Begegnung – in dieser Welt – ermöglicht, besser zu verdunkeln (die Begegnung zwischen den Dingen und den Begriffen).

Wir nehmen uns vor dieser Versuchung in acht und unterstützen eine These, die Rousseau sehr wichtig war. Diese These besagt, daß der Vertrag auf einem "Abgrund" ruht, daß die Notwendigkeit der Gesetze, die aus der Begegnung hervorgegangen sind, selbst in ihrer größten Stabilität von einer radikalen Instabilität bedroht wird. Das erklärt, was uns so schwer fällt zu verstehen, denn es verletzt unseren Sinn von "Konventionen": zu wissen, daß sich Gesetze verändern können, nicht daß sie nur für einen beschränkten Zeitraum gelten und nicht für die Ewigkeit (in seiner Kritik der klassischen politischen Ökonomie ging Marx genau bis zu diesem Punkt, wie es sein "russischer Kritiker" gut verstanden hatte: jede historische Epoche hat ihre eigenen Gesetze, aber er ging nicht weiter, wie wir sehen werden), sondern daß sie sich jederzeit verändern können und so ihr aleatorisches Fundament, auf dem sie ohne ersichtliches Ziel und ohne intelligiblen Grund bauen, aufdecken. Das ist ihre Überraschung (es gibt kein Ergreifen ohne Überraschung), die die Geister bei den großen Ausbrüchen, Ausrenkungen oder Schwebemomenten der Geschichte so frappiert, seien es jene der Individuen (zum Beispiel: der Wahnsinn), seien es jene der Welt, wenn die Würfel unerwarteterweise wieder auf den Tisch geworfen werden, oder die Karten ohne Vorankündigung neu gemischt werden, wie im Wahnsinn, der die "Elemente" entfesselt, um sie für ein neues, unerwartetes Greifen zu befreien (Nietzsche, Artaud). Es wird niemandem schwerfallen, hierin einen der grundlegenden Züge der Geschichte der Individuen oder der Welt zu erkennen, der Offenbarung, die aus einem Unbekannten einen Autor oder einen Wahnsinnigen macht, oder beides zugleich, wenn etwa gleichzeitig ein Hölderlin, ein Goethe und ein Hegel zur Welt kommen, wenn die Französische Revolution ausbricht und triumphiert bis hin zu dem Einmarsch Napoleons, dem "Weltgeist" unter Hegels Fenster in Jena, wenn die Pariser Commune aus dem Verrat hervorgeht, wenn es 1917 in Rußland explodiert und umso mehr in der (kulturellen) Revolution, wo wirklich fast alle "Elemente" in einem gigantischen Raum entfesselt wurden – oder dann, wenn sich die dauerhafte Begegnung nicht ereignet, wie am 13. Mai, als die Arbeiter und die Studenten, die sich zusammenschließen sollten, sich in ihren langen parallelen Demonstrationszügen kreuzten, ohne jemals zusammenzukommen, indem sie es um jeden Preis vermieden zusammenzukommen, sich zu vereinen zu einer Einheit, die zweifellos für immer ohne Präzedenzfall ist (der Regen in seinen vermiedenen Effekten).

Die Produktionsweise bei Marx

Um eine Vorstellung des unterirdischen Stroms des Materialismus der Begegnung zu vermitteln, jenes Materialismus, der so wichtig war für Marx, und seiner Verdrängung durch einen (philosophischen) Materialismus der Essenz, muß man von der Produktionsweise sprechen. Niemand wird die Bedeutung dieses Begriffs leugnen, der nicht nur dazu dient, jede gesellschaftliche Formation zu denken, sondern auch dazu, deren Geschichte zu periodisieren, das heißt, eine Theorie der Geschichte zu gründen.8

Man findet bei Marx zwei Konzeptionen der Produktionsweise, die nichts miteinander zu tun haben.

Die erste geht auf die Lage der arbeitenden Klasse in England von Engels zurück, der ihr wahrer Anreger ist: Sie findet sich in dem berühmten Kapitel über die ursprüngliche Akkumulation, den Arbeitstag usw. und in zahllosen kleinen Anspielungen, auf die ich zurückkommen werde. Man kann sie auch in der Theorie über die asiatische Produktionsweise finden. Die zweite Konzeption findet sich in den großen Passagen des Kapitals über das Wesen des Kapitalismus, wie in jenen über die feudale Produktionsweise und die sozialistische Produktionsweise, über die Revolution, und allgemeiner in der "Theorie" der Transition oder der Übergangsformen von einer Produktionsweise zu einer anderen. Was in den letzten zwanzig Jahren über die "Transition" vom Kapitalismus zum Kommunismus geschrieben wurde, übersteigt das Begriffsvermögen und die Aufzählung!

In unzähligen Passagen erklärt uns Marx – und das ist sicherlich kein Zufall –, daß die kapitalistische Produktionsweise geboren wird aus der "Begegnung" zwischen dem "Mann mit den Talern" und dem Proletarier, der nichts hat außer seiner Arbeitskraft. "Es trifft sich", daß diese Begegnung stattgefunden hat und "gegriffen" hat, was heißen soll, daß sie sich nicht sofort wieder aufgelöst hat, sondern angedauert hat und zu einem fait accompli geworden ist, das fait accompli dieser Begegnung, die stabile Beziehungen hervorruft und eine Notwendigkeit, deren Erforschung uns die "Gesetze", die tendenziellen Gesetze natürlich, liefert: die Gesetze der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise (das Wertgesetz, das Gesetz des Tausches, das Gesetz der zyklischen Krisen, das Gesetz von der Krise und der Auflösung der kapitalistischen Produktionsweise, das Gesetz vom Übergang – der Transition – zur sozialistischen Produktionsweise unter den Gesetzen des Klassenkampfes, etc.). Was an dieser Konzeption relevant ist, ist nicht so sehr die Entwicklung der Gesetze, also einer Essenz, als der aleatorische Charakter des "Greifens" dieser Begegnung, die dem fait accompli stattgegeben hat, dessen Gesetze sich angeben lassen.

Man kann dies auch anders sagen: Das Ganze, das aus dem "Greifen" dieser "Begegnung" resultiert, ist dem "Greifen" der Elemente nicht vorgängig, sondern nachträglich und aus diesem Grunde hätte es auch nicht "greifen" können und "die Begegnung hätte nicht stattfinden können". All das steckt, nur halb ausgesprochen sicherlich, in der Marx'schen Formulierung, wenn er so oft von der "Begegnung" (das Vorgefundene*) zwischen dem Mann mit den Talern und der nackten Arbeitskraft spricht. Man kann sogar noch weiter gehen und unterstellen, daß die Begegnung oftmals in der Geschichte stattgefunden hat, bevor sie im Abendland gegriffen hat, aber mangels eines Elements oder mangels der Disposition der Elemente hat sie vorher nie "gegriffen". Zeugen dafür sind etwa diese italienischen Staaten des 13. und 14. Jahrhunderts in der Poebene, wo es sehr wohl den Mann mit den Talern gab, ebenso die Technologie und die Energie (Maschinen, die durch die hydraulische Kraft der Flüsse bewegt wurden) und die Arbeitskraft (arbeitslose Handwerker) und wo das Phänomen dennoch nicht "gegriffen" hat. Zweifellos mangelte es dort (vielleicht ist dies eine Hypothese) an dem, was Machiavelli mit seinen Appellen an einen Nationalstaat verzweifelt gesucht hat, das heißt an einem inneren Markt zur Absorption der möglichen Produktion.

Wenn man auch nur ein bißchen über die Erfordernisse dieser Konzeption nachdenkt, bemerkt man, daß sie zwischen der Struktur und den Elementen, die sie verbinden soll, eine sehr eigenartige Beziehung setzt. Was ist denn eine Produktionsweise? Mit Marx haben wir festgestellt: eine besondere "Kombination" der Elemente. Diese Elemente setzen sich zusammen aus der finanziellen Akkumulation (jene des Mannes mit den Talern), aus der Akkumulation der technischen Produktionsmittel (Werkzeuge, Maschinen, Produktionserfahrung bei den Arbeitern), der Akkumulation der Rohstoffe (die Natur) und der Akkumulation der Produzenten (die Proletarier ohne jegliches Produktionsmittel). Diese Elemente existieren nicht in der Geschichte, damit eine Produktionsweise existiert, sie existieren in ihr in einem "flottierenden" Zustand vor ihrer "Akkumulation" und "Kombination", jedes als das Produkt seiner eigenen Geschichte, keines als das teleologische Produkt der anderen oder von deren Geschichte. Wenn Marx und Engels sagen, daß das Proletariat "das Produkt der großen Industrie" ist, dann sagen sie eine große Dummheit und situieren sich innerhalb der Logik des fait accompli der erweiterten Reproduktion des Proletariats und nicht innerhalb der aleatorischen Logik der "Begegnung", welche diese Masse von nackten und besitzlosen Menschen als Proletariat produziert (und nicht etwa reproduziert), als eines der konstituierenden Elemente der Produktionsweise. Damit gehen sie von der ersten Konzeption der Produktionsweise, der historisch-aleatorischen, zu der zweiten, der philosophischen und essentialistischen, Konzeption über.

Ich wiederhole mich: Was an dieser ersten Konzeption bemerkenswert ist, ist, jenseits der expliziten Theorie der Begegnung, die Idee, daß jede Produktionsweise konstituiert wird von Elementen, die unabhängig voneinander sind, da jedes Element das Resultat einer eigenen Geschichte ist, ohne daß ein organisches und teleologisches Verhältnis zwischen diesen unterschiedlichen Geschichten besteht. Diese Konzeption gipfelt in der Theorie von der ursprünglichen Akkumulation, der Marx, von Engels inspiriert, ein großartiges Kapitel – das wahre Herzstück des Kapitals – gewidmet hat. Dort sieht man, wie sich ein historisches Phänomen produziert, dessen Resultat man kennt: Die Enteignung der Produktionsmittel einer ganzen ländlichen Bevölkerung in Großbritannien. Die Ursachen stehen dabei aber nicht in einem Bezug zum Resultat mitsamt seinen Effekten. War es, um sich große Ländereien zur Jagd zu verschaffen? oder endlose Felder zur Schafzucht? Man weiß nicht genau (ohne Zweifel wissen es die Schafe), welcher Grund der vorherrschende war in diesem Prozeß der gewaltsamen Enteignung: Tatsache ist, daß dieser Prozeß stattgefunden hat und zu einem Resultat geführt hat, das die Männer mit den Talern sogleich von seinem möglichen Ziel abgelenkt haben, auf der Suche nach billigen Arbeitskräften. Dieses Ablenkungsmanöver ist die Markierung der Nicht-Teleologie des Prozesses und der Einschreibung seines Resultates in einen Prozeß, der es ermöglicht hat und das ihm insgesamt fremd war.

Es wäre im übrigen falsch zu glauben, daß dieser Prozeß einer aleatorischen Begegnung sich auf England im 14. Jahrhundert beschränkt. Er hat sich immer fortgesetzt und setzt sich auch heute noch fort, nicht nur in den Ländern der Dritten Welt, die das auffälligste Beispiel dafür sind, sondern auch bei uns, in der Enteignung der Landwirte und ihrer Transformation in Facharbeiter (siehe Sandouville: Bretonen an die Maschinen), als ein andauernder Prozeß, der das Aleatorische ins Herz des Überlebens und der Verstärkung der kapitalistischen Produktionsweise einschreibt, sowie übrigens auch ins Herz der sogenannten sozialistischen Produktionsweise. Und dort sieht man die marxistischen Forscher unablässig das Phantasma von Marx wiederaufnehmen und die Reproduktion des Proletariats denken, während sie glaubten, dessen Produktion zu denken, und im fait accompli denken, während sie glaubten, dessen Werdensvollzug zu denken.

Tatsächlich gibt es bei Marx die Möglichkeit, diesem Irrtum zu verfallen, wenn er jener anderen Konzeption der kapitalistischen Produktionsweise nachgibt: einer totalitären, teleologischen und philosophischen Konzeption.

In diesem Fall hat man es also mit allen unterschiedlichen Elementen, von denen die Rede war, zu tun, aber sie sind so gedacht und angeordnet, als ob sie seit aller Ewigkeit dazu prädestiniert waren, sich miteinander zu verbinden, sich wechselseitig als ihre eigenen Ziele und/oder Ergänzungen zu produzieren. In dieser Hypothese läßt Marx absichtlich den aleatorischen Charakter der "Begegnung" und ihres "Greifens" beiseite, um nur noch im fait accompli des "Greifens" und damit in dessen Prädestination zu denken. In dieser Hypothese hat kein Element mehr eine unabhängige Geschichte, sondern eine Geschichte mit einem Zweck: jenem, sich den anderen Geschichten anzupassen. Die Geschichte bildet so ein Ganzes, das unablässig seine eigenen Elemente mit ihrem eigenen Ineinandergreifen reproduziert. In dieser Art denken Marx und Engels das Proletariat als "Produkt der großen Industrie", "Produkt der kapitalistischen Ausbeutung", "Produkt des Kapitalismus" und verwechseln die Produktion des Proletariats mit seiner erweiterten kapitalistischen Reproduktion, als ob die kapitalistische Produktionsweise einem ihrer wesentlichsten Elemente, der enteigneten Arbeitskraft, vorangegangen wäre. Hier flottieren die jeweiligen Geschichten nicht in der Geschichte wie Atome in der Leere, zugunsten einer "Begegnung", die auch nicht stattfinden könnte. Alles ist im Vornherein vollzogen, die Struktur geht ihren Elementen voraus und reproduziert sie, um die Struktur zu reproduzieren. Was für die ursprüngliche Akkumulation gilt, gilt auch für den "Mann mit den Talern". Woher kommt er, dieser "Mann mit den Talern", bei Marx? Man weiß es nicht genau: vom Handelskapitalismus? vom Wucher? von der ursprünglichen Akkumulation? von den Plünderungen der Kolonien? Dies mag für uns nicht bedeutsam sein, aber für Marx ist es erstaunlich bedeutsam – das Wesentliche ist das Resultat, daß er existiert. Marx gibt diese These auf und bevorzugt die These einer "mythischen" Auflösung der feudalen Produktionsweise und der Geburt der Bourgeoisie im Herzen dieser Auflösung, was neue Rätsel aufwirft. Was beweist, daß die feudale Produktionsweise geschwächt wird und sich auflöst, um zu verschwinden – man mußte 1850-1870 in Frankreich abwarten, bis sich der Kapitalismus installiert. Und vor allem, was beweist, daß die Bourgeoisie nicht eine Klasse der feudalen Produktionsweise ist, deren Produkt sie ja sein soll, eine Klasse, die für die Stärkung der feudalen Produktionsweise und nicht für deren Untergang steht? Diese Rätsel des Kapitals konzentrieren sich beide auf dasselbe Objekt: das Finanzkapital und das Handelskapital auf der einen Seite, und die Natur der bürgerlichen Klasse als deren Träger und Profiteure auf der anderen Seite.

Wenn man sich wie Marx damit zufrieden gibt, die gesamte Definition des Kapitals auf die Akkumulation von "geldheckendem Geld" zu beschränken (G'' = G + G') – Geld, das einen finanziellen Mehrwert produziert –, dann kann man von Finanz- und Handelskapitalismus sprechen. Aber das sind Kapitalismen ohne Kapitalisten, Kapitalismen ohne Ausbeutung der Arbeitskraft, Kapitalismen, wo der Tausch mehr oder weniger eine Form annimmt, die nicht dem Wertgesetz folgt, sondern den Praktiken direkter und indirekter Plünderungen. Und hier treffen wir folglich auf die große Frage der Bourgeoisie. Marxens Lösung ist einfach und entwaffnend. Die Bourgeoisie wird, als antagonistische Klasse, durch die Auflösung der herrschenden feudalen Klasse produziert. Wir finden hier das Schema der dialektischen Produktion wieder, das Gegenteil, welches sein Gegenteil produziert. Wir finden hier auch die dialektische These der Negation wieder, wonach dieses Gegenteil sich natürlicherweise durch eine konzeptionelle Notwendigkeit seinem Gegenteil substituieren muß und dominant wird. Und wenn es nicht so wäre? Wenn die Bourgeoisie, weit davon entfernt, das gegenteilige Produkt des Feudalismus zu sein, vielmehr dessen Vollendung wäre, der Höhepunkt, die höchste Form, die Perfektionierung sozusagen? Das würde es erlauben, zahlreiche Probleme loszuwerden, die ebensoviele Sackgassen sind, wie diese bürgerlichen Revolutionen, wie die französische, die unbedingt kapitalistische Revolutionen sein sollten, es aber nicht waren, oder etwa Probleme, die Mysterien sind: Was ist denn diese merkwürdige Klasse, deren Zukunft kapitalistisch ist, die sich aber lange vor jedem Kapitalismus im Feudalismus gebildet hat, was ist die Bourgeoisie?

Ebenso wie es bei Marx keine befriedigende Theorie der sogenannten kaufmännischen Produktionsweise gibt, ebensowenig wie eine befriedigende Theorie des Handels- und Finanzkapitalismus, so gibt es bei Marx auch keine befriedigende Theorie der Bourgeoisie, außer einen übermäßigen Gebrauch des Adjektivs "bourgeois/bürgerlich", als ob ein Adjektiv die Stelle eines Begriffs des reinen Negativen einnehmen könnte. Und es ist kein Zufall, wenn die Theorie der Bourgeoisie als Form der antagonistischen Auflösung der feudalen Produktionsweise der philosophischen Konzeption der Produktionsweise entspricht. Die Bourgeoisie wird hier zu jenem Element, das prädestiniert ist, alle anderen Elemente der Produktionsweise zu vereinen, was daraus eine andere Kombination macht, jene der kapitalistischen Produktionsweise. Die Bourgeoisie wird hier zur Dimension des Ganzen und der Teleologie, die jedem Element seine Rolle und seinen Platz im Ganzen zuweist und es in seiner Existenz und in seiner Rolle reproduziert.

Dies ist der Antipode der Konzeption einer "Begegnung" zwischen Bourgeoisie, als einem flottierenden Element, und allen anderen flottierenden Elementen, um eine Produktionsweise zu konstituieren, den Kapitalismus. Ansonsten gibt es keine Begegnung, denn die Einheit geht den Elementen voraus, denn es gibt nicht jene Leere, die notwendig ist für jede aleatorische Begegnung. Während es darum geht, das zu vollendende Faktum zu denken, installiert sich Marx im vollendeten Faktum, im fait accompli, und lädt uns ein, ihm in die Gesetze seiner Notwendigkeit zu folgen.

Wir haben früher (siehe Das Kapital lesen), Marx folgend, eine Produktionsweise als eine doppelte Kombination (Balibar) definiert, jene der Produktionsmittel und jene der Produktionsverhältnisse. Wenn wir diese Analyse weitertreiben wollen, dann müssen wir hier mehrere Elemente unterscheiden: "Produktivkräfte, Produktionsmittel, Besitzer der Produktionsmittel, Produzenten mit und ohne Mittel, Natur, Menschen usw." Die Produktionsweise wird dann zu einer Kombination, welche die Produktivkräfte (die Produktionsmittel, die Produzenten) der Vorherrschaft einer Totalität unterstellt, wo die Besitzer der Produktionsmittel herrschend sind. Diese Kombination ist essentiell, sie ist ein für alle Mal fixiert, sie entspricht einem Referenzzentrum; sie kann sich wohl auflösen, aber selbst in ihrem Übergang bewahrt sie immer dieselbe Struktur. Eine Produktionsweise ist eine Kombination, weil sie eine Struktur ist, die ihre Einheit einer Reihe von Elementen auferlegt. Was an einer Produktionsweise bedeutsam ist, ist der Modus der Vorherrschaft der Struktur über ihre Elemente. So hat etwa in der feudalen Produktionsweise die Struktur der Abhängigkeit den Elementen ihren Sinn auferlegt: der Besitz des Landgutes, einschließlich der Leibeigenen, die darauf arbeiten, der Besitz der kollektiven Instrumente (der Mühle, des Bauernhofs, etc.) durch den Herrn, die untergeordnete Rolle des Geldes, bis sich die Geldverhältnisse allen aufzwingen werden. In der kapitalistischen Produktionsweise ist es die Struktur der Ausbeutung, die sich allen Elementen auferlegen wird, die Unterordnung der Produktionsmittel und der Produktivkräfte unter den Ausbeutungsprozeß, die Ausbeutung der Arbeiter ohne alle Produktionsmittel, das Monopol der Produktionsmittel in den Händen der kapitalistischen Klasse, etc.

 
 
Anmerkungen

* im Original deutsch.
1 Vgl. Malebranche, Traité de la nature et de la grâce, I, § 14, Anmerkung: „ Ich bediene mich der Unregelmäßigkeit des einfachen Regens, um den Geist eines anderen Regens zu erschaffen, der weder den Verdiensten der Menschheit geschuldet ist, noch wie der alltägliche Regen gleichermaßen auf die besäte Erde fällt wie auf das brache Land.“
2 Im Original: "déviation". Lat.: Abweichung, Neigung; in Folge auch mit Abweichung übersetzt. (A. d. Ü.)
3 Lat.: Neigung, Beugung. (A. d. Ü.)
4 Zum Grenzwert hin unendlich klein werdend (mathematischer Ausdruck). (A. d. Ü.)
5 Im Original: "pris dans la glace": fest gefroren im Eis.
"pris": Partizip von prendre (u. a.: Besitz ergreifen von).
"prise": Nehmen; Eroberung; Einflußnahme. (A. d. Ü.)
6 Und aus diesem Grund erlaubt Dominique Lecourt es sich mit vollem Recht, in einem bemerkenswerten Werk - das selbstverständlich von der Universität verkannt wurde, nachdem sie fälschlicherweise angenommen hatte, erstes Ziel seiner Verachtung zu sein - bei Marx vom „Surmaterialismus“ zu sprechen. Vgl. Lecourt, Dominique (1981): L’Ordre et les jeux, letzter Teil, Paris: Grasset.
7 Vgl. Feuerbach, der Plinius den Älteren zitiert: „Die Elefanten haben keine Religion“. Feuerbach, Ludwig (1969): Das Wesen des Christentums, S. 37.
8 Vgl. Althusser, Louis und Etienne Balibar (1972): Das Kapital lesen, Bd. 2, S. 268ff.

 
 
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Übersetzung von: Louis Althusser: Le courant souterrain du matérialisme de la rencontre, in: Ècrits philosophiques et politiques, Bd. 1. Paris: Éditions STOCK/IMEC, S. 539-579.

Diese Übersetzung ist im Kontext eines Seminars von Isolde Charim an der Universität Wien entstanden. Die Zwischenüberschriften wurden von den Herausgebern hinzugefügt.