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Der unterirdische
Strom des Materialismus der Begegnung
von
Louis Althusser
Es regnet.
Daher soll dieses Buch zunächst ein Buch über den einfachen Regen
sein.
Malebranche fragte sich, "warum regnet es auf das Meer, die großen
Wege und auf Sand", da doch dieses Wasser des Himmels, das anderswo
Kulturland bewässert (was sehr gut ist), dem Wasser des Meeres nichts
hinzufügt und sich auf den Wegen und im Sand verläuft.
Es wird nicht um diesen schicksalhaften oder nichtschicksalhaften
Regen gehen.1
Dieses Buch bezieht sich ganz im Gegenteil auf einen anderen Regen,
auf ein tiefgründiges Thema, das sich quer durch die ganze Philosophiegeschichte
zieht und das bekämpft und verdrängt wurde, sobald es ausgesprochen
war: Epikurs "Regen" (Lukrez) der Atome, die parallel ins Leere
fallen, der "Regen" des Parallelismus der unendlichen Attribute
bei Spinoza und noch viele andere, Machiavelli, Hobbes, Rousseau,
Marx, sowie Heidegger und Derrida.
Dies ist der erste Punkt, den ich, um gleich zu Beginn meine Hauptthese
offenzulegen, klar herausstellen möchte: Die Existenz einer beinahe
völlig verkannten materialistischen Tradition in der Philosophiegeschichte:
Der "Materialismus" (er muß mit einem Wort in seiner Ausprägung
bestimmt werden) des Regens, der Abweichung2, der
Begegnung und des Greifens. Ich werde alle diese Begriffe näher
erläutern. Um die Sache zu vereinfachen, nennen wir ihn vorerst
einmal: Materialismus der Begegnung, also des Aleatorischen
und der Kontingenz, der sich als ein ganz anderes Denken den verschiedenen
erfaßten Materialismen entgegenstellt, darunter dem geläufigerweise
Marx, Engels und Lenin zugeschriebenen Materialismus, der
wie jeder Materialismus aus der Tradition des Rationalismus
ein Materialismus der Notwendigkeit und der Teleologie, das heißt
soviel wie eine umgewandelte und verdeckte Form des Idealismus ist.
Daß dieser Materialismus der Begegnung von der philosophischen Tradition
verdrängt wurde, heißt nicht, daß sie ihn nicht beachtet hätte:
Er war zu gefährlich. Daher wurde er auch sehr bald interpretiert,
verdrängt und umgedreht in einen Idealismus der Freiheit.
Wenn Epikurs Atome, die in einem parallelen Regen ins Leere fallen,
sich begegnen, dann um in der Abweichung, die vom clinamen3
herbeigeführt wird, die Existenz der menschlichen Freiheit selbst
in der Welt der Notwendigkeit wiedererkennen zu lassen. Es genügt
offensichtlich, diese eigennützige Fehldeutung zu erbringen, um
jede ganz andere Interpretation dieser verdrängten Tradition, die
ich den Materialismus der Begegnung nenne, abzuwürgen. Von dieser
Fehldeutung ausgehend setzen sich die idealistischen Interpretationen
durch, denen es nicht mehr um das bloße clinamen geht, sondern
um den ganzen Lukrez, den ganzen Machiavelli, Spinoza, Hobbes, um
den Rousseau des zweiten Discours, um Marx und um Heidegger
selbst, soweit er dieses Thema berührt hat. In diesen Interpretationen
setzt sich ein bestimmter Begriff von Philosophie und Philosophiegeschichte
durch, den man mit Heidegger als abendländisch charakterisieren
kann, denn er bestimmt seit den Griechen unser Geschick, und als
logozentrisch, denn er setzt die Philosophie mit einer Funktion
des Logos gleich, die damit beauftragt ist, die Vorgängigkeit des
Sinns vor aller Realität zu denken.
Diesen Materialismus der Begegnung aus seiner Verdrängung zu befreien,
wenn möglich herauszufinden, was er sowohl über die Philosophie
als auch über den Materialismus mit einschließt, die versteckten
Wirkungen da wiederzuerkennen, wo sie stumm wirken, das ist die
Aufgabe, der ich mich stellen möchte.
Epikur und Heidegger
Man kann von einem Vergleich ausgehen, der überraschen wird: dem
von Epikur und Heidegger.
Epikur erklärt uns, daß vor der Entstehung der Welt eine Unzahl
an Atomen parallel ins Leere fiel. Sie fallen immer noch. Das impliziert,
daß vor der Welt nichts war, und gleichzeitig, daß alle Elemente
der Welt schon immer da waren, bevor noch irgendeine Welt war. Das
impliziert auch, daß vor der Entstehung der Welt kein Sinn
existierte, weder Grund noch Zweck, weder Vernunft noch Unvernunft.
Die Nicht-Vorgängigkeit des Sinns ist eine fundamentale These Epikurs,
mit der er sich Plato genauso wie Aristoteles entgegenstellt. Das
clinamen taucht auf. Ich überlasse Spezialisten die Wissensfrage,
wer den Begriff eingeführt hat, den man bei Lukrez findet, der aber
in den Fragmenten des Epikur fehlt. Die Tatsache, daß man ihn "eingeführt"
hat, läßt vermuten, daß sein Begriff unentbehrlich war für die "Logik"
von Epikurs Thesen. Das clinamen ist eine infinitesimale4
Abweichung, "so klein als möglich", die, "man weiß nicht
wo, noch wann, noch wie" stattfindet, und die veranlaßt, daß ein
Atom von seinem senkrechten Fall ins Leere abweicht, und die, indem
sie den Parallelismus an einem Punkt auf kaum merkliche Weise unterbricht,
eine Begegnung mit dem benachbarten Atom verursacht und von
einer Begegnung zur nächsten eine Karambolage, und die Entstehung
einer Welt, das heißt des Aggregats von Atomen, die von der ersten
Abweichung und der ersten Begegnung in einer Kettenreaktion hervorgerufen
wird.
Daß der Ursprung jeder Welt, also aller Realität und allen Sinns
auf eine Abweichung zurückzuführen sei, daß die Abweichung und nicht
die Vernunft oder die Ursache der Ursprung der Welt ist, gibt eine
Vorstellung von der Kühnheit der These Epikurs. Welche Philosophie
hat folglich, in der Geschichte der Philosophie, die These wieder
aufgenommen, daß die Abweichung ursprünglich sei und nicht
abgeleitet? Man muß noch weiter gehen. Damit die Abweichung Anlaß
gibt zu einer Begegnung, aus der eine Welt hervorgeht, ist es notwendig,
daß sie andauert, daß es keine "kurze Begegnung" ist, sondern eine
dauerhafte Begegnung, die dann die Basis aller Realität, aller Notwendigkeit,
allen Sinns und aller Vernunft wird. Aber die Begegnung kann auch
nicht andauern und dann gibt es keine Welt. Hinzu kommt, daß man
sieht, daß die Begegnung nicht die Realität der Welt begründet,
die nichts ist als agglomerierte Atome, sondern daß sie den Atomen
selbst ihre Realität gibt, die sonst nichts als abstrakte Elemente
wären, ohne Beschaffenheit, ohne Existenz. Derart kann man behaupten,
daß die eigene Existenz den Atomen nur durch die Abweichung und
die Begegnung zukommt, vor der sie nur ein schemenhaftes Dasein
führten.
Man kann dies alles mit anderen Worten sagen. Die Welt kann die
vollendete Tatsache, fait accompli, genannt werden, in der sich,
sobald die Tatsache einmal vollendet ist, die Herrschaft der Vernunft,
des Sinns, der Notwendigkeit und des Zwecks errichtet. Aber diese
Vollendung der Tatsache ist nichts als der reine Effekt der
Kontingenz, da sie ja von der aleatorischen Begegnung der Atome
abhängt, die auf die Abweichung des clinamen zurückzuführen
ist. Vor der Vollendung der Tatsache, vor der Welt, gibt es nur
die Nicht-Vollendung der Tatsache, die Nicht-Welt, die nur
die irreale Existenz der Atome ist.
Was wird unter diesen Umständen aus der Philosophie? Sie ist nicht
mehr Ausdruck der Vernunft und des Ursprungs der Dinge, sondern
Theorie ihrer Kontingenz und Anerkennung der Tatsache, der
Tatsache der Kontingenz, der Tatsache der Unterwerfung der Notwendigkeit
unter die Kontingenz und der Tatsache der Formen, die den Effekten
der Begegnung "Gestalt verleihen". Sie ist nur mehr Feststellung:
es hat ein Zusammentreffen gegeben, und die einen Elemente
haben die anderen "ergriffen" (so wie man sagt, das Eis ergreife
Besitz von einem)5. Jede Frage nach dem Ursprung wird
verworfen, wie alle großen Fragen der Philosophie: "Warum ist etwas
eher als nichts? Was ist der Ursprung der Welt? Was ist die Existenzberechtigung
der Welt? Was ist die Stellung des Menschen im Weltganzen? etc."
Ich wiederhole: Welche Philosophie in der Geschichte hatte die Kühnheit,
solche Thesen wieder aufzunehmen?
Ich sprach von Heidegger. Ausgerechnet bei ihm, der ganz offensichtlich
weder Epikureer noch Atomist ist, findet man einen analogen Gedankengang.
Daß er jede Frage nach dem Ursprung, jede Frage nach Grund und Zweck
der Welt zurückweist, weiß man. Aber es gibt bei ihm eine ganze
Reihe von Ausführungen rund um den Ausdruck "es gibt"*,
"da ist", "das ist so gegeben", die mit Epikurs Idee übereinstimmen.
"Es gibt die Welt, die Materie, die Menschen...". Eine Philosophie
des "es gibt"*, des "das ist so gegeben", rechnet
mit all den klassischen Fragen nach dem Ursprung, etc. ab. Und sie
"eröffnet" eine Sichtweise, die eine Art transzendentaler Kontingenz
der Welt, in die wir "geworfen" sind, wiederherstellt, eine
Kontingenz des Sinns der Welt, der auf die Entfaltung des Seins
verweist, auf den ursprünglichen Trieb des Seins, auf seine "Sendung",
über die hinaus es nichts zu suchen noch zu denken gibt. Die Welt
ist uns also eine "Gabe", eine "wahrhaftige Tatsache", die wir uns
nicht ausgesucht haben und die sich vor uns in der Faktizität ihrer
Kontingenz "öffnet", und sogar über diese Faktizität hinaus in dem,
was nicht bloß eine Feststellung ist, sondern ein "In-der-Welt-Sein",
das jeden möglichen Sinn beherrscht. "Das Dasein ist der Hüter des
Seins." Hier hängt alles vom "da" ab. Was bleibt der Philosophie?
Noch einmal, aber in der transzendentalen Weise: es bleibt die
Feststellung "es gibt"* und ihre Voraussetzungen
oder vielmehr ihre Effekte in ihrer unüberwindlichen "Gegebenheit".
Ist das noch Materialismus? Die Frage hat nicht viel Sinn bei Heidegger,
der bewußt eine Position außerhalb der großen Einteilungen und Bezeichnungen
der abendländischen Philosophie einnimmt. Aber sind Epikurs Thesen
noch materialistisch? Vielleicht ja, ohne Zweifel, aber unter der
Bedingung, mit einer Auffassung von Materialismus abzuschließen,
die ihn auf der Grundlage gemeinsamer Fragen und Begriffe zur Antwort
auf den Idealismus macht. Wenn wir nun weiterhin über den Materialismus
der Begegnung sprechen werden, geschieht das aus praktischen Gründen:
man muß eben wissen, daß Heidegger hier hinein gehört und daß sich
dieser Materialismus der Begegnung allen klassischen Kriterien des
Materialismus entzieht und daß man eben ein Wort braucht, um die
Sache zu bezeichnen.
Machiavelli
Machiavelli wird unser zweite Zeuge in der Geschichte dieser unterirdischen
Tradition des Materialismus der Begegnung sein. Man kennt sein Projekt:
unter den unmöglichen Umständen des Italien des 16. Jahrhunderts
die Voraussetzungen der Gründung eines italienischen Nationalstaates
zu denken. Alle Umstände wären günstig, um Frankreich oder Spanien
nachzuahmen, aber sie sind ohne Zusammenhang untereinander:
ein uneiniges Volk, aber leidenschaftlich, die Zerstückelung Italiens
in kleine, veraltete und von der Geschichte verdammte Staaten, die
sich ausbreitende, aber unorganisierte Empörung einer ganzen Welt
gegen die Okkupation und die Plünderung durch die Fremden und eine
latente tiefe Sehnsucht des Volkes nach Einheit, von der alle großen
Werke dieser Zeit zeugen, eingeschlossen jenes von Dante, der nichts
davon verstand, aber darauf wartete, daß der "große Windhund" kommt.
Alles in allem ein zersplittertes Land, in dem jedes Atom in freiem
Fall fällt, ohne seinem Nachbarn zu begegnen. Man muß die Bedingungen
für eine Abweichung schaffen und folglich für eine Begegnung,
damit die italienische Einheit "greift". Wie macht man das? Machiavelli
glaubt nicht, daß irgendein existierender Staat, vor allem nicht
die Kirchenstaaten, die schlimmsten überhaupt, die Rolle der Vereinigung
spielen könnten. In Der Fürst führt er einen nach dem anderen
an, aber nur, um sie abzulehnen, wie so viele dekadente Stücke der
vorangegangenen feudalen Produktionsweise, einschließlich der Republiken,
die deren Alibi und Gefangene sind. Und er stellt die Probleme in
ihrer ganzen Härte und Blöße dar. Da nun einmal alle Staaten und
Fürsten, folglich alle Orte und Menschen verworfen
sind, kommt er, unterstützt durch das Beispiel Cesare Borgias, zu
der Auffassung, daß die Einheit zustande gebracht werden wird, wenn
sich ein namenloser Mann findet, der Glück und Fähigkeit genug hat,
um sich in irgendeinem Teil, in einem namenlosen Winkel Italiens
niederzulassen, und der von diesem atomaren Punkt aus die Italiener
nach und nach um sich herum im großen Projekt eines Nationalstaates
vereint. Das ist eine völlig aleatorische Überlegung, die den Namen
des Einheitsstifters, sowie den Namen der Region, von der aus sich
dieses Bündnis bildet, politisch unbefleckt läßt. Die Würfel
sind also schon auf das Spielbrett gefallen, das selbst leer ist
(aber bevölkert von bedeutenden Menschen).
Damit diese Begegnung eines Menschen und einer Region "greift",
muß sie stattfinden. Im politischen Bewußtsein der Machtlosigkeit
existierender Staaten und Fürsten äußert sich Machiavelli nicht
über diesen Fürsten und diesen Ort. Täuschen wir uns nicht. Diese
Stille ist eine politische Bedingung der Begegnung. Machiavelli
wünscht nur, daß im atomisierten Italien die Begegnung stattfindet,
und dieser Cesare, der von nichts ausgehend aus der Romagne ein
Königreich machte und der, nachdem er Florenz erobert hatte, den
ganzen Norden vereinigt hätte, wenn er nicht im entscheidenden Moment
in den Sümpfen von Ravenna krank geworden wäre, als er wider Julius
II. nach Rom ging, um ihn abzusetzen, ließ ihm offensichtlich keine
Ruhe. Ein Mann, der nichts ist, der aus dem Nichts kommt, ausgehend
von einem nicht zuordenbaren Ort, das sind für ihn die Bedingungen
der Erneuerung.
Aber damit diese Begegnung stattfinden kann, bedarf es einer anderen
Begegnung: jener der "fortuna" mit "virtù" im Principe. Wenn der
Fürst die "fortuna" trifft, muß er die Tugend besitzen, sie wie
eine Dame zu behandeln, sie zu empfangen, um sie zu verführen oder
ihr Gewalt anzutun, kurzum sie dazu benützen, seinem Schicksal zum
Durchbruch zu verhelfen. Aufgrund dieser Betrachtungsweise verdanken
wir Machiavelli eine gesamte philosophische Theorie der Begegnung
von "fortuna" und "virtù" . Diese Begegnung kann entweder stattfinden,
oder auch nicht. Man kann sich auch verfehlen. Die Begegnung kann
kurz oder von langer Dauer sein: er bedarf einer Begegnung, die
andauert. Daher muß der Fürst lernen, sein Schicksal zu lenken (fortuna),
indem er seine Männer lenkt. Er muß seinen Staat strukturieren,
indem er aus seinen Männern Gefolgsleute macht und vor allem, indem
er ihnen bindende Gesetze vorschreibt. Er muß sie für sich
gewinnen, indem er ihnen entgegenkommt, ihnen gegenüber aber eine
gewisse Distanz einzuhalten weiß. Diese doppelte Vorgangsweise gibt
sowohl der Theorie der Verführung als auch jener der Furcht recht,
ebenso auch der Theorie des Täuschens. Ich übergehe die Zurückweisung
der Demagogie der Liebe, die Furcht, die der Liebe vorzuziehen sein
soll, und die furchterregenden Methoden, die Angst einflößen sollen,
um direkt zur Theorie des Täuschens zu kommen.
Muß der Fürst gut oder böse sein? Er muß lernen, böse zu sein, aber
unter allen Umständen muß er verstehen, gut zu erscheinen,
er muß jene moralischen Tugenden zu besitzen scheinen, mit denen
er das Volk für sich gewinnen kann, auch wenn sie ihm den Haß der
Stände (des Adels) einbringen, die er verachtet, denn von ihnen
kann man nichts anderes erwarten. Man kennt die Theorie Machiavellis:
daß der Fürst sei "wie der Zentaur in der Antike, Mensch und Bestie".
Aber man hat nicht genug betont, daß sich in ihm (dem Fürsten) die
Bestie verdoppelt, aus ihr wird sowohl Löwe als auch Fuchs. Im Endeffekt
ist es der Fuchs, der alles regiert. Denn es ist der Fuchs (in ihm),
der ihm aufzwingt, einmal böse und einmal gut zu erscheinen, sich
ein populäres (ideologisches) Bild zu verschaffen, das seinen Interessen
entspricht und den Interessen der "Kleinen" (des kleinen Mannes),
oder auch nicht. In der Weise, daß der Fürst in seinem Inneren von
den Variationen jener anderen aleatorischen Begegnung dirigiert
wird: jener des Fuchses auf der einen Seite mit dem Löwen und dem
Mann auf der anderen Seite. Diese Begegnung muß nicht stattfinden,
aber sie kann auch stattfinden. Sie muß auch von Dauer sein, damit
das Bild (die Figur) des Fürsten im Volk "greift", damit es Gestalt
annehmen kann, damit er sich institutionell die Ehrfurcht als Guter
zuziehe, und letztlich, wenn es möglich ist, dies auch ist. Aber
unter der absoluten Bedingung, daß er niemals vergißt, böse zu sein,
wenn es sein muß.
Man wird sagen, daß es sich hierbei nur um eine politische Philosophie
handelt, ohne zu sehen, daß eine Philosophie hier gleichzeitig am
Werk ist. Eine eigentümliche Philosophie, die ein "Materialismus
der Begegnung" ist, durch die Politik hindurch gedacht,
und die als solche nichts vorgängig Festgelegtes annimmt. Es ist
genau in diesem politischen Vakuum, wo diese Begegnung stattfinden
muß, und wo die nationale Einheit greifen muß. Aber dieses
politische Vakuum ist zuerst ein philosophisches. Man findet
dort keine Ursache, die ihren Effekten vorangeht, kein moralisches
oder theologisches Prinzip (wie in der gesamten Überlieferung der
aristotelischen Politik: die guten und die schlechten Regimes, der
Verfall der guten in schlechte). Man denkt dort nicht in der Notwendigkeit
des "fait accompli", sondern in der Kontingenz der zu vollziehenden
Handlung. Wie in der epikureischen Welt sind alle Elemente hier
und jenseits, bereit zum Regnen (siehe weiter oben: die italienische
Situation), aber sie existieren nicht, sie sind nur abstrakt, solange
die Einheit einer Welt sie nicht vereint hat in der Begegnung, die
ihre Existenz ausmachen wird.
Man mag bemerkt haben, daß in dieser Philosophie die Alternative
regiert: Die Begegnung kann genauso gut nicht stattfinden, wie sie
stattfinden kann. Nichts entscheidet, kein Prinzip der Entscheidung
entscheidet im Vorfeld dieser Alternative, die der Ordnung des Würfelspiels
angehört. "Niemals kann ein Würfelwurf den Zufall abschaffen." Ach
ja! Niemals kann eine gelungene Begegnung, die nicht von kurzer
Dauer ist, sondern andauert, garantieren, daß sie auch morgen noch
Bestand haben wird, anstatt sich wieder aufzulösen. Genauso wie
die Begegnung auch nicht hätte stattfinden können, kann sie auch
nicht mehr stattfinden: "fortuna passiert und variiert",
bezeugt Cesare Borgia, dem alles gelingt bis zu den berühmten Tagen
des Fiebers. Anders gesagt: Nichts kann jemals garantieren, daß
die Realität des fait accompli zugleich die Garantie seiner
Fortdauer sei. Ganz im Gegenteil: Jedes fait accompli, selbst
ein gewähltes, und alles, was sich daraus an Notwendigkeit und Vernunft
ableiten läßt, ist nur eine "provisorische" Begegnung, denn jede
solche Begegnung bleibt provisorisch, sogar wenn sie andauert, es
gibt keine Ewigkeit in den "Gesetzen" keiner Welt und keines Staates.
Die Geschichte ist dort nur die permanente Widerrufung des fait
accompli durch eine andere, nicht auszumachende Tat, die es zu vollenden
gilt, ohne daß man im Vorhinein wissen kann, weder ob, noch wo,
noch wie das Ereignis durch seine Widerrufung entstehen wird. Es
wird einfach der Tag kommen, an dem die Spielsteine neu verteilt
werden und die Würfel aufs Neue auf den leeren Tisch geworfen werden.
Man wird also bemerkt haben, daß diese Philosophie insgesamt eine
Philosophie der Leere darstellt: nicht nur eine Philosophie, die
behauptet, daß die Leere präexistent ist gegenüber den Atomen, die
in ihr fallen, sondern auch eine Philosophie, die eine philosophische
Leere herstellt, um sich Existenz zu verschaffen: eine Philosophie,
die, anstatt von den berühmten "philosophischen Problemen" auszugehen
("warum gibt es Etwas eher als Nichts?"), damit beginnt, jedes philosophische
Problem zu "entleeren", indem sie es ablehnt, sich ein "Objekt"
zuzuordnen, welches dieses auch sein mag ("Die Philosophie hat kein
Objekt"), um nur von "nichts" auszugehen und von dieser infinitesimalen
und aleatorischen Variation des Nichts, die die Abweichung vom Fall
ist. Gibt es eine radikalere Kritik der gesamten Philosophie in
ihrem Anspruch, die Wahrheit über die Dinge zu sagen? Gibt es eine
verblüffendere Weise, zu sagen, daß das "Objekt" schlechthin der
Philosophie das Nichts oder die Leere ist? Im 17. Jahrhundert hat
man gesehen, daß sich Pascal um diese Idee gedreht hat, indem er
die Leere als Gegenstand der Philosophie eingeführt hat. Aber es
geschah auf der bedauernswerten Basis einer Apologetik. Dafür mußte
man auf Heidegger warten, nach dem falschen Wort eines Hegel ("die
Arbeit des Negativen") oder eines Stirner ("Ich hab' Mein Sach'
auf Nichts gestellt"), um der Idee der Leere ihre entscheidende
Bedeutung in der Philosophie wiederzugeben. Aber man findet all
dies bereits bei Epikur und Machiavelli, bei Machiavelli, der alle
philosophischen Begriffe Platons und Aristoteles entleerte, um die
Möglichkeit zu denken, aus Italien einen Nationalstaat zu machen.
Daran kann man den Einfluß der Philosophie ermessen: reaktionär
oder revolutionär, unter oftmals verwirrenden Umständen ihres Auftretens,
die es aufzulösen gilt mit Geduld und Sorgfalt. Wenn man Machiavelli
dieserart liest (das sind nur kurze Notizen, die es auszuarbeiten
gilt, von denen ich denke, daß ich sie eines Tages ausarbeiten werde),
wer könnte glauben, daß es sich unter dem Gewand der Politik nicht
um ein echtes philosophisches Denken handle? Und wer konnte glauben,
daß die Faszination, die Machiavelli ausübte, lediglich politisch
war, überdies konzentriert auf das absurde Problem, ob er Monarchist
oder Republikaner war (das Beste der Philosophie der Aufklärung
wurde mit dieser Dummheit vergeudet), während seine philosophischen
Resonanzen ohne sein Wissen das Tiefgründigste ist, was uns aus
dieser schmerzhaften Vergangenheit erreicht hat? Ich möchte das
Problem verschieben, also nicht nur die Alternative Monarchist/Republikaner
zurückweisen, die keinen Sinn hat, sondern auch die landläufige
These, daß Machiavelli als Begründer der einzigen Politikwissenschaft
gesehen wird, verwerfen. Ich möchte suggerieren, daß Machiavelli
seinen Einfluß nicht so sehr der Politik verdankt, sondern vielmehr
seinem "Materialismus der Begegnung". Von daher kommt das
Wesentliche seines Einflusses auf die Menschen, die sich um Politik
so kümmern wie um ihren letzten abgetragenen Schuh niemand
ist gezwungen, "Politik zu machen" und die sich teilweise
in ihm getäuscht haben, umsonst fragend, wie es noch ein Croce gemacht
hat, von wo diese für immer unverständliche Faszination kommen
könnte.
Spinoza
Diese Faszination hatte ein Mann verstanden, weniger als 100 Jahre
nach dem Tod Machiavellis. Er hieß Spinoza. Man findet in seinem
Politischem Traktat eine explizite Lobrede auf Machiavelli,
in einem Traktat, wo es allem Anschein nach neuerlich um Politik
geht, während es sich in Wahrheit auch dort um Philosophie handelt.
Aber um diese Philosophie zu erfassen, muß man weiter zurückgehen,
denn Spinozas philosophische Strategie war radikal und von einer
extremen Komplexität. Denn er mußte in einer Welt kämpfen, die voll
von lauernden Feinden war, die jedes seiner Worte auf die Waagschale
legten und die das gesamte Terrain einnahmen oder einzunehmen glaubten,
was ihn dazu zwang, eine verwirrende Problematik zu entwickeln:
Von jenem Oben, das alle Konsequenzen beherrscht.
Ich vertrete die These, daß der Gegenstand der Philosophie für Spinoza
die Leere ist. Eine paradoxe These, wenn man die Menge der Begriffe
betrachtet, die in der Ethik "ausgearbeitet" sind. Es genügt
indessen zu bemerken, wie er beginnt. Er bekennt in einem Brief:
"Die einen beginnen mit der Welt, die anderen mit dem menschlichen
Geist, ich beginne mit Gott". Die anderen: das sind auf der einen
Seite die Scholastiker, die mit der Welt beginnen und von der geschaffenen
Welt zu Gott aufsteigen. Die anderen, das ist auf der anderen Seite
Descartes, der mit dem denkenden Subjekt beginnt, und durch das
cogito zum dubito aufsteigt und zu Gott. Alle kommen (irgendwie)
zu Gott. Spinoza spart sich diesen Umweg und installiert sich direkt
in Gott. Von daher kann man sagen, daß er von vornherein
den Platz, der gemeinhin als Platz der Stärke gilt, besetzt, der
die letzte Garantie und die ultimative Zuflucht all seiner Feinde
ist, indem er mit diesem "jenseits dessen es nichts gibt"
beginnt, welches, da es ohne jede Beziehung im Absoluten existiert,
selbst nichts ist. Zu sagen "ich beginne mit Gott", oder
mit dem Ganzen oder mit der einen Substanz, und zu verstehen
zu geben "ich beginne mit nichts", ist im Grunde dasselbe: Was ist
der Unterschied zwischen dem Ganzen und nichts? wo doch nichts außerhalb
des Ganzen existiert... In der Tat, was hat er über Gott zu sagen?
An diesem Punkt beginnt das Fremde.
Gott ist nur Natur, was auf nichts anderes hinausläuft als:
er ist nur Natur. Epikur ging auch von der Natur als demjenigen
aus, außerhalb dessen nichts existiert. Was ist nun dieser spinozistische
Gott? Eine absolute Substanz, einzig und unbegrenzt, ausgestattet
mit einer unendlichen Zahl an unendlichen Attributen. Natürlich
ist damit gesagt, daß alles, was existieren kann, immer nur in Gott
existieren kann, egal, ob dieses "was es auch sein mag" nun bekannt
oder unbekannt ist. Denn wir kennen nur zwei Attribute: die Ausdehnung
und das Denken; vom Körper kennen wir nicht alle Vermögen, so wie
wir vom Denken nicht das ungedachte Vermögen der Begierde kennen.
Die anderen Attribute, der Zahl nach unendlich, und selbst auch
unendlich, sind da, um alles Mögliche und Unmögliche abzudecken.
Daß sie zahlenmäßig unendlich und uns unbekannt sind, läßt
die Tür für ihre aleatorische Existenz und Formen weit offen. Daß
sie parallel zueinander verlaufen, daß dabei alles ein Effekt
des Parallelismus ist, läßt an den epikureischen Regen denken.
Die Attribute fallen in den leeren Raum ihrer Determination, wie
die Regentropfen, die nur in diesem Ausnahmeparallelismus anzutreffen
sind, diesem Parallelismus ohne Begegnung, ohne Vereinigung
(von Seele und Körper...), der der Mensch ist, in diesem zuordenbaren,
aber minimalen Parallelismus des Denkens und des Körpers, der zuerst
nur Parallelismus ist, da in ihm, wie in allen Dingen, "die Ordnung
und die Verbindung der Dinge dasselbe ist wie die Ordnung und die
Verbindung der Ideen". Letztendlich ein Parallelismus ohne Begegnung,
der aber schon in sich Begegnung ist wegen der Struktur der
Beziehung zwischen den verschiedenen Elementen jedes Attributs.
Um darüber zu urteilen, muß man die philosophischen Auswirkungen
dieser Strategie und dieses Parallelismus sehen. Daß Gott nichts
als Natur ist, und daß diese Natur die unendliche Summe einer unendlichen
Anzahl von parallelen Attributen ist, hat nicht nur zur Folge, daß
nichts über Gott zu sagen bleibt, sondern daß es auch nichts
mehr zu sagen gibt über das große Problem, das die gesamte abendländische
Philosophie seit Aristoteles, vor allem aber seit Descartes, beherrscht:
Das Problem der Erkenntnis und ihres doppelten Korrelats, dem erkennenden
Subjekt und dem erkannten Objekt. Diese großen Fragen, die soviel
an Fragen nach sich gezogen haben, reduzieren sich auf nichts: "homo
cogitat", der Mensch denkt, so ist es. Dies ist die Feststellung
einer Faktizität, des "so ist es", des "es gibt"*,
welche schon Heidegger ankündigt und die Faktizität des Fallens
der Atome bei Epikur in Erinnerung ruft. Das Denken ist nur die
Folge der Modi des gedachten Attributes, und verweist nicht auf
ein Subjekt, sondern im Sinne des Parallelismus auf
die Folge der Modi des ausgedehnten Attributs.
Interessant ist weiter die Art, wie sich das Denken im Menschen
konstituiert. Daß er mit wirren Gedanken und Hören-Sagen zu denken
beginnt, bis diese Elemente schließlich eine Form "ergreifen", um
in "Gemeinbegriffen" zu denken (von der ersten zur zweiten Gattung,
sodann zur dritten: durch einfache Substanzen); all dies ist wichtig,
denn der Mensch könnte auf der Ebene des Hören-Sagens verbleiben
und das "Greifen" zwischen dem Denken der ersten Gattung und jenem
der zweiten könnte sich nicht vollziehen. Dies ist das Schicksal
der Mehrzahl der Leute, die im Denken der ersten Gattung und im
Imaginären verbleiben, d. h. in der Illusion zu denken, während
sie nicht denken. So ist es. Man kann entweder auf der ersten Stufe
bleiben oder auch nicht. Es gibt nicht, wie bei Descartes, eine
immanente Notwendigkeit, die einen vom wirren zum klaren und distinkten
Denken führt, kein cogito, kein notwendiges Moment der Reflexion,
das diesen Übergang garantiert. Er kann stattfinden, aber auch nicht.
Und die Erfahrung zeigt, daß es der Regel nach nicht stattfindet,
außer in der Ausnahme einer Philosophie, die sich bewußt ist, nichts
zu sein.
Was bleibt der Philosophie, wenn Gott und die Erkenntnistheorie,
die bestimmt sind, die "höchsten" Werte zu etablieren, an denen
alles gemessen wird, auf nichts reduziert sind? Keine Moral mehr,
und vor allem keine Religion mehr, besser noch, eine Theorie der
Moral und der Religion, die dies lange vor Nietzsche bis in ihre
imaginären Grundlagen der "Verkehrung" zerstört hat die "fabrica
à l'envers" (vgl. Appendix des Buches I der Ethik); keine
Finalität mehr (sei sie historisch oder psychologisch): kurz, die
Leere ist die Philosophie selbst. Und da dieses Ergebnis ein
Ergebnis ist, wird es nur am Ende einer gigantischen Arbeit an den
Begriffen erreicht, die das Hauptanliegen der Ethik ausmachen,
eine "kritische" Arbeit, wie man üblicherweise sagen würde, eine
Arbeit der "Dekonstruktion", wie Derrida nach Heidegger sagen wird,
denn das, was zerstört wird, wird gleichzeitig auch rekonstruiert,
aber auf einer anderen Basis, nach einem anderen Plan. Zeuge dafür
ist etwa diese unerschöpfliche Theorie der Geschichte usw., aber
in ihren effektiven, politischen Funktionen.
Eine merkwürdige Theorie man tendiert dazu, diese als eine
Erkenntnistheorie zu präsentieren (die erste der drei Gattungen),
während die Imagination in keiner Weise eine Fähigkeit ist, sondern
im Grunde nur die eine Welt in ihrer "Gegebenheit". Durch dieses
Gleiten entgeht Spinoza nicht nur jeder Theorie des Erkennens, sondern
öffnet einem Wiedererkennen der "Welt" den Weg, als jenes Jenseits,
von dem es gar nichts gibt, nicht einmal eine Theorie der Natur,
er öffnet den Weg einem Wiedererkennen der "Welt" als einer einzigen
Totalität, die nicht totalisiert ist, sondern in ihrer Zerstreutheit
gelebt wird, gelebt als "Gegebenes", in welches wir geworfen
sind, und von dem aus wir alle unsere Illusionen schmieden ("fabricae").
Im Grunde antwortet die Theorie der ersten Gattung als "Welt"
aus der Ferne, aber sehr genau der These von Gott als "Natur",
wo die Natur nur die Welt ist, gedacht in den Gemeinbegriffen, aber
diesen vorausgehend als dasjenige, in dem nichts ist. Im Imaginären
der Welt und seinen notwendigen Mythen schreibt sich dann die Politik
des Spinoza ein, die sich in ihren tiefsten Schlußfolgerungen und
in dem Ausschluß all dessen, was die traditionelle Philosophie vorausgesetzt
hat, mit Machiavelli trifft. Die Autonomie der Politik ist nur die
Form, die der Ausschluß jeder Finalität, jeder Religion und jeder
Transzendenz annimmt. Aber die Theorie des Imaginären als Welt erlaubt
es Spinoza, diese "merkwürdige Essenz" der dritten Gattung zu denken,
die die Geschichte eines Individuums oder eines Volkes ist, wie
die des Moses oder des jüdischen Volkes. Daß sie notwendig ist,
heißt nur, daß sie sich vollzogen hat, aber alles daran hätte umkippen
können, je nach der Begegnung oder Nicht-Begegnung von Moses und
Gott, oder der Begegnung der Intelligenz bzw. Nichtintelligenz der
Propheten. Der Beweis: man mußte ihnen den Sinn dessen, was sie
von ihrem Gespräch mit Gott, von dieser Grenzsituation, berichteten,
erklären selbst Daniel: Man mußte ihm alles gut erklären,
er hat nie etwas verstanden. Beweis der Leere durch die Leere selbst
als Grenzsituation.
Hobbes
Es ist Hobbes, dieser "Teufel", dieser "Dämon", der uns auf seine
Art als Übergang zwischen Spinoza und Rousseau dienen wird. In dieser
Sache ist die Chronologie von geringerer Bedeutung, da sich diese
Gedanken, jeder für sich, trotz der dazwischenliegenden Entsprechung
eines Mersenne, entwickelten und es sich vor allem um Resonanzen
einer verschütteten und wiederaufgenommenen Tradition handelt, die
man vermitteln muß.
Die ganze Gesellschaft beruht auf Angst, sagt Hobbes, und beweist
das empirisch durch die Tatsache, daß wir alle Schlüssel
besitzen, und warum wohl? Um das eigene Haus vor einer Aggression
von wer weiß wem zu bewahren. Es könnte Ihr Nachbar sein oder Ihr
bester Freund, der sich durch Ihre Abwesenheit, durch die Gelegenheit
und durch die Begierde, sich zu bereichern, in einen "Wolf des Menschen"
verwandelt. Aus dieser einfachen Bemerkung, die ebenso wertvoll
wie unsere beste "Analyse der Essenz" ist, zieht Hobbes eine ganze
Philosophie: Das Wissen, daß unter den Menschen ein "Krieg aller
gegen alle" herrscht, ein "unendlicher Lauf", wo jeder gewinnen
möchte, aber fast alle verlieren in Anbetracht der Position der
Konkurrenten (von daher die "Leidenschaften", vor denen er warnt,
wie es damals Mode war, um darin die Politik zu verkleiden, ein
Traktat [sic]) hinter, vor und auf gleicher Höhe mit dem
Wettlauf von daher ergibt sich der verallgemeinerte Kriegszustand:
nicht daß der Krieg hier, zwischen den Staaten, ausbricht (wie es
Rousseau wollte), sondern so, wie man davon spricht, daß "schlechtes
Wetter droht" (es kann zu jeder Tages- und Nachtzeit regnen, ohne
Vorankündigung) kurz, daß er eine permanente Bedrohung der
Menschen und ihrer Güter ist, eine Todesdrohung, die immerzu, in
jedem Augenblick auf allen Menschen lastet aufgrund der simplen
Tatsache, in Gesellschaft zu leben. Ich weiß ganz genau, daß Hobbes
etwas ganz anderes im Kopf hatte als die Konkurrenz, die simple
ökonomische Konkurrenz, wie man geglaubt hatte, die großen Aufstände
nämlich, deren Zeuge er war (man ist nicht ungestraft der Zeitgenosse
von Cromwell und der Exekution von Charles I.), wo er sah, wie das
Gleichgewicht der kleinen Angst der "Schlüssel" kippt angesichts
der großen Angst vor den Volkserhebungen und den politischen Morden.
Von dieser Angst spricht er insbesondere und ohne Zweideutigkeit,
wenn er an diese Unglückszeiten erinnert, wo ein Teil der Gesellschaft
den anderen massakrieren konnte, um die Macht zu übernehmen.
Als guter Theoretiker des Naturrechts hält sich Hobbes natürlich
nicht an diese, selbst grauenhaften, Erscheinungen. Um die Effekte
klar zu sehen, geht er zu den Ursachen zurück, und dazu bietet er
uns seinerseits eine Theorie des Naturzustands. Um diesen in seine
Elemente zu zerlegen, muß man bis zu jenen "Atomen der Gesellschaft"
gelangen, die die Individuen sind, die mit einem Streben ausgestattet
sind, das bedeutet mit einem Willen und einem Können, "in ihrem
Sein zu beharren" und eine Leere zu schaffen, um darin den
Raum für ihre Freiheit zu etablieren. Atomisierte Individuen, die
Leere als Bedingung für ihre Bewegung, erinnert uns das nicht an
etwas? Hobbes hält tatsächlich fest, daß die Freiheit, die das ganze
Individuum und seine Seinskraft ausmacht, an der "Hindernisleere",
an der "Abwesenheit des Hindernisses" vor seiner erobernden Kraft
hängt.
Er liefert sich dem Krieg aller gegen alle nur durch den Willen
aus, allen Hindernissen zu entgehen, die ihn daran hindern, gerade
zu gehen (man denke an den freien und parallelen Fall der Atome),
und er wäre im Grunde genommen glücklich, wenn er niemandem begegnen
würde in einer Welt, die dann leer wäre. Das Unglück ist, daß diese
Welt voll ist, voll mit Menschen, die das gleiche Ziel verfolgen,
die sich entgegentreten, um Platz für das eigene Streben
zu schaffen, und die kein anderes Mittel finden, um ihr Ziel zu
realisieren, als jenen, die ihnen im Wege stehen, "den Tod zu geben".
Daher rührt auch die wesentliche Rolle des Todes in dem Gedanken
des ewigen Lebens, nicht eines zufälligen Todes, sondern eines notwendigen
Todes, der durch die menschliche Hand gegeben und empfangen wird,
die Rolle des ökonomischen und politischen Mordes, der einzig dazu
fähig ist, diese Gesellschaft des Kriegszustands in einem instabilen,
aber notwendigen Gleichgewicht zu halten. Dennoch sind diese furchtbaren
Menschen auch Menschen, sie denken, oder besser gesagt sie kalkulieren,
indem sie die jeweiligen Vorteile berechnen, die ein Verbleib im
Kriegszustand oder der Eintritt in einen Vertragszustand bietet,
welcher aber auf der unentfremdbaren Grundlage jeder menschlichen
Gesellschaft beruht: auf der Angst und auf dem Terror.
Sie überlegen also und gelangen dazu, daß es vorteilhafter sein
könnte, einen eigentümlichen, ungleichgewichtigen Vertrag zwischen
ihnen zu schließen, durch den sie sich (als atomisierte Individuen)
wechselseitig verpflichten, der allmächtigen Macht desjenigen nicht
zu widerstehen, dem sie einseitig und ohne jeglichen Ausgleich alle
ihre Rechte (ihre natürlichen Rechte) delegieren werden,
dem Leviathan sei dieser ein Individuum wie in der absolutistischen
Monarchie, oder die allmächtige Versammlung des Volkes oder seiner
Repräsentanten. Sie verpflichten sich darin und untereinander, diese
Machtdelegierung zu respektieren, ohne sie jemals zu verraten, widrigenfalls
sie die schrecklichen Sanktionen des Leviathans treffen, der, halten
wir das fest, seinerseits durch keinen Vertrag an das Volk gebunden
ist, sondern dieses in seiner Einheit hält durch das Ausüben seiner
einstimmig konsentierten Allmacht, durch die Angst und den Terror,
die er an den Grenzen der Gesetze regieren läßt, und durch den Sinn,
den er (was für ein Wunder!) für seine "Aufgabe" besitzt, ein Volk
zusammenzuhalten, das unterworfen ist in seiner Unterwerfung, um
ihm die Schrecken des Kriegszustandes zu ersparen, die unendlich
viel schlimmer sind als seine Angst.
Ein Fürst, den nichts an sein Volk bindet, außer die Aufgabe, es
vor dem Kriegszustand zu beschützen, ein Volk, das nichts an seinen
Fürsten bindet außer das Halten eines Versprechens (oder wehe!),
ihm in allem gehorsam zu sein, einschließlich in Sachen des ideologischen
Konformismus (Hobbes ist der erste, der die ideologische Herrschaft
und deren Effekte denkt). Das macht die ganze Originalität und den
Schrecken dieses subversiven Denkers aus (dessen Schlußfolgerungen
gut, dessen Denken aber schlecht war seine Gründe waren falsch,
wird Descartes sagen), dieses außergewöhnlichen Theoretikers, den
keiner verstand, aber alle fürchteten. Er dachte (dieses Privileg
des Denkens, sich über das zu mokieren, was "man" dazu sagen wird,
über die Welt, den Tratsch und sogar über die eigene Reputation,
zu denken in der absoluten Einsamkeit oder in der Illusion derselben),
und was bedeuteten schon die Anschuldigungen, die er mit Spinoza
teilte, er sei ein Abgesandter der Hölle und des Teufels. Hobbes
dachte, daß jeder Krieg präventiv sei, daß jeder gegen einen möglichen
Anderen nur das Mittel hat, "ihm vorauszukommen". Hobbes dachte
(welcher Wagemut!), daß jede Macht absolut ist, daß Absolut-Sein
die Essenz der Macht ist, und daß alles, was auch nur minimal von
dieser Regel abweicht, sei es nach links, sei es nach rechts, mit
äußerster Härte bekämpft werden muß. Und er dachte all dies nicht
als Apologet dessen, was man heute mit einem Wort, das alle Differenzen
verwischt, also alles Denken und allen Sinn, den "Totalitarismus"
oder den "Etatismus" nennt: Er dachte all dies im Dienste einer
freien ökonomischen Konkurrenz und einer freien Entwicklung des
Marktes und der Kultur der Völker! Denn, genau betrachtet, trifft
es sich, daß sein totalitärer Staat fast schon dem Marx'schen Staat
gleicht, der absterben sollte. Wenn jeder Krieg, also jeder
Terror präventiv sind, dann würde es tatsächlich genügen, daß dieser
furchtbare Staat existiert hat, um von seiner eigenen Existenz absorbiert
zu werden, bis er nicht mehr zu existieren braucht. Man sprach über
die Angst des Polizisten, "seine Macht zu zeigen, um sie nicht gebrauchen
zu müssen" (Lyautey), heute redet man darüber, seine (atomare) Macht
nicht zu zeigen, um sie nicht nutzen zu müssen. Das meint,
daß die Macht ein Mythos ist, und daß sie als solcher auf die Imagination
der Menschen und der Völker wirkt, präventiv, ohne jeglichen Grund,
sie auch zu gebrauchen.
Ich weiß, daß ich hier ein Denken weiterführe, das niemals so weit
gegangen ist, aber ich bleibe in seiner Logik, und ich zeige seine
Paradoxien auf in einer Logik, die die seine bleibt. Wie es auch
sei, es ist klar, daß Hobbes nicht jenes Monster war, wie man uns
erzählt hat, und daß seine einzige Ambition war, den Bedingungen
der Lebensfähigkeit zu dienen, sowie der Entwicklung einer Welt,
die so war, wie sie war, die seine, die der Renaissance, die sich
der außergewöhnlichen Entdeckung einer Welt öffnete, dem Neuen.
Sicher, das "Greifen" der atomisierten Individuen hatte nicht die
gleiche Essenz und die gleiche Stärke wie bei Epikur und Machiavelli,
und Hobbes, der so viel Geschichte erlebt hat, war leider kein Historiker
(das sind die Berufungen, die sich nicht kommandieren lassen), aber
auf seine Weise kam er zu denselben Ergebnissen wie seine Lehrer
in der Tradition des Materialismus der Begegnung: zu der aleatorischen
Konstitution einer Welt. Und wenn dieser Denker eine so große
Rolle für Rousseau gespielt hat (darüber werde ich eines Tages sprechen),
und selbst für Marx, dann verdankt er dies der Wiederaufnahme dieser
geheimen Tradition, selbst wenn er sich dessen nicht bewußt war
(was nicht unmöglich ist). Wir wissen, daß das Bewußtsein in diesen
Angelegenheiten nichts ist als die Fliege des Kutschers, das Wesentliche
ist, daß das Gespann den Zug der Welt im schnellen Galopp durch
die Ebenen oder in der langen Langsamkeit der Steigungen zieht.
Rousseau
Es ist Rousseau, dem wir in seinem zweitem Diskurs und seinem
Discours sur l'origine des langues, ohne dabei auf Epikur
und Machiavelli Bezug zu nehmen, die Wiederaufnahme des Materialismus
der Begegnung verdanken.
Es wurde nicht genug beachtet, daß der zweite Diskurs mit
einer Beschreibung des Naturzustandes beginnt, die mit den anderen
Beschreibungen dieser Art insofern bricht, als sie zweigeteilt ist:
ein reiner Naturzustand ["état de pure nature"], welcher
der radikale Anfang von allem ist, und ein Naturzustand ["état
de nature"], welcher aus Veränderungen des reinen Naturzustandes
hervorgeht. Bei allen Beschreibungen des Naturzustandes, welche
uns die Theoretiker des Naturrechts anbieten, läßt sich beobachten,
daß dieser Naturzustand ein gesellschaftlicher Zustand ist, sei
es ein Zustand des Krieges aller gegen alle, sei es ein Zustand
des Friedens. Die Theoretiker des Naturrechts haben, wie Rousseau
ihnen vorwirft, den Zustand der Gesellschaft auf den Naturzustand
projiziert. Rousseau ist der einzige, der den reinen Naturzustand
zu denken versucht, indem er ihn als einen Zustand ohne jede soziale
Beziehung, sei sie nun positiv oder negativ, denkt. Er beschreibt
diesen Zustand mit dem Bild des primitiven Waldes welches
an einen anderen Rousseau, den Zöllner, denken läßt , durch
den isolierte Individuen ohne Beziehung zueinander irren, d. h.
Individuen, die sich nicht begegnen. Sicherlich können sich
Mann und Frau treffen, sich "betasten" und sich sogar paaren. Es
handelt sich dann jedoch nur um eine kurze Begegnung ohne Identität
oder Wiedererkennung(/Anerkennung): Kaum haben sie sich gepaart
(ja nicht einmal das: denn von Kindern ist nicht die Rede, als würde
die menschliche Welt vor dem Emile Kinder nicht kennen oder
ohne sie auskommen es gibt weder Kinder noch Eltern, also
kurz gesagt: keine Familien), trennen sie sich wieder und
gehen eigene Wege in der unendlichen Leere des Waldes. Zwei Menschen,
wenn sie sich begegnen, laufen die längste Zeit nur aneinander vorbei,
ohne einander wahrzunehmen. Eine Begegnung im eigentlichen Sinne
findet also nicht statt. Der Wald ist das Äquivalent der epikureischen
Leere, in die der parallele Regen der Atome fällt: es ist eine pseudo-Brownsche
Leere, in der die Individuen sich zwar über den Weg laufen, sich
aber nicht begegnen, es sei denn in kurzen Zusammentreffen, die
nicht andauern. Rousseau entwirft hier zu einem sehr hohen
Preis, nämlich der Abwesenheit des Kindes das Nichts an Gesellschaft
[néant de société], welches jeder Gesellschaft vorangeht und Bedingung
der Möglichkeit jeder möglichen Gesellschaft ist, das Nichts an
Gesellschaft, welches die Essenz jeder möglichen Gesellschaft ausmacht.
Daß das Nichts an Gesellschaft die Essenz jeder Gesellschaft sei,
ist eine wagemutige These, deren Radikalität nicht nur seinen Zeitgenossen,
sondern auch vielen seiner späteren Kommentatoren entgangen ist.
Was ist notwendig, damit eine Gesellschaft tatsächlich entsteht?
Es ist notwendig, daß den Menschen der Zustand der Begegnung
auferlegt wird, daß die Unendlichkeit des Waldes, als Bedingung
der Möglichkeit der Nichtbegegnung, durch äußere Ursachen auf endliche
Grenzen eingeschränkt wird, daß sie durch Naturkatastrophen in begrenzte
Einheiten wie zum Beispiel Inseln zerteilt wird, wo die Menschen
sich gezwungenermaßen begegnen und sich gezwungenermaßen
dauerhaft begegnen: gezwungen durch eine Kraft, die stärker
ist als sie. Ich lasse die Art dieser Naturkatastrophen, die den
Lebensraum verändern, hier beiseite. Deren einfachste ist die winzige,
infinitesimale Neigung des Äquators zur Eklipse: ein Unfall, dessen
Ursache nicht mit jener des clinamen vergleichbar ist, der
aber trotzdem dieselben Effekte hat. Einmal gezwungen zur Begegnung
und zu dauerhaften faktischen Verbindungen, entwickeln die Menschen
unter sich künstliche Beziehungen, d. h. gesellschaftliche
Beziehungen: zu Beginn noch rudimentär, dann jedoch verstärkt durch
die Rückwirkungen eben dieser Begegnungen auf ihre Menschennatur.
Eine lange und langsame Dialektik setzt hier ein, die im Lauf der
Zeit dazu führt, daß aus den erzwungenen Begegnungen die Sprache,
die Leidenschaften, die Liebe und der Kampf zwischen den Menschen
bis hin zum Kriegszustand hervorgehen. Die Gesellschaft ist geboren,
der Naturzustand und auch der Krieg sind geboren, und mit ihnen
entwickelt sich ein Prozeß der Akkumulation und der Veränderung,
welcher buchstäblich die sozialisierte Natur des Menschen
hervorbringt. Es sei bemerkt, daß diese Begegnung auch nicht andauern
könnte, wenn die Beständigkeit der äußeren Zwänge sie nicht gegen
die verlockende Zerstreuung in einem konstanten Zustand aufrechterhalten
würde, d. h. wenn sie den Menschen nicht das Gesetz der Annäherung
auferlegen würde, ohne sie nach ihrer Meinung zu fragen. Die Gesellschaft
entsteht gleichsam hinter dem Rücken der Menschen, und die Geschichte
als unbewußte und rückwärtige Konstituierung dieser Gesellschaft.
Ohne Zweifel trägt der Mensch im reinen Naturzustand, der sozusagen
zwar einen Körper, aber keine Seele hat, nicht nur eine Fähigkeit
in sich, die alles, was er ist und was ihm zustoßen wird, transzendiert,
nämlich die Vervollkommnungsfähigkeit, die Perfektibilität
[la perfectibilité], die gleichzusetzen ist mit der Abstraktion
und der transzendentalen Bedingung der Möglichkeit jeder Entwicklung,
sondern auch was vielleicht noch wichtiger ist das
Mitleid, als negative Fähigkeit, [nicht] das Leiden der Mitmenschen
zu leiden: Der reine Naturzustand ist eine Gesellschaft aus Mangel,
also eine leere Gesellschaft, eine negative und leere Gesellschaft
von isolierten Menschen, die in ihrer Einsamkeit begierig sind nach
dem Anderen. All dies ist vom reinen Naturzustand an zwar gegeben,
ist dort jedoch nicht wirksam, existiert nicht und hat dort keinerlei
Effekt, besteht also lediglich in Erwartung der Zukunft, die es
erwartet. So wie sich Gesellschaft und Geschichte hinter dem Rücken
des Menschen entwickeln, ohne seinen bewußten und aktiven Beitrag,
so sind auch die Perfektibilität und das Mitleid nichts als die
Vorwegnahme der Zukunft, an der der Mensch keinen Anteil hat.
Wenn auch die Genealogie dieser Begriffe oft genug beschrieben wurde
(in dieser Hinsicht hat Goldschmidt das Standardwerk geschrieben),
so wurden die Implikationen dieses Dispositivs noch nicht ausreichend
untersucht. Dieses Dispositiv, das im zweiten Diskurs durch
die Theorie des illegitimen Vertrags geschlossen wird, jenes
gewaltsamen Vertrags, der auf dem Gehorsam der Schwachen gründet
und durch die Arroganz der Starken, die auch die "Gerisseneren"
sind, durchgesetzt wird. Seinen wahren Sinn findet dieser illegitime
Vertrag jedoch im Gesellschaftsvertrag, der nur besteht, weil er
von dem Abgrund (das Wort stammt von Rousseau selbst in seinen Bekenntnissen)
des Rückfalls in den reinen Naturzustand heimgesucht wird, wie ein
Organismus, der den drohenden Tod von innen abwehren muß: die Begegnung,
die Form angenommen hat und notwendig geworden ist, jedoch auf
der Grundlage des Aleatorischen der Nichtbegegnung und ihrer Formen,
in die der Vertrag jederzeit zurückfallen kann. Wenn diese
Bemerkung, die es noch auszuführen gilt, richtig ist, würde sie
die klassische Aporie der vermeintlichen Widersprüchlichkeit von
Gesellschaftsvertrag und zweitem Diskurs lösen, ein
akademisches Problem, welches in der Geschichte der abendländischen
Kultur seinesgleichen nur in der albernen Frage hat, ob Machiavelli
nun Monarchist oder Republikaner war... Zudem würde sie im selben
Zuge den Status der Texte aufklären, in denen sich Rousseau daran
macht, für andere Völker Gesetze zu entwerfen für die Korsen,
die Polen etc. , und in denen er mit aller Entschiedenheit
einen wesentlichen Begriff von Machiavelli wiederaufnimmt
ohne das Wort explizit zu nennen, was jedoch unwichtig ist, da der
Begriff der Sache nach da ist , den Begriff der Konjunktur.
Um den Menschen Gesetze zu geben, muß man die Umstände im Auge behalten,
das "es gibt" wie z. B. in allegorischer Weise das Klima
und so viele andere Bedingungen bei Montesquieu , die Bedingungen
und ihre Geschichte, d. h. ihr "Geworden-Sein", kurz: die Begegnungen,
die auch nicht hätten stattfinden können (vgl. den Naturzustand:
"dieser Zustand, der auch nie hätte sein können") und die stattgefunden
haben und die das "Gegebene" des Problems und seinen Zustand geprägt
haben. Was bedeutet dies anderes, als nicht nur die Zufälligkeit
der Notwendigkeit zu denken, sondern auch die Notwendigkeit der
Zufälligkeit, die an ihrer Wurzel liegt? So erscheint der Gesellschaftsvertrag
nicht mehr als Utopie, sondern als das immanente Gesetz jeder Gesellschaft,
sei sie nun in seiner legitimen oder in seiner illegitimen Form.
Das wahre Problem ist folgendes: Wie kann man von der illegitimen
Form (der gängigen) zur legitimen Form übergehen? Auch wenn es diese
letztendlich nicht gibt, so muß man sie doch postulieren,
um die konkret existierenden Formen denken zu können, diese "einfachen
Substanzen" ["essences singulières"] (Spinoza), seien es nun die
Individuen, die Umstände, die realen Staaten oder ihre Völker. Man
muß die legitime Staatsform also als transzendentale Bedingung jeder
Bedingung, d. h. jeder Geschichte, annehmen. Hier liegt ohne
Zweifel die tiefste Einsicht Rousseaus verborgen, in diesem Konzept
jeder möglichen Geschichtstheorie, welches die Zufälligkeit der
Notwendigkeit als Produkt der Notwendigkeit der Zufälligkeit denkt
ein verwirrendes Begriffspaar, das es jedoch im Auge zu behalten
gilt, ein Begriffspaar, das bereits bei Montesquieu aufscheint,
jedoch erst von Rousseau klar formuliert wird, als entspringe es
einer Intuition des 18. Jahrhunderts, die im voraus alle lockenden
Teleologien der Geschichte zurückweist, und dem er die Türen weit
öffnet unter dem unwiderstehlichen Eindruck der Französischen Revolution.
Um es polemisch zu sagen: Stellt man die Frage nach dem "Ende der
Geschichte", sieht man im selben Lager Epikur und Spinoza, Montesquieu
und Rousseau sich zusammenschließen, auf der expliziten oder
impliziten Grundlage desselben Materialismus der Begegnung
oder desselben Denkens der Konjunktur im eigentlichen Sinne.
Und natürlich auch Marx, der jedoch gezwungen ist, vor einem zerrissenen
Horizont zu denken, zerrissen zwischen dem Aleatorischen der Begegnung
und der Notwendigkeit der Revolution.
Darf ich eine letzte Bemerkung wagen? Es gilt festzuhalten, daß
es vielleicht kein Zufall ist, daß dieses Begriffspaar vor allem
jene Männer interessiert hat, die mit den Begriffen von Begegnung
und Konjunktur nicht nur die Realität der Geschichte, sondern
vor allem jene der Politik denken wollten, nicht nur das
Wesen der Realität, sondern vor allem das Wesen der Praxis, und
die Verbindung dieser beiden bei ihrer Begegnung: im Kampf
ich sage bewußt Kampf , im Grenzfall im Krieg (Hobbes,
Rousseau), im Kampf um die Anerkennung (Hegel), aber auch und in
erster Linie im Kampf aller gegen alle, d. h. in der Konkurrenz,
oder, wenn er diese Form annimmt, im Klassenkampf (und seinem "Widerspruch").
Muß man daran erinnern, wieso und für wen Spinoza schreibt, wenn
er sich auf Machiavelli bezieht? Er will nur sein Denken denken,
und da es ein Denken der Praxis ist, die Praxis mit diesem Denken
denken.
Materialismus der Begegnung
Diese historischen Ausführungen sind eigentlich nur Vorbemerkungen
zu dem, was ich über Marx darlegen möchte. Sie sind deshalb jedoch
nicht zufällig, sondern bezeugen, daß von Epikur bis Marx eine tiefe,
aber verborgene durch ihre Entdeckung selbst verdeckte, durch
das Vergessen, vor allem aber durch die Verneinungen und Verdrängungen,
wenn nicht gar durch die den Tod von Menschen nach sich ziehenden
Verdammungen verborgene Tradition bestanden hat, die ihr
materialistisches Fundament in einer Philosophie der Begegnung
fand und die deshalb mehr oder weniger atomistisch ist, da das Atom
das einfachste Bild der Individualität in ihrem "Fall" ist
eine Tradition also, die jede Philosophie des Wesens (Ousia, Essentia),
d. h. der Vernunft (Logos, Ratio), d. h. des Ursprungs und des Zwecks
(da der Ursprung nichts anderes ist als die Vorwegnahme des Zwecks
in der ursprünglichen vernünftigen Ordnung), d. h. der Ordnung (sei
sie nun rational, moralisch, religiös oder ästhetisch) zurückweist
zugunsten einer Philosophie, die sich dem Ganzen und jeder Ordnung
verweigert zugunsten der Zerstreuung ("dissémination" würde Derrida
sagen) und der Unordnung. Zu sagen, am Anfang sei das Nichts oder
die Unordnung, bedeutet, sich diesseits von jeder Zusammenfügung
und jeder Anordnung zu positionieren und den Ursprung nicht mehr
als Vernunft oder Zweck, sondern als Nichts zu denken. Auf die alte
Frage: "Was ist der Ursprung der Welt?" antwortet diese materialistische
Philosophie: "das Nichts?" "nichts" "ich beginne mit
nichts" "es gibt keinen Anfang, weil nichts jemals existiert
hat, bevor es auch nur irgend etwas gab"; daher "gibt es keinen
unbedingten Anfang der Philosophie" "die Philosophie beginnt
nicht mit einem Anfang, der ihr Ursprung ist", im Gegenteil "springt
sie auf den fahrenden Zug" und "besteigt auf eigene Faust
den Konvoi", der, wie Heraklits Wasser, in alle Ewigkeit
vor ihr vorbeizieht. Daher gibt es kein Ende, weder der Welt noch
der Geschichte, weder der Philosophie noch der Moral, weder der
Kunst noch der Politik etc. Diese Themen, die uns seit Nietzsche,
Deleuze und Derrida, seit dem englischen Empirismus (Deleuze) oder
Heidegger (mit der Hilfe von Derrida) vertraut sind und fruchtbar
sind für jedes Verständnis nicht nur der Philosophie, sondern aller
ihrer vorgeblichen "Gegenstände" (sei es der Wissenschaft, der Kultur,
der Kunst, der Literatur oder jeder anderen Äußerung der Existenz),
sind ein wesentlicher Bestandteil dieses Materialismus der Begegnung,
wie verkleidet sie auch sein mögen in anderen Begriffen. Heute können
wir sie in eine klarere Sprache übersetzen.
Ich nenne den Materialismus der Begegnung nur provisorisch Materialismus6,
um seine radikale Opposition zu jedem Idealismus des Bewußtseins,
der Vernunft, oder welcher Spielart auch immer herauszustreichen.
Ich meine weiter, daß der Materialismus der Begegnung in einer bestimmten
Interpretation eines einzigen Satzes besteht: nämlich des "es
gibt"* (Heidegger) und seinen Weiterentwicklungen
oder Implikationen, die da sind: "es gibt" = "es gibt nichts"; "es
gibt" = "es hat immer-schon nichts gegeben", d. h. "etwas".
Das "immer-schon" das ich bisher in meinen Schriften häufig
verwendet habe, was jedoch nicht immer bemerkt worden ist
ist der Begriff (auch im Sinn von "greifen"*)
dieser Vorgängigkeit jeder Sache vor sich selbst, also auch vor
jedem Ursprung. Ich meine also, daß der Materialismus der Begegnung
im Primat der Positivität über die Negativität (Deleuze) besteht,
im Primat der Abweichung über die gerade Linie deren Ursprung
die Abweichung und nicht die Vernunft ist , im Primat der
Unordnung über die Ordnung (man denke an die Theorie des "Geräusches"),
im Primat der "Dissémination" über das Setzen des Sinns in jedem
Signifikanten (Derrida), und im Hervorquellen der Ordnung aus der
Unordnung, die eine Welt erschafft. Ich meine, daß der Materialismus
der Begegnung genauso in der Negation jeden Zwecks und jeder Teleologie
besteht, sei sie nun rational, weltlich, moralisch, politisch oder
ästhetisch. Schließlich meine ich, daß der Materialismus der Begegnung
nicht der eines Subjektes ist (sei es nun Gott oder das Proletariat),
sondern der eines Prozesses ohne Subjekt, der jedoch den Subjekten
(den Individuen) seine Entwicklung, die kein festgelegtes Ende hat,
aufzwingt.
Wenn wir diese Thesen wörtlich nehmen wollten, wären wir dazu veranlaßt,
eine gewisse Anzahl von Begriffen zu entwickeln, die natürlich Begriffe
ohne Gegenstände sind, da sie die Begriffe von nichts sind,
und, da die Philosophie kein Objekt hat, formt sie dieses Nichts
zu einem oder mehreren Wesen, um es dort verkennbar und wiedererkennbar
zu machen (das ist auch der Grund, warum es dort letztlich verkannt
und erahnt wurde). Um sie [die Begriffe] uns vorzustellen, würden
wir uns auf die einfachste und zugleich reinste Form beziehen, die
sie in der Philosophiegeschichte angenommen haben, nämlich bei Demokrit
und vor allem bei Epikur. Es sei an dieser Stelle bemerkt, daß es
kein Zufall war, daß das Werk dieser Philosophen die Beute von Flammen
wurde. Diese Aufwiegler der gesamten philosophischen Tradition haben
mit dem bezahlt, mit dem sie gesündigt haben mit dem Feuer,
das man sich auf den obersten Wipfeln der großen Bäume entzünden
sieht, aufgrund der Großen (Lukrez) oder der großen Philosophien.
Unter ihrer Gestalt hätten wir (die in jedem Abschnitt der Philosophiegeschichte
erneuert werden muß) folgende einfache Formen:
"Die Welt ist alles, was der Fall ist"* (Wittgenstein):
die Welt ist alles, was "fällt"; alles, was "geschieht"; "alles,
was der Fall ist" unter Fall verstehen wir casus: Fall und
Zufall gleichzeitig, das, was sich im Modus des Unvorhersehbaren
ereignet und dennoch zum Sein gehört.
Das bedeutet also folgendes: "es gibt" = "es hat immer gegeben"
= "es ist schon immer gewesen"; das "schon" [déja] ist die wesentliche
Markierung dafür, daß der Fall* allen verschiedenen
Formen des Seins vorausgeht. Es handelt sich um das "es gibt"*
von Heidegger, das einfache "Geben" (eher als um das Gegebene, gemäß
dem aktiv-passiven Aspekt, den man unterstreichen will), das seiner
Präsenz immer vorausgeht. In anderen Worten: es ist das Primat der
Abwesenheit über die Anwesenheit (Derrida), nicht als Rückkehr-zu,
sondern als ein Horizont, der unaufhörlich zurückweicht wie vor
dem Wanderer, der seinen Weg in einer Ebene sucht und immer nur
eine andere Ebene vor sich findet (unter der Bedingung, daß es sich
nicht um einen cartesianischen Wanderer handelt, der sich damit
zufrieden gibt, in einem Wald einfach geradeaus zu gehen, um aus
ihm hinauszufinden, weil er annimmt, daß die Welt aus dichten Wäldern
besteht, aber auch aus gerodeten, offenen Feldern: ohne "Holzwege"*).
Was geschieht in dieser "Welt" ohne Sein und ohne Geschichte (wie
in dem "Wald" von Rousseau)? Es geschieht dort: "es" ist
ein unpersönliches Aktiv und Passiv. Begegnungen. Es geschieht
dort, das, was auch im universellen Regen von Epikur geschieht
aller Welt vorausgehend, allem Sein, aller Vernunft und allen Ursachen.
Es geschieht dort, daß "es sich begegnet", bei Heidegger heißt es,
daß "es geworfen ist", in einer ursprünglichen "Schickung". Dies
geschieht durch das Wunder des clinamen, von dem es genügt
zu wissen, erstens, daß es sich ereignet, wenngleich man nicht weiß,
wo und wann, und zweitens, daß es die kleinstmögliche Abweichung
ist das bedeutet, daß man der Leere jede Abweichung zuweisen
kann. Der Text von Lukrez ist klar genug, um das zu bezeichnen,
was nichts auf der Welt bezeichnen kann und das dennoch Ursprung
der Welt ist. Im "Nichts" der Abweichung findet die Begegnung von
Atomen statt, und dieses Ereignis wird zum Beginn, unter der Bedingung
des Parallelismus der Atome, der wird er nur ein einziges
Mal verletzt einen gewaltigen Zusammenstoß von unendlich
vielen Atomen verursacht, wodurch eine Welt entsteht (eine oder
eine andere: woraus eine Pluralität an möglichen Welten resultiert,
weshalb der Begriff der Möglichkeit im Begriff einer ursprünglichen
Unordnung wurzelt). Daraus resultiert also die Form der Ordnung
und die Form der Wesen, die durch diesen Zusammenstoß geboren wurden,
da sie von der Struktur der Begegnung bestimmt sind; von
daher kommt ist die Begegnung erst einmal gegeben (nicht
aber zuvor) das Primat der Struktur über ihre Elemente; von
daher kommt auch das, was man eine Affinität und Vollkommenheit
der Elemente im Spiel der Begegnung nennen mag, ihre "Anhänglichkeit",
damit diese Begegnung "greifen" kann, das heißt, damit sie Gestalt
annehmen kann, damit sie auch neue Formen hervorbringt
so wie auch das Wasser "greift", wenn das Eis es bedroht
oder die Milch, wenn sie gerinnt, oder die Mayonnaise, wenn sie
hart wird. Von daher erklärt sich auch das Primat des "Nichts" über
alle "Formen", das Primat des aleatorischen Materialismus über
jeden Formalismus. In anderen Worten, irgend etwas kann nicht
irgend etwas hervorbringen, sondern nur die Elemente, die ihrer
Begegnung und, durch ihre Affinität, ihrem wechselseitigen "Ergreifen"
gewidmet sind. Das ist auch der Grund, warum bei Demokrit und vielleicht
sogar bei Epikur die Atome "hakig" sind, das heißt, geeignet, sich
ineinander zu verhaken, für alle Zeiten, in alle Ewigkeit.
Sind die Atome also einmal "ergriffen" oder "verhakt", betreten
sie das Königreich des Seins, das sie errichten: Sie stellen also
Wesen dar, die bestimmbar, unterschiedlich, lokalisierbar, mit dieser
oder jener Eigenschaft (gemäß dem Ort und der Zeit) ausgestattet
sind. Kurz gesagt, an den Atomen zeichnet sich eine Struktur des
Seins oder der Welt ab, die jedem seiner Elemente einen Ort, eine
Bedeutung, eine Rolle zuschreibt, die die Elemente als "Elemente
von ..." festlegt (die Atome als Elemente der Körper, der Wesen,
der Welt). Daraus resultiert, daß die Atome die weit davon
entfernt sind, der Ursprung der Welt zu sein nur der sekundäre
Niederschlag ihrer Zuordnung und ihres Beginns sind. Und um dieserart
von der Welt und von den Atomen zu sprechen, ist es notwendig, daß
die Welt sei und die Atome schon sind, was den Diskurs über
die Welt für immer sekundär macht sowie auch die Seinsphilosophie
zweite Philosophie ist (und nicht erste, wie Aristoteles meinte),
und das jeden Diskurs über eine erste Philosophie für immer unmöglich
(und von daher erklärbar, siehe dazu den Appendix des Ersten Buches
der Ethik, das nahezu wörtlich die Kritik von Epikur und
Lukrez an sämtlichen Religionen übernimmt) macht sei sie
auch materialistisch (das erklärt, daß Epikur der das wußte
nicht vom "mechanischen" Materialismus des Demokrit angezogen
war, denn dieser Materialismus war nur ein Wiederauftauchen
im Kreis einer möglichen Philosophie der Begegnung eines
dominanten Idealismus der Ordnung, die der Unordnung immanent ist).
Sind diese Prinzipien einmal festgelegt, dann fließt der Rest sozusagen
von selbst.
1. Damit ein Wesen sei (ein Körper, ein Tier, ein Mensch, ein Staat,
oder ein Fürst), ist es notwendig, daß die Begegnung in der Vorvergangenheit
stattgefunden hat. Um uns an Machiavelli zu halten: die Begegnung
hat unter Verwandten stattgefunden, so wie zwischen diesem Individuum
und dieser Konjunktur oder Schicksal. Die Konjunktur ist selbst
eine Verbindung, eine Zusammen-Bindung, eine erstarrte Begegnung
wenngleich sie sich bewegt , die schon stattgefunden
hat und die ihrerseits auf die Unendlichkeit der vorangehenden Ursachen
verweist, so wie übrigens ihr Resultat, das ein bestimmtes Individuum
ist, Borgia beispielsweise, auf die Unendlichkeit der Folgen der
vorangehenden Ursachen verweist.
2. Es gibt nur eine Begegnung zwischen einer Reihe von Wesen, die
das Resultat von mehreren Reihen von Ursachen sind mindestens
zwei, aber diese beiden vermehren sich sogleich durch den Effekt
des Parallelismus oder die sie umgebende Ansteckung (wie es Breton
treffend ausdrückte: "Die Elefanten sind ansteckend"7).
Man denkt dabei auch an Cournot, den großen Verkannten.
3. Jede Begegnung ist aleatorisch; nicht nur in ihren Ursprüngen
(nichts garantiert jemals eine Begegnung), sondern auch in ihren
Effekten. Anders ausgedrückt, jede Begegnung hätte auch nicht stattfinden
können, auch wenn sie stattgefunden hat. Ihr mögliches Nichts erhellt
die Bedeutung ihres aleatorischen Wesens. Und jede Begegnung ist
aleatorisch in ihren Effekten, insofern nichts in den Elementen
der Begegnung, vor der Begegnung selbst, die Konturen und Bestimmungen
des Wesens abzeichnet, das daraus hervorgehen wird. Julius II. wußte
nicht, daß er in seinem Umkreis seinen Todfeind nährte und er wußte
auch nicht, daß dieser hart am Tode vorbeigehen würde, und daß er
sich im entscheidenden Moment des Schicksals außerhalb der Geschichte
befinden würde, um im dunklen Spanien zu sterben. Das bedeutet,
daß keine Bestimmung des Wesens, das aus dem "Greifen" der Begegnung
hervorgegangen ist, im Wesen der sich begegnenden Elemente vorgezeichnet
war nicht einmal angedeutet , sondern daß im Gegensatz
dazu jede Bestimmung dieser Elemente nur in einer Rückkehr nach
hinten, in einer Rückläufigkeit, vom Resultat zu seinem Werden,
zuordenbar ist. Wenn man also festhalten muß, daß es kein Ergebnis
ohne sein Werden (Hegel) gibt, dann muß man auch behaupten, daß
es ein Gewordenes nur gibt als determiniert durch das Resultat dieses
Werdens: diese Rückläufigkeit selbst (Canguilhem). Statt den Zufall
als Modalität oder Ausnahme einer Notwendigkeit zu denken, muß man
vielmehr die Notwendigkeit als das Notwendig-Werden der Begegnung
von Zufälligkeiten denken. So sieht man nicht nur die Lebenswelt
(Biologen sind in letzter Zeit daraufgekommen, obwohl gerade sie
Darwin kennen sollten), sondern auch die historische Welt erstarren
in gewissen, glücklichen Momenten des Greifens der Elemente, die
eine Begegnung verbindet, die solche Gestalten zu zeichnen vermag:
diese Gattung, dieses Individuum, dieses Volk. So kommt es, daß
es aleatorische Menschen und "Leben" gibt, die dem Zufall des gegebenen
oder empfangenen Todes unterworfen sind. Das gilt auch für "Werke"
und für die großen Figuren der Welt, denen das ursprüngliche "Würfelspiel"
des Aleatorischen ihre Form gegeben hat die großen Figuren,
in denen die historische Welt ihre "Form angenommen hat" (die Antike,
das Mittelalter, die Renaissance, die Aufklärung*,
etc.). Es ist daher klar, daß sich jene, die sich daran machen,
diese Gestalten, Individuen, Konjunkturen oder Staaten der Welt
entweder als notwendiges Ergebnis gegebener Prämissen oder als provisorische
Vorwegnahme eines letzten Ziels zu betrachten, irren würden. Denn
sie würden das Faktum* vernachlässigen, daß sie
provisorische Resultate in zweifacher Hinsicht darstellen: Nicht
nur werden die vorläufigen Resultate überschritten werden, sondern
sie hätten auch niemals geschehen können oder sie hätten sich nur
als Effekt einer "kurzen Begegnung" erweisen können, wären sie nicht
vor dem Hintergrund eines guten Schicksals aufgetaucht, das den
Elementen die "Chance" zur "Dauer" gegeben hat, den Elementen, deren
Verbindung (durch Zufall) durch jene Form beherrscht wird. Hier
sehen wir, daß wir nicht Nichts sind, daß wir nicht im Nichts leben.
Aber wenn es keinen Sinn der Geschichte gibt (ein Ziel, das sie,
von ihren Ursprüngen bis zu ihrem Ende, transzendiert), kann es
doch einen Sinn in der Geschichte geben, denn dieser Sinn
entspringt einer wirklichen Begegnung, einer wirklich glücklichen
oder katastrophalen Begegnung die auch Sinn ist.
Daraus ergeben sich wesentliche Konsequenzen für die Bedeutung des
Wortes "Gesetz". Man wird zugestehen, daß es kein Gesetz gibt, das
die Begegnung des Greifens bestimmen würde. Aber man wird sagen,
sobald die Begegnung "gegriffen" hat, das heißt, sobald sich eine
stabile Form der Welt, der einzigen, die existiert (denn das Auftauchen
einer Welt schließt alle möglichen anderen aus), konstituiert hat,
haben wir es mit einer stabilen Welt zu tun, deren Ereignisse in
ihrer Abfolge den "Gesetzen" gehorchen. Es ist also unwichtig, ob
die Welt, unsere Welt (denn wir kennen keine andere; unter der Unendlichkeit
möglicher Attribute kennen wir nur das Erkennen und den Raum
"Faktum"* hätte Spinoza dazu sagen können), entweder
aus der Begegnung der Atome, die im epikureischen Regen der Leere
fielen, hervorgegangen ist oder aus dem "Urknall", von dem die Astronomen
reden. Es ist eine Tatsache, daß wir es mit dieser Welt zu
tun haben und nicht mit einer anderen, es ist eine Tatsache, daß
diese Welt eine "geordnete" ist (wie man das auch über einen ehrlichen
Spieler sagt: denn diese Welt spielt und sie spielt sich regelrecht
mit uns), eine Welt, die Regeln unterworfen ist und Gesetze befolgt.
Sobald eine Begegnung "gegriffen" hat, resultiert daraus die große
Versuchung die selbst für jene gegeben ist, die uns die Voraussetzungen
des Materialismus der Begegnung gewähren würden , in der Prüfung
jener Gesetze Zuflucht zu nehmen, die aus diesem "Form-Nehmen" hervorgegangen
sind, und diese Formen, im Grunde, unendlich zu wiederholen. Denn
es ist auch ein "Faktum"*, daß es eine Ordnung
in dieser Welt gibt, und daß die Erkenntnis dieser Welt über die
Erkenntnis ihrer "Gesetze" (Newton) und der Bedingung der Möglichkeit
nicht ihrer Existenz, sondern ihrer Erkenntnis verläuft nicht
über die Möglichkeitsbedingungen der Existenz der Gesetze: gewiß
eine Art, die alte Frage vom Ursprung der Welt auf irgendwann zu
verschieben (so geht auch Kant vor), aber auch, um den Ursprung
dieser zweiten Begegnung, die die Erkenntnis der ersten Begegnung
in dieser Welt ermöglicht, besser zu verdunkeln
(die Begegnung zwischen den Dingen und den Begriffen).
Wir nehmen uns vor dieser Versuchung in acht und unterstützen eine
These, die Rousseau sehr wichtig war. Diese These besagt, daß der
Vertrag auf einem "Abgrund" ruht, daß die Notwendigkeit der Gesetze,
die aus der Begegnung hervorgegangen sind, selbst in ihrer größten
Stabilität von einer radikalen Instabilität bedroht wird.
Das erklärt, was uns so schwer fällt zu verstehen, denn es verletzt
unseren Sinn von "Konventionen": zu wissen, daß sich Gesetze verändern
können, nicht daß sie nur für einen beschränkten Zeitraum gelten
und nicht für die Ewigkeit (in seiner Kritik der klassischen politischen
Ökonomie ging Marx genau bis zu diesem Punkt, wie es sein "russischer
Kritiker" gut verstanden hatte: jede historische Epoche hat ihre
eigenen Gesetze, aber er ging nicht weiter, wie wir sehen werden),
sondern daß sie sich jederzeit verändern können und so ihr aleatorisches
Fundament, auf dem sie ohne ersichtliches Ziel und ohne intelligiblen
Grund bauen, aufdecken. Das ist ihre Überraschung (es gibt kein
Ergreifen ohne Überraschung), die die Geister bei den großen Ausbrüchen,
Ausrenkungen oder Schwebemomenten der Geschichte so frappiert, seien
es jene der Individuen (zum Beispiel: der Wahnsinn), seien es jene
der Welt, wenn die Würfel unerwarteterweise wieder auf den Tisch
geworfen werden, oder die Karten ohne Vorankündigung neu gemischt
werden, wie im Wahnsinn, der die "Elemente" entfesselt, um sie für
ein neues, unerwartetes Greifen zu befreien (Nietzsche, Artaud).
Es wird niemandem schwerfallen, hierin einen der grundlegenden Züge
der Geschichte der Individuen oder der Welt zu erkennen, der Offenbarung,
die aus einem Unbekannten einen Autor oder einen Wahnsinnigen macht,
oder beides zugleich, wenn etwa gleichzeitig ein Hölderlin, ein
Goethe und ein Hegel zur Welt kommen, wenn die Französische Revolution
ausbricht und triumphiert bis hin zu dem Einmarsch Napoleons, dem
"Weltgeist" unter Hegels Fenster in Jena, wenn die Pariser Commune
aus dem Verrat hervorgeht, wenn es 1917 in Rußland explodiert und
umso mehr in der (kulturellen) Revolution, wo wirklich fast alle
"Elemente" in einem gigantischen Raum entfesselt wurden
oder dann, wenn sich die dauerhafte Begegnung nicht ereignet, wie
am 13. Mai, als die Arbeiter und die Studenten, die sich zusammenschließen
sollten, sich in ihren langen parallelen Demonstrationszügen kreuzten,
ohne jemals zusammenzukommen, indem sie es um jeden Preis vermieden
zusammenzukommen, sich zu vereinen zu einer Einheit, die zweifellos
für immer ohne Präzedenzfall ist (der Regen in seinen vermiedenen
Effekten).
Die Produktionsweise bei Marx
Um eine Vorstellung des unterirdischen Stroms des Materialismus
der Begegnung zu vermitteln, jenes Materialismus, der so wichtig
war für Marx, und seiner Verdrängung durch einen (philosophischen)
Materialismus der Essenz, muß man von der Produktionsweise sprechen.
Niemand wird die Bedeutung dieses Begriffs leugnen, der nicht nur
dazu dient, jede gesellschaftliche Formation zu denken, sondern
auch dazu, deren Geschichte zu periodisieren, das heißt,
eine Theorie der Geschichte zu gründen.8
Man findet bei Marx zwei Konzeptionen der Produktionsweise,
die nichts miteinander zu tun haben.
Die erste geht auf die Lage der arbeitenden Klasse in
England von Engels zurück, der ihr wahrer Anreger ist: Sie findet
sich in dem berühmten Kapitel über die ursprüngliche Akkumulation,
den Arbeitstag usw. und in zahllosen kleinen Anspielungen, auf die
ich zurückkommen werde. Man kann sie auch in der Theorie über die
asiatische Produktionsweise finden. Die zweite Konzeption
findet sich in den großen Passagen des Kapitals über das
Wesen des Kapitalismus, wie in jenen über die feudale Produktionsweise
und die sozialistische Produktionsweise, über die Revolution, und
allgemeiner in der "Theorie" der Transition oder der Übergangsformen
von einer Produktionsweise zu einer anderen. Was in den letzten
zwanzig Jahren über die "Transition" vom Kapitalismus zum Kommunismus
geschrieben wurde, übersteigt das Begriffsvermögen und die Aufzählung!
In unzähligen Passagen erklärt uns Marx und das ist sicherlich
kein Zufall , daß die kapitalistische Produktionsweise geboren
wird aus der "Begegnung" zwischen dem "Mann mit den Talern" und
dem Proletarier, der nichts hat außer seiner Arbeitskraft. "Es trifft
sich", daß diese Begegnung stattgefunden hat und "gegriffen" hat,
was heißen soll, daß sie sich nicht sofort wieder aufgelöst hat,
sondern angedauert hat und zu einem fait accompli geworden
ist, das fait accompli dieser Begegnung, die stabile Beziehungen
hervorruft und eine Notwendigkeit, deren Erforschung uns die "Gesetze",
die tendenziellen Gesetze natürlich, liefert: die Gesetze der Entwicklung
der kapitalistischen Produktionsweise (das Wertgesetz, das Gesetz
des Tausches, das Gesetz der zyklischen Krisen, das Gesetz von der
Krise und der Auflösung der kapitalistischen Produktionsweise, das
Gesetz vom Übergang der Transition zur sozialistischen
Produktionsweise unter den Gesetzen des Klassenkampfes, etc.). Was
an dieser Konzeption relevant ist, ist nicht so sehr die Entwicklung
der Gesetze, also einer Essenz, als der aleatorische Charakter des
"Greifens" dieser Begegnung, die dem fait accompli stattgegeben
hat, dessen Gesetze sich angeben lassen.
Man kann dies auch anders sagen: Das Ganze, das aus dem "Greifen"
dieser "Begegnung" resultiert, ist dem "Greifen" der Elemente nicht
vorgängig, sondern nachträglich und aus diesem Grunde hätte es auch
nicht "greifen" können und "die Begegnung hätte nicht stattfinden
können". All das steckt, nur halb ausgesprochen sicherlich, in der
Marx'schen Formulierung, wenn er so oft von der "Begegnung" (das
Vorgefundene*) zwischen dem Mann mit den Talern und
der nackten Arbeitskraft spricht. Man kann sogar noch weiter gehen
und unterstellen, daß die Begegnung oftmals in der Geschichte
stattgefunden hat, bevor sie im Abendland gegriffen hat, aber
mangels eines Elements oder mangels der Disposition der Elemente
hat sie vorher nie "gegriffen". Zeugen dafür sind etwa diese italienischen
Staaten des 13. und 14. Jahrhunderts in der Poebene, wo es sehr
wohl den Mann mit den Talern gab, ebenso die Technologie und die
Energie (Maschinen, die durch die hydraulische Kraft der Flüsse
bewegt wurden) und die Arbeitskraft (arbeitslose Handwerker) und
wo das Phänomen dennoch nicht "gegriffen" hat. Zweifellos mangelte
es dort (vielleicht ist dies eine Hypothese) an dem, was Machiavelli
mit seinen Appellen an einen Nationalstaat verzweifelt gesucht hat,
das heißt an einem inneren Markt zur Absorption der möglichen Produktion.
Wenn man auch nur ein bißchen über die Erfordernisse dieser Konzeption
nachdenkt, bemerkt man, daß sie zwischen der Struktur und den Elementen,
die sie verbinden soll, eine sehr eigenartige Beziehung setzt. Was
ist denn eine Produktionsweise? Mit Marx haben wir festgestellt:
eine besondere "Kombination" der Elemente. Diese Elemente setzen
sich zusammen aus der finanziellen Akkumulation (jene des Mannes
mit den Talern), aus der Akkumulation der technischen Produktionsmittel
(Werkzeuge, Maschinen, Produktionserfahrung bei den Arbeitern),
der Akkumulation der Rohstoffe (die Natur) und der Akkumulation
der Produzenten (die Proletarier ohne jegliches Produktionsmittel).
Diese Elemente existieren nicht in der Geschichte, damit
eine Produktionsweise existiert, sie existieren in ihr in
einem "flottierenden" Zustand vor ihrer "Akkumulation" und "Kombination",
jedes als das Produkt seiner eigenen Geschichte, keines als das
teleologische Produkt der anderen oder von deren Geschichte. Wenn
Marx und Engels sagen, daß das Proletariat "das Produkt der großen
Industrie" ist, dann sagen sie eine große Dummheit und situieren
sich innerhalb der Logik des fait accompli der erweiterten Reproduktion
des Proletariats und nicht innerhalb der aleatorischen Logik
der "Begegnung", welche diese Masse von nackten und besitzlosen
Menschen als Proletariat produziert (und nicht etwa reproduziert),
als eines der konstituierenden Elemente der Produktionsweise. Damit
gehen sie von der ersten Konzeption der Produktionsweise, der historisch-aleatorischen,
zu der zweiten, der philosophischen und essentialistischen, Konzeption
über.
Ich wiederhole mich: Was an dieser ersten Konzeption bemerkenswert
ist, ist, jenseits der expliziten Theorie der Begegnung, die Idee,
daß jede Produktionsweise konstituiert wird von Elementen, die
unabhängig voneinander sind, da jedes Element das Resultat einer
eigenen Geschichte ist, ohne daß ein organisches und teleologisches
Verhältnis zwischen diesen unterschiedlichen Geschichten besteht.
Diese Konzeption gipfelt in der Theorie von der ursprünglichen
Akkumulation, der Marx, von Engels inspiriert, ein großartiges
Kapitel das wahre Herzstück des Kapitals gewidmet
hat. Dort sieht man, wie sich ein historisches Phänomen produziert,
dessen Resultat man kennt: Die Enteignung der Produktionsmittel
einer ganzen ländlichen Bevölkerung in Großbritannien. Die Ursachen
stehen dabei aber nicht in einem Bezug zum Resultat mitsamt seinen
Effekten. War es, um sich große Ländereien zur Jagd zu verschaffen?
oder endlose Felder zur Schafzucht? Man weiß nicht genau (ohne Zweifel
wissen es die Schafe), welcher Grund der vorherrschende war in diesem
Prozeß der gewaltsamen Enteignung: Tatsache ist, daß dieser Prozeß
stattgefunden hat und zu einem Resultat geführt hat, das die Männer
mit den Talern sogleich von seinem möglichen Ziel abgelenkt haben,
auf der Suche nach billigen Arbeitskräften. Dieses Ablenkungsmanöver
ist die Markierung der Nicht-Teleologie des Prozesses und der Einschreibung
seines Resultates in einen Prozeß, der es ermöglicht hat und das
ihm insgesamt fremd war.
Es wäre im übrigen falsch zu glauben, daß dieser Prozeß einer aleatorischen
Begegnung sich auf England im 14. Jahrhundert beschränkt. Er hat
sich immer fortgesetzt und setzt sich auch heute noch fort,
nicht nur in den Ländern der Dritten Welt, die das auffälligste
Beispiel dafür sind, sondern auch bei uns, in der Enteignung der
Landwirte und ihrer Transformation in Facharbeiter (siehe Sandouville:
Bretonen an die Maschinen), als ein andauernder Prozeß, der das
Aleatorische ins Herz des Überlebens und der Verstärkung der kapitalistischen
Produktionsweise einschreibt, sowie übrigens auch ins Herz der sogenannten
sozialistischen Produktionsweise. Und dort sieht man die marxistischen
Forscher unablässig das Phantasma von Marx wiederaufnehmen und die
Reproduktion des Proletariats denken, während sie glaubten,
dessen Produktion zu denken, und im fait accompli denken, während
sie glaubten, dessen Werdensvollzug zu denken.
Tatsächlich gibt es bei Marx die Möglichkeit, diesem Irrtum zu verfallen,
wenn er jener anderen Konzeption der kapitalistischen Produktionsweise
nachgibt: einer totalitären, teleologischen und philosophischen
Konzeption.
In diesem Fall hat man es also mit allen unterschiedlichen Elementen,
von denen die Rede war, zu tun, aber sie sind so gedacht und angeordnet,
als ob sie seit aller Ewigkeit dazu prädestiniert waren, sich miteinander
zu verbinden, sich wechselseitig als ihre eigenen Ziele und/oder
Ergänzungen zu produzieren. In dieser Hypothese läßt Marx absichtlich
den aleatorischen Charakter der "Begegnung" und ihres "Greifens"
beiseite, um nur noch im fait accompli des "Greifens" und damit
in dessen Prädestination zu denken. In dieser Hypothese hat
kein Element mehr eine unabhängige Geschichte, sondern eine Geschichte
mit einem Zweck: jenem, sich den anderen Geschichten anzupassen.
Die Geschichte bildet so ein Ganzes, das unablässig seine eigenen
Elemente mit ihrem eigenen Ineinandergreifen reproduziert.
In dieser Art denken Marx und Engels das Proletariat als "Produkt
der großen Industrie", "Produkt der kapitalistischen Ausbeutung",
"Produkt des Kapitalismus" und verwechseln die Produktion des
Proletariats mit seiner erweiterten kapitalistischen Reproduktion,
als ob die kapitalistische Produktionsweise einem ihrer wesentlichsten
Elemente, der enteigneten Arbeitskraft, vorangegangen wäre. Hier
flottieren die jeweiligen Geschichten nicht in der Geschichte
wie Atome in der Leere, zugunsten einer "Begegnung", die auch nicht
stattfinden könnte. Alles ist im Vornherein vollzogen, die Struktur
geht ihren Elementen voraus und reproduziert sie, um die Struktur
zu reproduzieren. Was für die ursprüngliche Akkumulation gilt,
gilt auch für den "Mann mit den Talern". Woher kommt er, dieser
"Mann mit den Talern", bei Marx? Man weiß es nicht genau: vom Handelskapitalismus?
vom Wucher? von der ursprünglichen Akkumulation? von den Plünderungen
der Kolonien? Dies mag für uns nicht bedeutsam sein, aber für Marx
ist es erstaunlich bedeutsam das Wesentliche ist das Resultat,
daß er existiert. Marx gibt diese These auf und bevorzugt die
These einer "mythischen" Auflösung der feudalen Produktionsweise
und der Geburt der Bourgeoisie im Herzen dieser Auflösung, was
neue Rätsel aufwirft. Was beweist, daß die feudale Produktionsweise
geschwächt wird und sich auflöst, um zu verschwinden man
mußte 1850-1870 in Frankreich abwarten, bis sich der Kapitalismus
installiert. Und vor allem, was beweist, daß die Bourgeoisie
nicht eine Klasse der feudalen Produktionsweise ist, deren Produkt
sie ja sein soll, eine Klasse, die für die Stärkung der feudalen
Produktionsweise und nicht für deren Untergang steht? Diese
Rätsel des Kapitals konzentrieren sich beide auf dasselbe
Objekt: das Finanzkapital und das Handelskapital auf der einen Seite,
und die Natur der bürgerlichen Klasse als deren Träger und Profiteure
auf der anderen Seite.
Wenn man sich wie Marx damit zufrieden gibt, die gesamte Definition
des Kapitals auf die Akkumulation von "geldheckendem Geld" zu beschränken
(G'' = G + G') Geld, das einen finanziellen Mehrwert produziert
, dann kann man von Finanz- und Handelskapitalismus sprechen.
Aber das sind Kapitalismen ohne Kapitalisten, Kapitalismen ohne
Ausbeutung der Arbeitskraft, Kapitalismen, wo der Tausch mehr oder
weniger eine Form annimmt, die nicht dem Wertgesetz folgt, sondern
den Praktiken direkter und indirekter Plünderungen. Und hier treffen
wir folglich auf die große Frage der Bourgeoisie. Marxens
Lösung ist einfach und entwaffnend. Die Bourgeoisie wird, als antagonistische
Klasse, durch die Auflösung der herrschenden feudalen Klasse produziert.
Wir finden hier das Schema der dialektischen Produktion wieder,
das Gegenteil, welches sein Gegenteil produziert. Wir finden hier
auch die dialektische These der Negation wieder, wonach dieses Gegenteil
sich natürlicherweise durch eine konzeptionelle Notwendigkeit seinem
Gegenteil substituieren muß und dominant wird. Und wenn es nicht
so wäre? Wenn die Bourgeoisie, weit davon entfernt, das gegenteilige
Produkt des Feudalismus zu sein, vielmehr dessen Vollendung wäre,
der Höhepunkt, die höchste Form, die Perfektionierung sozusagen?
Das würde es erlauben, zahlreiche Probleme loszuwerden, die ebensoviele
Sackgassen sind, wie diese bürgerlichen Revolutionen, wie die französische,
die unbedingt kapitalistische Revolutionen sein sollten, es aber
nicht waren, oder etwa Probleme, die Mysterien sind: Was ist denn
diese merkwürdige Klasse, deren Zukunft kapitalistisch ist, die
sich aber lange vor jedem Kapitalismus im Feudalismus gebildet hat,
was ist die Bourgeoisie?
Ebenso wie es bei Marx keine befriedigende Theorie der sogenannten
kaufmännischen Produktionsweise gibt, ebensowenig wie eine befriedigende
Theorie des Handels- und Finanzkapitalismus, so gibt es bei Marx
auch keine befriedigende Theorie der Bourgeoisie, außer einen
übermäßigen Gebrauch des Adjektivs "bourgeois/bürgerlich", als ob
ein Adjektiv die Stelle eines Begriffs des reinen Negativen einnehmen
könnte. Und es ist kein Zufall, wenn die Theorie der Bourgeoisie
als Form der antagonistischen Auflösung der feudalen Produktionsweise
der philosophischen Konzeption der Produktionsweise entspricht.
Die Bourgeoisie wird hier zu jenem Element, das prädestiniert ist,
alle anderen Elemente der Produktionsweise zu vereinen, was daraus
eine andere Kombination macht, jene der kapitalistischen Produktionsweise.
Die Bourgeoisie wird hier zur Dimension des Ganzen und der Teleologie,
die jedem Element seine Rolle und seinen Platz im Ganzen zuweist
und es in seiner Existenz und in seiner Rolle reproduziert.
Dies ist der Antipode der Konzeption einer "Begegnung" zwischen
Bourgeoisie, als einem flottierenden Element, und allen anderen
flottierenden Elementen, um eine Produktionsweise zu konstituieren,
den Kapitalismus. Ansonsten gibt es keine Begegnung, denn die Einheit
geht den Elementen voraus, denn es gibt nicht jene Leere, die
notwendig ist für jede aleatorische Begegnung. Während es darum
geht, das zu vollendende Faktum zu denken, installiert sich Marx
im vollendeten Faktum, im fait accompli, und lädt uns ein, ihm in
die Gesetze seiner Notwendigkeit zu folgen.
Wir haben früher (siehe Das Kapital lesen), Marx folgend,
eine Produktionsweise als eine doppelte Kombination (Balibar) definiert,
jene der Produktionsmittel und jene der Produktionsverhältnisse.
Wenn wir diese Analyse weitertreiben wollen, dann müssen wir hier
mehrere Elemente unterscheiden: "Produktivkräfte, Produktionsmittel,
Besitzer der Produktionsmittel, Produzenten mit und ohne Mittel,
Natur, Menschen usw." Die Produktionsweise wird dann zu einer Kombination,
welche die Produktivkräfte (die Produktionsmittel, die Produzenten)
der Vorherrschaft einer Totalität unterstellt, wo die Besitzer der
Produktionsmittel herrschend sind. Diese Kombination ist essentiell,
sie ist ein für alle Mal fixiert, sie entspricht einem Referenzzentrum;
sie kann sich wohl auflösen, aber selbst in ihrem Übergang bewahrt
sie immer dieselbe Struktur. Eine Produktionsweise ist eine Kombination,
weil sie eine Struktur ist, die ihre Einheit einer Reihe
von Elementen auferlegt. Was an einer Produktionsweise bedeutsam
ist, ist der Modus der Vorherrschaft der Struktur über ihre
Elemente. So hat etwa in der feudalen Produktionsweise die Struktur
der Abhängigkeit den Elementen ihren Sinn auferlegt: der Besitz
des Landgutes, einschließlich der Leibeigenen, die darauf arbeiten,
der Besitz der kollektiven Instrumente (der Mühle, des Bauernhofs,
etc.) durch den Herrn, die untergeordnete Rolle des Geldes, bis
sich die Geldverhältnisse allen aufzwingen werden. In der kapitalistischen
Produktionsweise ist es die Struktur der Ausbeutung, die sich allen
Elementen auferlegen wird, die Unterordnung der Produktionsmittel
und der Produktivkräfte unter den Ausbeutungsprozeß, die Ausbeutung
der Arbeiter ohne alle Produktionsmittel, das Monopol der Produktionsmittel
in den Händen der kapitalistischen Klasse, etc.
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Anmerkungen
* im Original deutsch.
1 Vgl. Malebranche, Traité de la nature et de la grâce,
I, § 14, Anmerkung: „ Ich bediene mich der Unregelmäßigkeit des
einfachen Regens, um den Geist eines anderen Regens zu erschaffen,
der weder den Verdiensten der Menschheit geschuldet ist, noch wie
der alltägliche Regen gleichermaßen auf die besäte Erde fällt wie
auf das brache Land.“
2 Im Original: "déviation". Lat.: Abweichung, Neigung;
in Folge auch mit Abweichung übersetzt. (A. d. Ü.)
3 Lat.: Neigung, Beugung. (A. d. Ü.)
4 Zum Grenzwert hin unendlich klein werdend (mathematischer
Ausdruck). (A. d. Ü.)
5 Im Original: "pris dans la glace": fest gefroren im
Eis.
"pris": Partizip von prendre (u. a.: Besitz ergreifen von).
"prise": Nehmen; Eroberung; Einflußnahme. (A. d. Ü.)
6 Und aus diesem Grund erlaubt Dominique Lecourt es sich
mit vollem Recht, in einem bemerkenswerten Werk - das selbstverständlich
von der Universität verkannt wurde, nachdem sie fälschlicherweise
angenommen hatte, erstes Ziel seiner Verachtung zu sein - bei Marx
vom „Surmaterialismus“ zu sprechen. Vgl. Lecourt, Dominique (1981):
L’Ordre et les jeux, letzter Teil, Paris: Grasset.
7 Vgl. Feuerbach, der Plinius den Älteren zitiert: „Die
Elefanten haben keine Religion“. Feuerbach, Ludwig (1969): Das Wesen
des Christentums, S. 37.
8 Vgl. Althusser, Louis und Etienne Balibar (1972): Das
Kapital lesen, Bd. 2, S. 268ff.
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Übersetzung von: Louis Althusser: Le courant souterrain du matérialisme
de la rencontre, in: Ècrits philosophiques et politiques, Bd. 1.
Paris: Éditions STOCK/IMEC, S. 539-579.
Diese Übersetzung ist im Kontext eines Seminars von Isolde Charim
an der Universität Wien entstanden. Die Zwischenüberschriften wurden
von den Herausgebern hinzugefügt.
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